Das Elend der identitären Politik

Seite 3: Das Elend der identitären Politik

Das Aufkommen der identitären Politik kann nur vor dem Hintergrund der neoliberalen Wende am Beginn der 1980-Jahre verstanden werden. Mit der Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten der Privilegierten und Besitzenden endete eine die Phase der Emanzipation nach dem zweiten Weltkrieg, in der es zu Fortschritten in der Emanzipation der Frauen, der Rassen, der Menschen des globalen Südens, vor allem aber der Lohnabhängigen gekommen war.

Erneut begann nun eine Phase der De-Emanzipation. Beschleunigt wurde diese Entwicklung durch die Auflösung der Sowjetunion und des europäischen sozialistischen Staatensystems. Für die Bundesrepublik bedeutete die Übernahme der DDR, dass sich für viele Lohnabhängige im Osten aber auch im Westen, darunter insbesondere Frauen, deren Situation erheblich verschlechterte.

Mit dem Ende der Systemalternative verschwand in Ost wie in West das Ziel der Emanzipation der Allgemeinheit, des Menschen schlechthin, das bis dahin - wenn auch oft mit einem utopischen Akzent versehen - mit dem Begriff Sozialismus gekennzeichnet worden war. Die Diskriminierten und Unterdrückten versuchen seitdem ihre Emanzipation ohne ein solch integrierendes historisches Projekt voranzubringen. Das Mittel dazu ist die identitäre Politik!

Vorangetrieben wird diese Segmentierung der Politik von den übrig gebliebenen Linken, die in der identitären Politik einen Ersatz für die verloren gegangene Perspektive einer allgemeinen Emanzipation sehen.21 Die Glorifizierung und Romantisierung der um ihre Emanzipation Kämpfenden trat dabei an die Stelle des Projekts Sozialismus:22

In der Linken bildet dieser extreme Nominalismus das epistemologische Pendant zur politischen Unfähigkeit, ein allgemeines Projekt der Emanzipation auszuarbeiten.

Domenico Losurdo

Und in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung heißt es zu Recht:23

Partikularistische Sentimentalitäten waren der kommunistischen Idee ebenso fremd wie selektive Monopolisierungen kultureller Elemente. Die kommunistische Ideologie war universalistisch und dezidiert fortschrittsorientiert. Daher ist es bemerkenswert, dass sich jetzt ausgerechnet Teile der Linken als Speerspitze einer kruden Identitätspolitik gerieren, die im Kern um einen neoessentialistischen Kulturbegriff kreist.

FAZ

An der Emanzipation der Allgemeinheit festhalten!

In der Geschichte des Sozialismus gibt es viele Anknüpfungspunkte für solch ein "allgemeines Projekt der Emanzipation". Bereits Karl Marx und Friedrich Engels verstanden unter der von ihnen geforderten Emanzipation des Menschen keineswegs nur die Befreiung des Proletariats von der Lohnarbeit.

Der junge Engels sah vielmehr in seiner Schrift "Zur Lage der arbeitenden Klasse in England" ganz allgemein im "Proletariat das Gegengewicht zu dem von Individualisierungen und Privateigentum verursachten sozialen Auflösungserscheinungen".24 Auch für Marx kam dem Proletariat eine zentrale politische Aufgabe zu: Nur diese Klasse sei aufgrund ihrer gesamtgesellschaftlichen Stellung in der Lage, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist".25

Im "Kommunistischen Manifest" schreiben die beiden Denker:26

Indem das Proletariats zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muss, ist es selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie.

Karl Marx und Friedrich Engels

Sich zur "Nation zu konstituieren" bedeutet hier nichts anderes als das Allgemeininteresse zu formulieren und durchzusetzen. Bereits zuvor heißt es im Manifest:27: "Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl."

In der II. Internationale, am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde diese allgemeingesellschaftliche Rolle des Proletariats mehr und mehr auf eine berufsständische Sicht der Erringung und des Erhalts des sozialen Stands der Lohnabhängigen reduziert. Es war in erster Linie das Verdienst Lenins, diese Verengung zunächst theoretisch zu kritisieren und dann in der Oktoberrevolution auch praktisch aufzulösen:28

Lenin war der erste Sozialdemokrat, der die berufsmäßige Selbstisolierung der Arbeiterbewegung durchschaute und als das Haupthindernis für die Revolution bekämpfte.

Arthur Rosenberg

Die Russische Revolution war aber nicht nur Vorbild für die revolutionäre Arbeiterbewegung in Westeuropa, sondern vor allem auch für die nationalrevolutionären Befreiungsbewegungen des globalen Südens. Während die Revolutionen im Westen scheiterten, erhielt sich im Osten und Süden der revolutionäre Impuls. Die Umwälzungen in China, Korea und dann in Vietnam wurden so möglich. Auch in Lateinamerika, in der arabischen Welt und in Teilen Afrikas blieb das Vorbild des Roten Oktober lebendig. Sichtbarster Ausdruck davon war die kubanische Revolution 1959.

Mao Zedong, Ho Chi Minh, Castro und die anderen Revolutionäre konnten aber nicht nur an Lenin, sondern auch an Karl Marx und Friedrich Engels anknüpfen. Beide hatten sich Zeit ihres Lebens gegen rassistische und nationale Unterdrückung ausgesprochen und sie in Worten und Taten bekämpft. Sie verfolgten mit großem Interesse den Sezessionskrieg in den USA und unterstützten die Sache des Nordens. Die Arbeiter in Europa forderten sie auf, sich mit den Gegnern der Sklaverei solidarisch zu zeigen.

Ein besonderes Anliegen war ihnen stets die Solidarität mit dem von Großbritannien unterdrückten Irland. Friedrich Engels plante ein Buch über die Geschichte der Insel und über den Befreiungskampf des irischen Volkes zu schreiben, andere dringende Arbeiten verhinderten aber seine Fertigstellung.29

Mit großer Sympathie begleiteten Marx und Engels auch den Kampf des polnischen Volkes um seine Selbstbestimmung. Eine Kundgebung englischer und französischer Arbeiter 1863 zur Solidarität mit dem polnischen Aufstand gegen die russische Herrschaft wird Anlass für die Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation. Am Ende seines Lebens beschäftigt sich Marx intensiv mit den historischen, sozialen und politischen Verhältnissen in Russland, China und Indien.

Aus den von ihm dafür herangezogenen Büchern fertigt er umfangreiche Exzerpte an, von denen bis heute erst wenige veröffentlicht sind. In einem Brief an die russische Zeitung "Otetschestwennyje Sapiski" widerspricht Marx ausdrücklich der Behauptung, er habe mit "seiner historischen Skizze von der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa" eine "geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungswegs" vorgelegt, der "allen Völkern schicksalsmäßig vorgeschrieben" ist.

Er bestreitet denn auch, dass es einen "Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie" gäbe.30 Marx war demnach - zumindest in seinen späteren Jahren - keineswegs jener Eurozentrist, der keinen Blick für andere Entwicklungswege in anderen Gesellschaften hatte, wie heute von Vertretern der "postkolonialen Theorie" behauptet wird.

Auch in der Geschlechterfrage sahen die beiden Klassiker sehr wohl ein Unterdrückungsverhältnis. Hier war es vor allem Engels, der dieser Frage große Beachtung schenkte. In seinem Text "Grundsätze des Kommunismus" plädierte er für den Kommunismus, da er "die Abschaffung des Privateigentums zum Ziel habe und eine gemeinschaftliche Kindererziehung befürworte. Dadurch zerstöre er 'die beiden Grundlagen der bisherigen Ehe, die Abhängigkeit des Weibes vom Mann und der Kinder von den Eltern vermittelt des Privateigentums'".31

1884 erscheint sein Werk "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats", in dem er die Bedeutung der Klassenverhältnisse auf die Entwicklung der Familie untersucht. Inzwischen werden immer mehr Notizen und Buchexzerpte bekannt, die zeigen, dass sich auch Marx in seinen späteren Jahren intensiv mit der Geschlechterfrage beschäftigt hatte.32 Auf jeden Fall war sie für Marx und Engels alles andere als ein "Nebenwiderspruch"!

Das Werk von Marx und Engels bietet daher die Grundlage für die Entwicklung einer Theorie der allgemeinen Emanzipation. Über Marx schreibt Losurdo abschließend:33

"Zumindest in seiner reifsten Formulierung will seine Theorie eine allgemeine Theorie des sozialen Konflikts sein, der sich von Mal zu Mal anders darstellt und der nur mit Hilfe einer konkreten Analyse der konkreten Situation erfassbar ist."

Auf dieser Basis lässt sich der Kampf gegen die Identitätspolitik führen.