Das Elend der identitären Politik

Seite 2: Die Bedeutung der Dimension Mensch

Es ist an der Definition der Menschenrechte festzuhalten, wie sie sich ab der Französischen Revolution entwickelt hat, wonach alle Menschen Träger von bürgerlichen, politischen und wirtschaftlich-sozialen Rechten sind. Dies bedeutet, "von der Klasse, von der Rasse, vom Geschlecht usw. zu abstrahieren, um die Differenz des Menschen im Vergleich zur tierischen oder nichtmenschlichen Welt hervorzuheben".14

Dabei geht es nicht darum, die verschiedensten Differenzen zu leugnen oder auch nur zu bagatellisieren, sie müssen vielmehr in ihrer ganzen Bedeutung anerkannt und respektiert werden. Dabei darf man aber nicht stehen bleiben, denn das Allgemeine muss dergestalt sein, dass es das Besondere in sich fasse.

Losurdo zitiert hier Lenin, der wiederum in seinem Konspekt zu Hegels "Wissenschaft der Logik" den großen deutschen Philosophen zitiert:15

Eine ausgezeichnete Formulierung: 'Nicht nur abstrakt Allgemeines, das den Reichtum des Besonderen, des Individuellen, den Einzelnen in sich fasst' (allen Reichtum des Besonderen und des Einzelnen!) !! Tres bien!

Lenin

Angesichts der Verbrechen und Kriege, die vom Westen im Namen der Menschenrechte ausgeübt bzw. geführt werden, fügt Losurdo dem aber eine Warnung hinzu:16

So ausgezeichnet diese Formel auch sein mag, schützt sie als solche noch nicht vor dem Abgleiten vom behaupteten Allgemeinen in ein Pseudo-Allgemeines, dass der Mann oder der weiße Mann oder der Eigentümer oder der westliche Mensch usw. sein kann. Wenn das Allgemeine nicht in der Lage ist, das Besondere zu subsumieren, rückt es selber zum Besonderen herab, und zu einem Besonderen, dem die Form der Allgemeinheit ein weiteres Potential der Aggressivität verleihen kann.

Domenico Losurdo

Dieser Gefahr der Instrumentalisierung der Menschenrechte für die Aufrechterhaltung der überkommenen bürgerlichen Gesellschaftsordnung kann nur begegnet werden, wenn man eine konkrete Analyse der konkreten Situation vornimmt. Mit anderen Worten: Es kommt darauf an, wer sich jeweils in welchem Zusammenhang auf die Menschenrechte beruft.

Separation - Das Mantra identitärer Politik

Zur Notwendigkeit einer solchen Analyse tritt die Suche nach dem Verbindenden, nach dem Allgemeinen, in dem der Reichtum des Besonderen aufgehoben ist. Damit unvereinbar ist es, die Klassen, Rassen, Geschlechter, Religionen und Kulturen jeweils nur für sich zu betrachten und gegeneinander abzuschotten.

Das aber ist das Mantra der identitären Politik:17

Kurz gesagt: Kann man vom "Menschen schlechthin", zur "Frau schlechthin", zum "Schwarzen schlechthin" oder zum "Proletarier schlechthin" übergehen? Jedes Mal kann man allerdings neue Differenzen einführen, Die nominalistische Auflösung der allgemeinen Begriffe kann bis ins Unendliche weitergehen, bis zur Unmöglichkeit des Gesprächs und der Kommunikation, bis hin zum Schweigen der Mystik oder des Wahnsinns.

Domenico Losurdo

In den westlichen Gesellschaften beschreitet man aber diesen Weg der Separierungen, d.h. der Emanzipation nur der jeweiligen unterdrückten Klasse, des jeweiligen benachteiligten Geschlechts, der jeweiligen missachteten sexuellen Orientierung, der jeweiligen diskriminierten Religion usw. Hauptinstrument dieser Separierung ist die Quotierung.

Sie sichert etwa seit Jahren den Frauen in den Parteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen sowie Linkspartei einen festen Anteil an den innerparteilich zu vergebenden Posten als auch bei öffentlichen Mandaten.18

Inzwischen haben auch die Unionsparteien die Einführung einer solchen Frauenquote bis 2025 für sich beschlossen. Noch weiter geht die Forderung, dass alle Parteien per Gesetz darauf verpflichtet werden bei Wahlvorschlägen Frauen wie Männer zu gleichen Anteilen für öffentliche Mandate aufzustellen.19

Eine feste Frauenquote soll es künftig auch in den Vorständen großer Unternehmen geben. Von all diesen Quotierungen profitieren aber nur sehr wenige Frauen, jene die bereits heute in Parteien und Unternehmen führende Positionen einnehmen. Ihre Karrierechancen verbessern sich dadurch deutlich. Für die große Mehrheit der Frauen verändert sich deren Situation hingegen nicht. Neuerdings soll mit Hilfe der Quotierung auch die gesellschaftliche Position von Menschen mit Migrationshintergrund verbessert werden.20

Die Praxis der Quotierung ist zu einem anerkannten Mechanismus für die Zuordnung gesellschaftlicher Chancen einzelner Gruppen geworden. Die Geschlechter und andere gesellschaftliche Gruppen erhalten auf diese Weise eigene, nach außen fest abgegrenzte Räume, wobei dann nur noch Verhandlungen darüber zu führen sind, wie groß diese Räume jeweils sein dürfen.

Doch was ist mit dem "Dritten Geschlecht" von dem immer häufiger die Rede ist? Wird es für jene, die sich ihm zurechnen und für die bereits die Bezeichnung "divers" verwendet wird, auch bald eine Quotierungsregelung geben?

In dem vom Brandenburger Landtag auf Initiative von SPD und Linkspartei beschlossenen Paritätsgesetz war für diese Menschen eine solche Quotierung bereits vorgesehen. Und was ist mit den Behinderten, den Angehörigen religiöser Minderheiten und anderer Gruppen? Sie werden ebenfalls auf ihre Quoten pochen. Wo endet dann die um sich greifende Praxis der Separierung?

Im Ergebnis entsteht eine immer stärke Zerteilung der Gesellschaft bei gleichzeitiger Sprachlosigkeit der verschiedenen Akteure untereinander. Es droht die Herausbildung einer neuen Kastenordnung.