Das Ende der Prophetie
Die Sozialenzyklika des Papstes ist auf weiten Strecken butterweich und ein Zeugnis stoischer Geduld
Der römisch-katholischen Kirche gehören weltweit mehr als 1,2 Milliarden Menschen an. Sie zählt in ihren Reihen zahlreiche Wirtschaftswissenschaftler und Sozialethiker. Zeitgemäß wäre es, ein kirchliches Dokument zu Fragen der Wirtschaftsordnung von Frauen und Männern aus allen Erdregionen ausarbeiten zu lassen, die den christlichen Standort und Erfahrungen auf der Verliererseite mit einer hohen Fachkompetenz verbinden. Die neue Sozialenzyklika „Caritas in veritate“ (Die Liebe in der Wahrheit) hat Papst Benedikt XVI., von Haus aus Fachtheologe für Dogmatik, aber wohl selbst geschrieben. Die Handschrift ist unverkennbar. Die Namen der Berater werden nicht genannt. Der eilige Beifall aus sehr unterschiedlichen Lagern gibt zu denken. Besonders Kritiker des „Neoliberalismus“ sollten den Text vor einer Bewertung eingehender studieren. Wirklich eindeutig ist seine Tendenz nämlich nicht.
Vergleicht man "Caritas in veritate" vom November 2007, so kann man allerdings von einem echten Fortschritt sprechen. Das erste Dokument zeugt fast durchgehend von einem augustinischen „Primat des Unsichtbaren“ und wenig Interesse am Weltgeschehen.
Jetzt wendet sich Benedikt XVI. den Problemen der Weltgesellschaft zu. Von Paul VI. bis hin zu Johannes Paul II. haben die Päpste mit prophetischer Energie die Sache der Armen auf dem Globus verfochten. Gemessen daran muss das neue Rundschreiben enttäuschen. Es dominieren gelehrsamer Duktus und stoische Geduld. Im Gegensatz zu verstreuten Aussagen1 aus seiner bisherigen Amtszeit verzichtet Benedikt XVI. hier wieder vollständig auf den Begriff „Kapitalismus“.
Das Ganze wirkt bisweilen wie ein Sammelsurium, in dem alles irgendwie – und manchmal widersprüchlich – zur Sprache kommt. Ein roter Faden ist trotz des Leitgedankens einer „ganzheitlichen Entwicklung“ schwer auszumachen. Die Lektüre ist mühselig. In den von „Wir sind Kirche“ gesammelten Stellungnahmen ist im Einzelfall gar von einem „Schrottpapier“ die Rede.
Nur zahme Anmerkungen zur virtuellen Geldmehrungsmaschine
Wiederholt war das Erscheinen der Enzyklika verschoben worden, zuletzt, um Aktualisierungen angesichts des Zusammenbruchs der Finanzmärkte vorzunehmen. Umso erstaunlicher ist es, wie knapp und zahm die diesbezüglichen Ausführungen ausfallen. Dass Finanzwirtschaft und Realwirtschaft nicht auseinander fallen und Sparer nicht betrogen werden dürfen, kann man nachlesen. Doch wo bleiben die grundsätzlichen Anfragen, die aufgrund der biblischen Einsichten in das Eigenleben der Geldwirtschaft (Zinswesen) zu erwarten gewesen wären? Da aus dem Vatikan nach „Ausbruch der Krise“ freundliche Bemerkungen zur islamischen Wirtschaftsphilosophie zu vernehmen waren, hätte man doch zumindest mit der klaren Forderung gerechnet, das Getriebe der virtuellen Geldvermehrungsmaschine unverzüglich zu stoppen.
Mit ruhigem Ton mahnt der Papst: „Man muß vermeiden, daß die finanziellen Ressourcen zur Spekulation verwendet werden und man der Versuchung nachgibt, nur einen kurzfristigen Gewinn zu suchen“ (Nr. 40). Ist ein solches „Aber bitte mit Anstand, meine Herren!“ die angemessene Antwort auf ein System der gewissenlosen Spekulation, das so viele Menschen ins Elend stürzt? Vorschläge, wie man die aberwitzigen Geldtransaktionen auf dem Globus zumindest verlangsamen könnte, finden keine Berücksichtigung. Nicht einmal gestreift wird der Diskurs darüber, ob denn die astronomischen Geldsummen, welche die Staaten gegenwärtig zur Stützung des Bankensystem aufbringen, wirklich den Menschen zugute kommen oder ob sie vor allem die Finanzwirtschaft der Reichen absichern (mit den Nebeneffekten einer immensen Schuldenbelastung für kommende Generationen und – mittelfristig – einer weiteren Verringerung staatlicher Handlungsmöglichkeiten). Insgesamt war Rom unter Johannes Paul II. schon mal viel weiter2Man tut gut daran, beim Thema „kapitalistische Geldwirtschaft“ auf ältere Dokumente der katholischen Soziallehre zurückzugreifen.
Kontinuität und Diskontinuität: Selektive Erinnerung an Paul VI.
Die Enzyklika „Caritas in veritate“ soll an das Rundschreiben über den Fortschritt der Völker (Populorum progressio) des Montini-Papstes erinnern. Doch diese Erinnerung an Paul VI. gerät auffällig selektiv und umgeht alles, was einst ein Franz Josef Strauß als Roms „schwarzen Marxismus“ beschimpft hat. So kann Benedikt XVI. auch an dieser Stelle eine volle Kontinuität mit der vorkonziliaren Kirchenlehre beschwören (Nr. 12). Leo XIII. (Rerum novarum) und sogar noch Johannes XXIII. (Mater et magister) hatten mit merkwürdigem Nachdruck auf einem naturrechtlich – und notdürftig auch biblisch – abgesicherten Eigentumsbegriff herumgeritten. Das Problembewusstsein bei Papst Paul VI. war jedoch völlig anderes gelagert und führte zu einer ganz neuen Ausrichtung.
Bereits 1964 konstatierte dieser Pontifex, „dass das vom Manchester-Liberalismus geschaffene wirtschaftlich-soziale System noch heute in der Auffassung von der Einseitigkeit des Besitzes der Produktionsmittel und der vorwiegend auf den privaten Profit ausgerichteten Wirtschaft fortdauert.“ 1967 spricht dann seine bahnbrechende Sozialenzyklika vom „ungehemmten Liberalismus“, nach dem „der Profit der eigentliche Motor des wirtschaftlichen Fortschritts, der Wettbewerb das oberste Gesetz der Wirtschaft, das Eigentum an den Produktionsmitteln ein absolutes Recht, ohne Schranken, ohne entsprechende Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft“ darstelle (Populorum progressio).
Diese zu verurteilende Ideologie, die den Markt zum Naturgesetz erklärt und einem „brudermörderischen“ Konkurrenzsystem huldigt, stachelt nach Paul VI. den Menschen in verantwortungsloser Weise „zum Erwerb und Besitz von Macht“ auf. Mit Blick auf die Diktatur des Kapitals heißt es dann:
Man kann diesen Missbrauch nicht scharf genug verurteilen. Noch einmal sei feierlich daran erinnert, dass die Wirtschaft ausschließlich dem Menschen zu dienen hat.
Das Gemeinwohl der ganzen Menschenfamilie hat unbedingten Vorrang: „Das Privateigentum ist also für niemanden ein unbedingtes und unumschränktes Recht.“ Die Nachfolger Johannes Paul I. und Johannes Paul II. haben dies ausdrücklich bekräftigt.
Wer nun mit einer Suchfunktion in „Caritas in veritate“ nach Vokabeln wie „Privateigentum“, „Besitz“ oder „Produktionsmittel“ fahndet, wird schnell feststellen, dass Benedikt XVI. solche Begriffe meidet. Noch verwunderlicher: Die monströse Wirtschaftsform „Konzern“, die das Weltgeschehen der Gegenwart so zentral bestimmt, wird ebenfalls an keiner einzigen Stelle thematisiert.
Die letzten Jahrzehnte haben uns eine schier unglaubliche Konzentration von Vermögen in den Händen einer verschwindend kleinen Minderheit beschert. Es wäre nun angesagt gewesen, diese Besitzanhäufung bei sehr wenigen, die über die Bedarfsdeckung eines persönlichen bzw. familiären Luxuslebens unendlich hinausgeht, einmal anhand von Fakten zu problematisieren. Auch hier: Fehlanzeige. Dabei hätte der Papst an dieser Stelle seiner Vorliebe für die alten Kirchenväter freien Lauf lassen können. Cyprian, Basilius der Große, Ambrosius, Johannes Chrysostomus und andere bieten gepfefferte Zitate zur ungerechten Reichtumsakkumulation und zu den Verbrechen an den Armen, die bis heute an Aktualität rein gar nichts eingebüßt haben. Aber Benedikt XVI. geht alles mit der von ihm selbst immer wieder eingeforderten „vernünftigen Gelassenheit“ an und: ganz allgemein, ganz allgemein.
Wenigstens ein einfach verstehbares und klares Prinzip wäre an dieser Stelle auch hilfreich gewesen. Der Ökumenische Weltrat der Kirchen verlangte z.B. schon 1975 in Nairobi als Hauptziel einer neuen Weltwirtschaftsordnung:
Niemand darf seinen Wohlstand vergrößern, solange nicht alle das Existenzminimum haben.
Jenseits der strukturellen Einsichten von Karol Wojtyla
Johannes Paul II. hat jene Marktmechanismen, die den Egoismus prämieren und der Profitgier immer neue Nahrung geben, in Anlehnung an die zuvor gemaßregelte Theologie der Befreiung als „Strukturen der Sünde“ bezeichnet; hinter den entsprechenden Entscheidungen in Ökonomie und Politik würden sich „wahrhafte Formen von Götzendienst“ verbergen (Sollicitudo rei socialis, 1987). In der Enzyklika „Centesimus annus“ (1991) konstatiert er, „dass sich eine radikale kapitalistische Ideologie breit macht, die (...) ihre Lösung in einem blinden Glauben der freien Entfaltung der Marktkräfte überlässt“.
Deutlich aktualisiert er – die Gefahr der Heiligsprechung des Kapitalismus nach dem Ende der Systemkonkurrenz früh erkennend – die katholische Soziallehre mit Blick auf eine Globalisierung, die dem Ziel „Lebensmöglichkeiten für alle“ gerade nicht dient. Er verurteilt eine „bösartige“ Ideologie, bei der „Nationen und Völker das Recht auf eine Beteiligung an den Entscheidungen, die ihre Lebensweise oft so grundlegend verändern“, verlieren. Ihre Hoffnungen würden „grausam zerstört“ durch eine Marktordnung, in der „politische und finanzielle Macht konzentriert sind“, während die Finanzmärkte unberechenbar fluktuieren. (Neujahrsbotschaft 1999) – Die Gefährdung auch der bürgerlichen Freiheit durch einen wild gewordenen Kapitalismus war dem Papst aus Polen durchaus bewusst. – Eine Fortschreibung solcher strukturellen und ideologiekritischen Einsichten sucht man in der neuen Sozialenzyklika vergebens.
Unter „Götzen“ sind übrigens Fetische bzw. Gebilde von Menschenhand zu verstehen, die sich verselbständigen und dann – individuell wie kollektiv – Macht über die Menschen (ihre „Schöpfer“) ausüben. Die biblische „Götzenkritik“ ist im Bereich der christlichen Ökumene eine wichtige Kategorie in der Kritik des „Neoliberalismus“. Die Plattform Kairos Europa dokumentiert den entsprechenden Bekenntnisprozess bei den Mitgliedern des Weltkirchenrates. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger bietet Benedikt XVI. kaum Anknüpfungspunkte, um die römisch-katholische Kirche mit der ökumenischen Bewegung für ein „Wirtschaften im Dienste des Lebens“ zu verbinden. Eine Kritik der religiösen bzw. sakralen Dimensionen des „Neoliberalismus“ liegt dem Autor der neuen Sozialenzyklika fern.
Freundliche Worte für den Markt
Möglicherweise ist der Papst durch höhere Eingebung ja schon weiter als wir Normalsterblichen und weiß um das definitive Ende des „Neoliberalismus“ (welches nach Lage der Dinge ja noch keineswegs eine ausgemachte Sache ist). Nur so wäre es erklärbar, dass er im Gegensatz zum Vorgänger auf eine fundierte Kritik des Marktradikalismus ganz verzichtet und fast nur noch freundliche Worte für den Markt findet (Nr. 35-37):
Der Markt ist an sich nicht ein Ort der Unterdrückung des Armen durch den Reichen und darf daher auch nicht dazu werden [Futurum?]. Die Gesellschaft muß sich nicht vor dem Markt schützen, als ob seine Entwicklung ipso facto zur Zerstörung wahrhaft menschlicher Beziehungen führen würde.
(Caritas in veritate Nr. 36)
Der Kontext in der Enzyklika: Der Markt ist seinem Wesen nach gut, man darf ihn nicht diffamieren. Es sind lediglich böse Ideologien, die ihn in eine schlechte Richtung lenken können. An sich aber unterliegt der Markt „den Prinzipien der sogenannten ausgleichenden Gerechtigkeit, die die Beziehungen des Gebens und Empfangens zwischen gleichwertigen Subjekten regelt“ (man fühlt sich an die Herzlichkeit auf dem Obst- und Gemüsemarkt erinnert); der Markt ist keineswegs „strukturell auf eine Quote von Armut und Unterentwicklung angewiesen“, und „es ist im Interesse des Marktes, Emanzipierung zu fördern“ (Nr. 35).
Ohne Zweifel folgt Benedikt XVI. einem denkbar idealistischen Verständnis von „Sozialer Marktwirtschaft“, und er kann dies tun, weil er die real existierende wirtschaftliche Machtkonzentration gar nicht richtig ernst nimmt. Angesichts des Unheils, das die Ideologie des Marktes in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat, geböte es aber doch der Realismus, mit dem Jesuiten Oswald von Nell-Breuning von einem lediglich „sozial temperierten Kapitalismus“ zu sprechen.
Ein erstaunlicher Moraloptimismus
In der Enzyklika entwickelt der Papst – was für einen augustinisch geprägten Theologen erstaunlich ist – einen großen Optimismus bezogen auf moralisch handelnde Personen und die Weckung „moralischer Energien“. „Die Moral muss Mitte der Wirtschaft sein“, so lautete in etwa der Tenor des frühesten Medienechos. In einer CDU-Stellungnahme, in der das Rundschreiben gar schon als DRITTE Sozialenzyklika des gegenwärtigen Pontifex gewürdigt wird, heißt es entsprechend:
So mahnt „Caritas in veritate“ eine menschenfreundliche Ethik in der Wirtschaft an. Der Heilige Vater fordert eine Abkehr von reiner Begehrlichkeit. Jeder einzelne ist in Verantwortung gerufen, sein Gewissen auf das Gemeinwohl zu verpflichten.
Beim Papst liest sich das so:
Ohne rechtschaffene Menschen, ohne Wirtschaftsfachleute und Politiker, die in ihrem Gewissen den Aufruf zum Gemeinwohl nachdrücklich leben, ist die Entwicklung nicht möglich. (Nr. 71)
Davon zu unterscheiden ist namentlich das Agieren einer „kosmopolitischen Klasse von Managern …, die sich oft nur nach den Anweisungen der Hauptaktionäre richten“ (Nr. 40). Aber, so möchte man einwenden, „shareholder value“ ist doch in erster Linie keine Frage des personalen Ethos, sondern etwas Systemisches.
Namentlich auch in den christlichen Kirchen gibt es Initiativen, Geldinstitute etc. für ein „ethisches Wirtschaften“. Es scheint ein besonderes Anliegen des Papstes zu sein, dass das Wort „ethisch“ nicht „in ideologisch diskriminierender Weise angewandt“ wird – also zur Denunziation anderer (Nr. 45). Selbstredend ist es richtig, eine Ethik für alles Wirtschaften einzufordern. Nahe liegend wäre es jedoch gewesen, wenn der Papst die besonderen Bemühungen um „ethisches Wirtschaften“ ausdrücklich gelobt hätte und für das kirchliche Finanzwesen selbst eine strikte Selbstverpflichtung eingegangen wäre (keine Geldanlagen im Kontext von Rüstungsproduktion, umweltschädlichen Technologien, Ausbeutungsverhältnissen etc.).
Benedikt XVI. setzt – im Gefolge von Johannes Paul II. – auf starke und handlungsfähige Gewerkschaften sowie auf ein ganz neuartiges Gefüge aus Staat, Markt und Zivilgesellschaft (wozu ein „dritter Sektor“ des am Gemeinwohl orientierten Wirtschaftens gehört). Sein Konzept von einer „Wirtschaftsdemokratie“ mit moralisch agierenden Subjekten wird fragwürdig durch die weitgehende Ausblendung von Strukturfragen. Denn die Verhältnisse, sie sind nicht so. Zur Stunde ist ja noch gar nicht ersichtlich, wie die Gesellschaft wieder Kontrolle über und Einfluss auf den mächtigen ökonomischen Apparat gewinnen kann. Die druckfrische Papstenzyklika wird die Gesellschaft jedenfalls nicht mobilisieren, eine Politik im Dienste der Mehrheit der Menschen einzuklagen.
Ausblendung der Täterschaft des „christlichen“ Kulturkreises
Die wahre Globalisierung fußt, wie der Papst gemäß katholischer Lehre sagt, auf der „Einheit der Menschenfamilie“ (Nr. 42). Hierbei bestehe kein Grund zu Fatalismus. Durchgehend verzichtet die neue Enzyklika jedoch darauf, die in der leibhaftigen Welt und ihrer gegenwärtigen Wirtschaftsunordnung anzutreffenden Verbrechen samt Täterkreise konkret zu benennen. An den entsprechenden thematischen Schnittstellen spricht der Papst stets nur vage von der „möglichen Gefahr“, dass etwas Bestimmtes eintreten bzw. gemacht werden könnte, oder von gewissen „Missbräuchen“, denen man nicht verfallen dürfe … Damit verabschiedet dieses überall allgemein gehaltene Lehrdokument eines Platonikers endgültig die Prophetie, welche an allererster Stelle im Klartext sagt, was Sache ist.
Laut „World Food Report“ sterben jährlich fast 37 Millionen Menschen am Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen (wobei andere Formen der Unterversorgung noch gar nicht beachtet sind). Im Zuge des durch Spekulation herbeigeführten Zusammenbruchs der Bankenwirtschaft droht die Zahl der Hungernden auf deutlich mehr als eine Milliarde Menschen [!] anzusteigen (bis zu 90 Millionen Menschen werden nach Schätzungen von Amnesty International durch die Krise zusätzlich in Armut fallen). Diese Hölle auf Erden ist kein Naturereignis. Das tägliche Massaker wird durch Überschuldung der armen Länder, die Politik des Weltwährungsfonds und die Agrarpolitik der reichen Weltzentren gemacht. Wie die Reichen den Globus in ihrem Interesse regieren, das kommt einem systematischen Massenmorden gleich.
Namentlich das „christliche Europa“ und das „christliche Nordamerika“ sind Teil des „Imperiums der Schande“ (Jean Ziegler), das sich vor den Verelendeten auf dem Globus mit Hochleistungstechnologie abschottet. Sie wären im Sinne des II. Vatikanums direkt anzusprechen (Gaudium et spes Nr. 88). Mit wohl abgewogenen Konjunktiven kann die Kirche keine parteiische Option für die Armen wahrnehmen. Da sich das neue Papstrundschreiben zum konkreten Ist-Zustand ausschweigt, trägt es zur Vernebelung bei. Nicht einmal das klar verständliche Anliegen der von vielen kirchlichen Gruppen mitgetragenen Schuldenerlasskampagne wird aufgegriffen.
Obwohl Benedikt XVI. die unteilbaren Menschenrechte von Migranten nennt (Caritas in veritate Nr. 62), scheinen ihm doch die ökonomischen Funktionen der Illegalisierung von Menschen und das, was sich unter dem Vorwand der von ihm berücksichtigten „Rechte der … Zielgesellschaften der Emigranten“ abspielt, unbekannt zu sein (in Italien sind Migranten nach Berlusconis eigenen Aussagen „KZ-ähnlich“ untergebracht). Ganz arglos nennt der Papst das Steuerungsinstrument „einer engen Zusammenarbeit zwischen Herkunfts- und Aufnahmeländern der Migranten“. Eine entschiedene Anwaltschaft für die „Einheit der menschlichen Familie“ würde anders aussehen.
Der Weltrüstungshaushalt ist kein Thema
Nach Angaben des schwedischen Friedensforschungsinstitut SIPRI stiegen die weltweiten Rüstungs- und Militärausgaben im Jahr 2008 „auf 1464 Milliarden Dollar oder über eine Billion Euro. Das waren vier Prozent mehr als im Jahr davor und 45 Prozent mehr als Ende der neunziger Jahre“ (FR Online, 9.6.2009). – Im Jahr 2007 hatte das Weltkriegsbudget noch bei 1.337 Milliarden US-Dollar gelegen; im gleichen Zeitraum betrug die öffentliche Entwicklungshilfe nach Angaben von Welthungerhilfe und Terre des Hommes weltweit gerade mal 103,7 Milliarden US-Dollar (ohne Abzug von Phantomgeldern).
Die Diskrepanz zwischen militärischen und zivilen Ausgaben wird jährlich erschreckender. In den USA, die allein über 40 Prozent des Weltrüstungshaushaltes bestreiten, ist jede Rekordhöhe aus der Zeit des Kalten Krieges bereits überboten (für 2010 ist dort eine erneute Realsteigerung um 4 Prozent beschlossene Sache). Die Gewinne der Rüstungsindustrie und der privaten Kriegsdienstleistungsunternehmen erreichen Schwindel erregende Ausmaße (Deutschland ist mittlerweile drittgrößter Rüstungslieferant der Welt; in den Vergleichszeiträumen 1999–2003 und 2004–2008 hat es seine Waffenexporte um 70 Prozent gesteigert).
Man kann sich nur wundern, dass der Papst auf diese aktuelle Entwicklung und die mit ihr verbundene Kriegsgefahr rein gar nicht eingeht. Vittorio Bellavite, Koordinator der Vereinigung „Noi Siamo Chiesa“ (Wir sind Kirche) in Italien, konstatiert zur Sozialenzyklika „Caritas in Veritate“: „Es gibt in ihr „keinerlei Bezugnahme auf den Rüstungswettlauf, auf die Notwendigkeit der Abrüstung, auf den internationalen Waffenhandel und ganz im allgemeinen auf die möglichen und tatsächlichen Konflikte, die eine der hauptsächlichen Ursachen der Verarmung, des Hungers und des Elends sind“ (das Ziel einer „geeigneten vollständigen Abrüstung“ ist allerdings in Nr. 67 doch einmal benannt). Papst Paul VI. hat mit größtem Nachdruck auf den Zusammenhang von Hochrüstung und Hunger hingewiesen. Das Rundschreiben von Benedikt XVI. kann sich kaum auf ihn berufen.
„Weniger Hartz IV – mehr Herz für Afrika“?
Der Papst möchte mehr Entwicklungshilfe, aber er scheut auch hier davor zurück, die diesbezüglichen großen Versäumnisse der reichen Staaten, die sehr weiter hinter ihren verbindlichen Verpflichtungen zurückbleiben und in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise noch nachlässiger werden, direkt anzusprechen. Und nun kommt das Erstaunlichste. Die Entwicklungshilfe soll seiner Ansicht nach durch einen Umbau des Sozialstaates in den reichen Ländern finanziert werden. Ihre Verstärkung sollen die reichen Länder unter anderem möglich machen:
(...) durch eine Revision der Politik der Fürsorge und sozialen Solidarität in ihrem Inneren […], indem sie das Prinzip der Subsidiarität anwenden und besser integrierte Systeme sozialer Vorsorge mit aktiver Teilnahme der Privatpersonen und der Zivilgesellschaft schaffen. Auf diese Weise ist es sogar möglich, die Sozial- und Fürsorgeleistungen zu verbessern und gleichzeitig Geldmittel zu sparen – auch unter Beseitigung von Verschwendungen und mißbräuchlichen Bezügen.
Caritas in veritate Nr. 60
Solche Ausführungen kommen dem Versorgungsmodell „Armenküche“ und den neoliberalen Verächtlichmachern des Sozialstaates geradewegs entgegen. Sehr passend stellt die BILD-Zeitung dies unter das Motto „Weniger Harz IV. – mehr Herz für Afrika“.
Was weiß der Papst von der Entwicklung der Bedingungen für Erwerbsarbeit in unseren Breitengraden? Was weiß er von den Eigentumsverhältnissen in den reichen Ländern? Am 21. Januar 2009 vermeldete das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zur Reichtumsverteilung in der Bundesrepublik: Das besitzende obere Zehntel verfügte 2007 über mehr als 60 Prozent des gesamten individuellen Nettovermögens (die obersten 5 Prozent verfügen über 46 Prozent); das reichste eine Prozent verfügt allein über 23 Prozent des Kuchens.
Muss man nicht sagen, dass ein Papst, der angesichts einer solchen Reichtumsverteilung in Sachen globaler Solidarität gezielt ganz weit „unten“ in der Gesellschaft ansetzt, sich fast als Parteigänger der Vermögenden erweist? Möglicherweise hat ihn an dieser Stelle Notker Wolf, der Abtprimas der Benediktiner beraten? (vgl. Kirche und Kapital - zur Unzeit versöhnt?)
Kulturapparat und Wirtschaftsmacht
Einen interessanten Ansatz bieten Anmerkungen zur kommerziellen Massenkultur. Bestimmte Sichtweisen der Kommunikationsmittel, so der Papst, „begünstigen tatsächlich oft ihre Unterordnung unter das wirtschaftliche Kalkül, unter die Absicht, die Märkte zu beherrschen, und nicht zuletzt unter das Verlangen, kulturelle Parameter aufzuerlegen, die Projekten ideologischer und politischer Macht dienen.“ (Nr. 73)
Darf man dies auch so verstehen, dass konzentrierte Medienmacht ökonomische Ideologien transportiert und ein wichtiges Instrument ist, Akzeptanz für die Aufrechterhaltung bestehender Besitzverhältnisse zu schaffen? Gewiss wäre es nicht falsch gewesen, in diesem Kontext auch die rasante Militarisierung der Massenkultur zur Kenntnis zu nehmen.
Kirche und Weltklima
Die Ausführungen zum Klimawandel (Nr. 48-51) fallen gemessen an der vitalen Bedeutung des Themas zu knapp aus. Sie vermitteln auch nicht wirklich den drängenden zivilisatorischen Ernstfall, auf den die Menschheit im Rahmen der bestehenden ökonomischen, politischen und kulturellen Machtverhältnisse offenkundig nicht angemessen zu reagieren vermag. Immerhin werden Möglichkeit und Grundelemente einer rationalen Lösungsstrategie – unter Verzicht auf alle vernebelnde Apokalyptik – unmissverständlich genannt. Auch die blutige Realität der Energiekriege kommt – wieder ohne Nennung von Ross und Reiter – zur Sprache.
Bei seiner Forderung nach einer gerechten Lösung der ökologischen Frage hätte es dem Papst gut angestanden, sich ganz konkret die von den armen bzw. aufstrebenden Ländern vorgelegten Prinzipien zueigen zu machen (gleiches CO2-Budget für jeden Erdenbürger; umfangreiche Kompensationsleistungen durch die bisherigen Verursacher und Profiteure; Solidarität mit den prognostisch zuerst betroffenen Regionen des Südens). Versäumt wird auch die Möglichkeit, den mehr als 1,2 Milliarden Romkatholiken sowie den kirchlichen Einrichtungen Verbindliches in Form einer praktischen Selbstverpflichtung abzuverlangen und das Überlebensthema in den kirchlichen Vollzügen fest zu verankern.
Angemerkt sei an dieser Stelle, dass eine problematische Naturrechtslehre es dem Papst ganz offenkundig unmöglich macht, die explosive Entwicklung der Weltbevölkerung auf dem Planeten als Problem zu sehen (vgl. Nr. 44). Dass er sich dagegen verwahrt, „in der Bevölkerungszunahme die Hauptursache der Unterentwicklung zu sehen“, ist freilich sehr berechtigt.
In „Caritas in veritate“ spielt die Bewegung zur Bewahrung der Schöpfung in der weltweiten christlichen Ökumene keine Rolle. Das größte Defizit der Enzyklika besteht auch an dieser Stelle darin, dass sie eine echte Perspektive für den Überlebensdialog aller Religionen, Weltanschauungen und Kulturen vermissen lässt (und entsprechend auch neue Voten für "Ökologische Gerechtigkeit statt Wachstumswirtschaft für die Reichen" nicht aufgreift).
Man ist sprachlos ob solcher Ignoranz. Die entsprechenden Sätze wirken wie bloße Randbemerkungen und bleiben um Äonen hinter den Ausführungen des II. Vatikanischen Konzils zurück. Während das Konzil wiederholt Brücken auch zu den Atheisten baut, zielt der gegenwärtige Papst auf Exklusivität: „Der Humanismus, der Gott ausschließt, ist ein unmenschlicher Humanismus.“ (Nr. 78) Die „immanenten Formen … des sozialen Engagements“ werden im Kontext der „schädlichen Auswirkungen der Sünde“ abgehandelt (Nr. 34).
Integraler Katholizismus?
Die in der Berichterstattung überproportional gewürdigten Ausführungen des Papstes zu einer „echten politischen Weltautorität“ (Nr. 67) sind nicht neu, sondern schon bei Johannes XXIII. vorgezeichnet. (Mit viel Interpretationsgeschick lässt sich aus dem betreffenden Absatz auch die aktuelle Ausgangslage herauslesen: Institutionen der UNO und der internationalen Wirtschafts- und Finanzgestaltung sind durch die reichsten und mächtigsten Länder instrumentalisiert.) Da der Vorschlag ausdrücklich auf das Prinzip der Subsidiarität (Selbstständigkeit der nahen Räume, Hilfe zur Selbsthilfe) verweist, ist der Vorwurf, der Papst wünsche einen zentralistischen Weltstaat, nicht gerechtfertigt.
Die römische Weltkirche könnte allerdings mit gutem Beispiel vorangehen und den seit den 1980er Jahren wieder auf die Spitze getriebenen Papstzentralismus unter dem Vorzeichen einer „global-lokal“ verorteten Vernetzung aufgeben. Die Enzyklika gibt freilich keinen Ansatz dafür her, dergleichen zu erhoffen. Ein Traditionalist aus dem Lefebvre-Lager könnte sie durchaus so lesen, dass seine Vorstellungen von einem integralen Katholizismus und einem Primat Roms über die ganze Weltgesellschaft Bestätigung finden.
Einem dialogischen Weg ist auch die theologische Grundlegung des Rundschreibens wenig förderlich. An einzelnen Stellen skizziert der Papst eine Theologie des geschenkten Lebens, aus welcher er z.B. auch die Geltung des „Prinzips der Unentgeltlichkeit“ im Bereich von Gesellschaft und Ökonomie ableitet (Nr. 34). Hier hätte ein guter Anknüpfungspunkt liegen können für das Gespräch zwischen den Religionen, Weltanschauungen und Kulturen. Zentral setzt „Caritas in veritate“ aber ganz oben, bei einem innergöttlichen Beziehungsgefüge von „drei göttlichen Personen“3 an (Nr. 54). Hier liegt für den Papst letztlich die gegen alle Relativisten zu verteidigende Wahrheit. Wer von den nicht christlichen Adressaten der Enzyklika („alle Menschen guten Willens“) vermag einen solchen Ansatz ganz oben bei einer „göttlichen Immanenz“ nachzuvollziehen? Dem Papst ist mit der neuen Sozialenzyklika auch theologisch kein „großer Wurf“ gelungen. Wer wird sie wirklich lesen? Kommunikation ist der Schlüssel zu einer alternativen, menschenfreundlichen Globalisierung.