Das Ende der "deutschen Tugenden"

Klaus Theweleit beschreibt "Fußball als Realitätsmodell" - und was Völlers Ausscheiden und Schröders Politik miteinander zu tun haben

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Völlers Gurkentruppe ist in Portugal zwar ausgeschieden, doch die deutsche Fußballliteratur blüht und gedeiht. Ein aus der Masse der Wunder-von-Bern-Memorabilien oder Günther-Netzer- und Marcel-Reif-Biographien herausragendes Buch stammt von Klaus Theweleit, seit seinen "Männerphantasien" 1978 sogenannter "Kultautor" der Post 68er (Technokultur oder Barbarei: Interview mit Klaus Theweleit). In "Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell" spürt er mit Erfolg einigen Geheimnissen des Fußballs nach. Lesenswert, erst recht nach dem deutschen Ausscheiden. Denn dies markiert auch in anderer Hinsicht das Ende des "Modell Deutschland".

Natürlich, der Deutsche will nur Erfolg. Aber wir müssen uns davon lösen. Der Weltfußball ist so, dass wir keine Rolle mehr spielen werden, wenn wir es nicht tun.

Ausgerechnet Berti Vogts hat es schon immer gewusst. Der kleine, als Bundestrainer letztlich überforderte "Terrier" stilisierte sich schon zu Zeiten als Bundesberti gern zum Revolutionär des konservativen Fußballs und Kritiker der deutschen Mentalität. Leider konnte man im von ihm trainierten Nationalteam auch nach acht Jahren Arbeit nichts Revolutionäres entdecken, trotz des EM-Gewinns von 1996 mit einem spielerisch schleppenden Defensivkonzept. Und so wurde dessen Ausscheiden gegen eine Gruppe dahergelaufener, vom Bürgerkriegsnationalismus beflügelter, überalterter Balkan-Machos (0-3 gegen Kroatien im WM-Viertelfinale von 1998) auch zum Ende von Vogts Tätigkeit.

Die zitierte Einsicht aus dem Jahr 1994 ist indes so aktuell wie damals. Spätestens das EM-Ausscheiden nach der Vorrunde am vergangenen Mittwoch belegt, das der deutsche Fußball seine einstige Vormachtstellung - zwischen 1966 und 1990 kam das Team bei sieben Weltmeisterschaften fünfmal ins Finale, einmal ins Halbfinale, zweimal wurde der Titel gewonnen, ebenfalls zweimal die EM - endgültig verloren hat.

Ist die Wiedervereinigung schuld?

Nur Willkür des Schicksals, nur ein schlechtes Team? Oder wirken hier doch tiefere Kräfte? Ist es am Ende kein Zufall, dass mit Spanien, Italien und Deutschland ausgerechnet diejenigen drei westeuropäischen Favoriten frühzeitig ausschieden, die einst faschistisch regiert wurden? Oder ist im deutschen Fall vielmehr die "Wiedervereinigung" schuld? Noch 1990 verkündete Franz Beckenbauer im Übereifer nach dem WM-Titel: "Diese Mannschaft wird auf Jahre hinaus unschlagbar sein." Genau zu diesem Zeitpunkt setzte der Verfall ein. Möglicherweise war es genau das unbewusst Unsaturierte der westdeutschen Nachkriegsrepublik, die klammheimliche offene Rechnung, die ihre Kicker bis zum Mauerfall so stark gemacht hatte. Und vielleicht war Beckenbauers Hochmut nur ein Spiegel von Kanzler Kohls großmäuligem Versprechen von den "blühenden Landschaften" im Osten.

Es sind solche Fragen, die auch Klaus Theweleit umtreiben. Einst spielte er im norddeutschen Land, als Torwart und Linksaußen, bevor "ein Bauernlümmel" sein Knie traf und ihn gleichermaßen aus Fußballkarriere wie Wehrdienst herausgrätschte. So wurde Theweleit zum Experten für Männerbünde aller Art ("Männerphantasien", 1978) und leidenschaftlichem Fußballbeobachter. Sein neues Buch, "Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell" vermengt autobiografische Bekenntnisse mit philosophischen und kulturtheoretischen Betrachtungen zum Gegenwartsfußball. Dominiert am Anfang persönliche, sehr interessant zu lesende Nostalgie, gibt nach dem ersten Drittel das Denken den Ton an. Sowieso glaubt Theweleit, dass der "Aufbau der Person", seiner eigenen wie jedermanns, durch Medien geschieht, und durch das was durch sie in Körper und Geist übertagen wird - in seinem Fall: Kino, Rockmusik, Fußball.

Der genaue Pass als Entsprechung präzisen Denkens

Doch diese regen wiederum das Denken an:

Kino plus Fußball ergab: Räume-Denken. Sehen als Wahrnehmung von Abläufen und als analytisches Durchblicken. Der genaue Pass als Entsprechung präzisen Denkens. Man kann keinen Ball ins Tor quatschen.

Ein Denker hat demnach die Mannschaftsaufstellungen und Tabellenstände der Wirklichkeit zu berücksichtigen. Fußball hat in diesem Fall eine disziplinierende, theoretischen Überschwang dämpfende Wirkung, wie er auch selbstverständlich und analog zur Popkultur zu Internationalismus erzieht, die Fußball-Spielenden durch Regeln und das Fairness-Gebot zivilisiert.

Auf dem Platz wird ein Gesellschaftsvertrag geschlossen. Theweleit widerspricht daher nachdrücklich und überzeugend der beliebten Ansicht, "Fußball ist Krieg" (Rinus Michels), und sieht in seinem Lieblingsspiel eher die Urbanisierung und Humanisierung der Provinz archaischer Kampfrituale. Daher sind ihm auch autoritäre Schiedsrichter ebenso zuwider wie der ewig wiederkehrende Ruf nach "Führungsspielern" (Günter Netzer) hinter dem Theweleit vor allem autoritäre Restbestände vermutet. Fußball aber ist Mannschaftssport. Allenfalls Zidane oder Beckham lässt er gelten, postheroische Fußballartisten, scheinbar ohne Männerbündelei und Kampftrinken.

In seinem Lob der Mannschaft und der Gleichheit der 11 Freunde nähert sich unser Autor allerdings gelegentlich arg jenem Berti-Vogtschen Spießer-Kommunitarismus, der in den Satz "Der Star ist die Mannschaft" mündete, Vogts Lieblingsspruch nach dem EM-Titel 96. "Mannschaft" wurde dann auch prompt ein "Wort des Jahres".

Man wird die Vermutung nicht los, dass beim Ex-Klopper Vogts hierbei auch einiges längst verinnerlichtes Ressentiment gegen Ausnahmespieler am Werk war. Vielleicht auch bei Theweleit, der sich gern als Outsider der Wissenschaftszunft stilisiert und gelegentlich auch den Anti-Meisterdenker gibt? Vielleicht ist es aber auch nur der übliche Reflex von Theweleits pesönlichem Freiburger Milieu, das sich - so muss man jedenfalls vermuten - nur dann über geniale Individuen freut, wenn sie aus Kamerun, Südkorea oder anderen vermeintlich unterprivilegierten Ländern kommen, und also eine Art Spartacus-Aufstand des Fußballs markieren. Von Kickern aus westeuropäischen Industriestaaten wird hingegen von Theweleit vor allem "mannschaftsdienliches" Verhalten eingefordert. (Weshalb ihm der "egoistische" Netzer seit jeher suspekt ist, und er noch nach 30 Jahren Helmut Schönes umstrittene Entscheidung, Overath im deutschen Mittelfeld einzusetzen, verteidigt. Der sei immer genau dort gewesen, wohin ein Stürmer zurückspielen wolle). In Frankreich oder Holland, auch in Tschechien, würde man nie auf ähnliche Gedanken kommen.

Trotz aller Internationalismen gibt es also - wie auch jedes derzeitige EM-Spiel belegt - kräftige mentalitätsgeschichtliche Unterschiede zwischen den einzelnen Teams. Erst konkrete politische und nationalstaatliche Gebilden lassen Spielweisen verstehen, das Nationale scheint auch im Fußball beträchtliche Beharrungs- und Prägekräfte zu besitzen. Und, folgt man Theweleit, nicht nur dort.

Gegen Niklas Luhmanns These von der Autonomie der sozialen Systeme behauptet er, dass irgendwie alles mit allem zusammenhängt, jedes System vom anderen beeinflusst wird und deswegen Fußball sehr wohl ein tauglicher Spiegel der Gesamtgesellschaft ist - besonders geeignet, weil weniger komplex, klarer analysierbar. Zugleich gilt aber auch für ihn Matthias Sammers tiefe Einsicht: "Eins und eins ist im Fußball nicht gleich zwei." So ist Fußball für Theweleit andererseits kein reiner Reflex soziokultureller Entwicklungen, sondern ein eigenes Aktions- und Experimentierfeld.

Völler = Schröder

Was heißt das nun für die Gegenwart, nach dem frühzeitigen Ausscheiden der deutschen Mannschaft, von dem Theweleits Buch naturgemäß noch nichts wissen konnte? Der Verdacht, dass auch in diesem Fall Gesellschaft und Fußballkultur, Politik und Spielvermögen, Zeitgeist und Mannschaftsgeist etwas miteinander zu tun haben, liegt zumindest sehr nahe.

Es wäre vielleicht zu viel gewagt, die Gesichtslosigkeit der Völlerschen Mannschaft und des Schröderschen Kabinetts platt zu analogisieren. Aber wer kennt überhaupt die 26 Namen im Kader, wer weiß wirklich, zu welchem Verein sie gehören, wer weiß warum gerade Jeremies auf der Bank hockt und Baumann spielt? Ähnlich geht es einem auch mit der Bundesregierung und der SPD. Warum ist Struck Verteidigungsminister geworden, und nicht Fraktionschef geblieben? Wie heißt der SPD-Bundesgeschäftsführer?

Der grundsätzliche Defensivstil, der "Angstfußball" (Maybrit Illner) ist aber auch für den Regierungsstil Schröders prägend. War Helmut Kohl noch eher ein Repräsentant von Otto Rehagels "kontrollierter Offensive", gilt für Schröder wie für Völler: "Die Null muss stehen" (Huub Stevens). Erst wenn hinten nichts anbrennt (oder natürlich, wenn man in Rückstand gerät), darf man angreifen.

Schwerer noch wiegt aber das völlige Fehlen eines Spielstils, die Dominanz von Feigheit und Ratlosigkeit. Wenn die grundsätzliche Ausrichtung jedoch von Vollkasko-Mentalität bestimmt wird, fällt es schwer, auf Offensive umzuschalten. Nie spürte man bei deutschen Fußball-Auftritten der letzten Jahre auch nur einen Hauch jenes Hochgeschwindigkeitsfußballs, wie ihn die Portugiesen und die Franzosen praktizieren, mitunter auch Niederländer und Tschechen - etwa in ihrem bahnbrechenden 2-3-Duell während der EM-Vorrunde. Dagegen dominieren bei den Deutschen blindes Anrennen, falsch verstandene Konsequenz, Starrsinn vor dem Feind, Durchhalten um seiner selbst willen - Stalingradtugenden sozusagen (also nicht nur unsympathisch, sondern schlichtweg überholt).

Es fehlt dabei nicht nur der Mut, es fehlt die Strategie. Schwer ist es dabei zu glauben, dass es zwischen den beschämenden Ergebnissen der Fußball-Nationalmannschaft und denjenigen der Pisa-Studie überhaupt keinen Zusammenhang geben sollte. Die Leseschwäche der deutschen Schüler spiegelt sich in der Schwäche der Spieler wieder, ihr eigenes Spiel "zu lesen" (Franz Beckenbauer).

Und die Ästhetik der graumelierten Einfallslosigkeit und Erstarrung, die Schröders so genannte Reformpolitik prägt, ist das Gegenteil der flexiblen Raumaufteilung, des ballorientierten Spiels und der schnellen Überbrückung des Mittelfelds, die nicht nur im Fußball heute gefordert sind.

"Fakt ist" (Lothar Matthäus): Auch das Gehabe der Trainer weist verblüffende Parallelen auf: Die nichtssagend-rotzigen, dafür täglichen Pressekonferenzen, das Redeverbot für Spieler, die Abschottung im Trainingslager und Geheimtraining waren ein Spiegel nicht nur der Unsicherheit des Teams, sondern der Verachtung für die Öffentlichkeit, die das Handeln der Handelnden dominiert. Weit entfernt war das alles auch vom fröhlich-selbstdisziplinierten Pessimismus, den die Spanier seit Turnierbeginn, wie sich zeigte zu recht, an den Tag legten.

Das Schlimmste von allem aber ist das völlige Fehlen von Selbstkritik, die Unfähigkeit Fehler einzugestehen, erst recht das Unvermögen, sich auf eine neue Lage einzustellen und den einmal eingeschlagenen Weg wieder verlassen, wenn er sich als Misserfolg erweist.

Früher konnte man sich über vieles noch mit der Gewissheit retten, das deutsche Team sei halt eine "Turniermannschaft". So wie es hieß, Schröder sei ein Wahlkämpfer. Doch was Schröder wie Völler in entscheidenden Situationen zuletzt fehlte, wie ihrem ganzen Team, ist auch dieses kleine "Etwas", das man gemeinhin als Fortune bezeichnet.

Das Ende der deutschen Tugenden

Die Misere des deutschen Fußballs lehrt daher etwas über das Spielfeld hinaus. Möchten wir wirklich in einer Gesellschaft leben, die auch nur von fern dem deutschen Mittelfeld während des Tschechenspiels ähnelt, einem Land, in dem die charmant-verbissene Schlurigkeit eines Völler und der verkrampfte Controller-Gestus des ewigen Banklehrlings Michael Skibbe den Ton angeben? Vielleicht tun wir das allerdings längst.

Genau diese Gesellschaft und ihr einstiges "Modell Deutschland" sind in Portugal nun kläglich gescheitert: Es sind jene berüchtigten "deutschen Tugenden" des "über den Kampf zum Spiel finden", des Durchbeißens, der Disziplin und Willenskraft, des Durchhaltens und das Lob von Kameradentum und Führungsspielern, durchweg Tugenden einer kriegführenden Nation, sowie der Wiederaufbauglaube an "deutsche Wertarbeit", an Exaktheit und Handwerk und der Verachtung der Improvisation, die gegen die Spielfreude der Tschechen, aber auch gegen das Bollwerk der Letten und gegen schwächelnde, aber geniale Niederländer ausgeschieden sind. Es ist das Faible für das Profilose, für das Aalglatte, die Angst vor dem Genialen, Sperrigen - das immer auch Unsicherheit bedeutet -, es ist die Verwechselung von Reform mit Optimierung, es ist eine Gesellschaft, deren visionäre Kraft sich im dreiwöchigen Mallorca-Urlaub erschöpft, die am Mittwoch verloren hat.

Scheitern als Chance? Man soll die Hoffnung nie aufgeben, schon gar nicht im Fußball. Aber man kann, wie gesagt, keinen Ball ins Tor quatschen - und wenn man noch so oft von Turniermannschaft und Durchhalten redet. Vielleicht sollte auch Gerhard Schröder einmal Theweleit lesen. Da könnte er dann zum Beispiel über jenen Satz stolpern:

Fußball ist ein unerbittlicher Lehrer in der Anerkennung dessen, was bei Freud Realitätsprinzip heißt.

Noch präziser hat es Uli Hoeneß in Worte gefasst:

Im Fußball gibt es keine Gerechtigkeit. Es gibt nur Ergebnisse.

Klaus Theweleit: Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 234 S., 8,90 Euro