Das Ende einer Ära
Das Internet ist auf dem Boden der Realität angelangt
Der Dot-Com-Börsencrash in den USA und Europa hat endlich die erste Entwicklungsperiode des Internet als ein Massenmedium abgeschlossen. Der Verfall der High-Tech-basierten Aktienindizes wie NASDAQ oder NEMAX weist auf viel mehr hin als nur das Versagen einiger Internet-Firmen. Es ist der endgültige Hinweis darauf, dass sich viele der in jener Periode typischen und weitverbreiteten Annahmen über das Internet als vollkommen falsch herausgestellt haben.
Dieses Denken wurde vor allem in John Gilmoresberühmtem Spruch zusammengefasst, dass "das Internet Zensur als Fehler interpretiert und darum herumroutet", sowie von John Perry Barlows Unabhängigkeitserklärung aus dem Jahr 1996. Es verkörperte den Glauben, oder die Hoffnung vieler der Pioniere der Cyberkultur in ihren zahlreichen Schattierungen über die "Andersartigkeit" des Internet. Man glaubte, dass das Internet - immateriell und weltweit in Echtzeit funktionierend - als solches vollkommen verschieden von der uns bekannten materiellen Welt sei. Wie verschieden, das war Geschmackssache. Jede/r Visionär/in konnte das in der Zukunft sehen, was er oder sie am meisten begehrte, aber in der wirklichen Welt nicht finden konnte. (Anm. d. Red.: Barlows Unabhängigkeitserklärung erboste damals sowohl John Horvath, in Die Unabhängigkeit des Internet und der Massengeist als auch Pit Schultz und Geert Lovink, die gleich den Anti-Barlow verkündeten.)
Für politische Aktivisten barg das Netz die Macht in sich, das Feuer der direkten Demokratie in den Bürgern neu entzünden zu können - zu einer Zeit eines noch nie dagewesenen Zynismus im Hinblick auf den Zustand der real existierenden Institutionen in den liberalen Demokratien. Die Digitale Stadt Amsterdam wurde zum Modell für eine Teilnehmerdemokratie, in der der Abstand zwischen politischer Klasse und Bürgern überbrückt werden sollte.
Für (Neo)Liberale versprach das Internet durch seinen supranationalen Charakter nichts weniger als die Auflösung der Nationalstaaten. Die nationale Rechtsprechung schien unwichtig zu werden, wenn ganze gefährdete Websites innerhalb von Sekunden in den Geltungsbereich freundlicherer Gesetze verlagert werden konnten. Als ein Buch über die Krankheit François Mitterands in Frankreich verboten worden war, erschien es fast sofort auf ausländischen Servern. Sogar das Steuerzahlen schien nicht mehr unvermeidlich zu sein, dank anonymen E-Cash-Transaktionssystemen und sicheren Datenspeichern in Übersee.
Viele Avantgarde-Künstler erdachten Möglichkeiten, wie sie das gefürchtete Kunst-Business und kulturinstitutionelle Kontrollen umgehen könnten, da nun jeder Künstler sein Publikum ohne die traditionellen Vermittler wie Galerien und Museen erreichen konnte. Vielleicht noch weiter ging die Idee, dass der zur Teilnahme einladende interaktive Charakter der Online-Kunst den Unterschied zwischen Künstler und Publikum verwischen und ein Prototyp für die Heraufkunft dessen entstehen könnte, was einige den "Prosumenten" nannten: Den Konsumenten, der gleichzeitig Produzent ist.
Es gab kaum ein Problem, für welches das Internet durch seine Vielseitigkeit keinen radikalen Lösungsweg anbieten konnte. Es war die Hoffnung einer ganzen Generation. Natürlich waren diese Visionen für die meisten Leute esoterischer Kram, bis das Internet schliesslich auch noch versprach, die Regeln der Wirtschaft zu ändern. Die alten Regeln, nach denen vorsichtige Langzeitinvestitionen getätigt und die Basiswerte von Unternehmen sorgfältig geprüft wurden, gingen plötzlich über Bord. Man richtete sich nach den neuen Regeln für die "New Economy", verdichtet dargestellt in den pradoxen Aussagen eines Kevin Kelly: "Dass die wertvollsten Dinge von allen gerade jene sein sollten, die verschenkt werden." Weil das Internet so verschieden von der wirklichen Welt und dieser so überlegen war, sah selbst der am weitesten hergeholte E-Commerce-Businessplan besser aus als gutgehende herkömmliche Firmen. Dank Daytrading übers Internet und IPO-Wahn konnte jeder, der die Zukunft einigermaßen plausibel heraufbeschwören konnte, sehr schnell sehr reich werden. Es bedurfte damals eh nicht viel, um sich mitten im unablässigen Hype der On- und Offline-Medien als visionärer Guru gerieren zu können. (Anm. d. Red.: Bereits 1997 attestierte Niko Waesche im Artikel "Grüße aus der Wirklichkeit" das Ende von Kevin Kelly's Wirtschaftsutopie)
Das Jahr 2000: Das Internet schlägt am Boden auf
Gerade im Jahr 2000, für eine historische Wende ja ein besonders passendes Datum, brachen all diese Traumgebilde vom Internet als einem vollkommen anderen Raum abrupt in sich zusammen. Die Digitale Stadt Amsterdam kollabierte fast unter den inneren und äußeren Zwängen, in einer immer stärker kommerzialisierten Umgebung arbeiten zu müssen, wie zwei aktuelle Postings - nämlich dieses und jenes hier - in der Nettime-Mailingliste dokumentieren. Bei den letzten Wahlen in den USA, dem technologisch wohl am weitesten fortgeschrittenen Land der Welt, spielte das Internet kaum eine Rolle, am allerwenigsten erschütterte es das althergebrachte politische Establishment.
Im letzten Jahr begannen die Regierungen in einigen Nationalstaaten ernsthaft damit, das Internet zu regulieren. In Großbritannien erweiterte der Regulation of Investigatory Powers Act (RIP) die Rechte der Polizei signifikant, auf E-Mail und andere Formen der Online-Kommunikation zugreifen zu dürfen. In Südkorea verbot man den Zugriff auf Glücksspiel-Websites. In den Vereinigten Staaten wurde ein Gesetz verabschiedet, das Schulen und Büchereien, die Bundesmittel für die Einrichtung von Internet-Zugängen erhalten, dazu verpflichtet, eine Filtersoftware zu installieren, die verhindern soll, dass Minderjährige für sie angeblich schädliches Material abrufen können. Anstatt die Reichweite nationalen Rechts zu verringern, scheint das Internet sie plötzlich zu vergrößern. Am 20. November ordnete ein französisches Gericht an, dass Yahoo den französischen Gesetzen entsprechend zu verhindern habe, dass französische Kunden dort mit Nazi-Erinnerungsstücken handeln, obwohl Yahoo von den Vereinigten Staaten aus arbeitet. Obwohl Yahoo geschworen hat, den Spruch anzufechten, stoppte es diese umstrittenen Autionen trotzdem. Nach den Vorschriften der Haager Konvention könnte ein Online-Geschäft der Gerichtsbarkeit in jedem der 48 Mitgliedsstaaten unterliegen, die diesen Vertrag noch in diesem Jahr ratifizieren sollen - obwohl es hier aus den USA noch Widerstände gibt.
Trotz seiner technischen Machbarkeit ist die anonyme elektronische Währung genauso ein Phantom wie vor fünf Jahren, nicht zuletzt deswegen, weil die Regierungen klargestellt haben, dass sie keinem Geldinstitut in ihrem Herrschaftsbereich erlauben würden, eine solche Währung auszugeben.
Die Kunstwelt scheint in ihre althergebrachten Muster zurückzufallen. Museen haben sich mit ihrer eigenen Top-Level-Domain .museum auch im Internet auf ein abgeschiedenes Plateau der anerkannten Hochkultur emporgeschwungen.
Besonders drastisch hat der Absturz der Dot-Coms gezeigt, dass auch die "Neue Wirtschaft" den Gesetzen der Ökonomie gehorchen muss und dass die früher viel verlachten "alten" Firmen kein Problem damit hatten, sich auch im Internet breitzumachen. Die Schwierigkeiten von eToys (wobei wir den legendären Toywar einmal für einen Augenblick beiseite lassen) angesichts des Wettbewerbs mit Toys'R'Us sind symptomatisch: Der Pionier, der sich nur auf das Internet stützen kann, wird von einer längst etablierten Firma, die sich auf eine Ladenkette stützen kann, weggefegt, die ihrer gut funktionierenden Infrastruktur einfach noch eine Zugriffsmöglichkeit durch das Web hinzugefügt hat. Das Buzzword der Stunde heißt demnach "clicks and mortar" (Wortspiel mit dem engl. "bricks and mortar", Steine und Mörtel, also real existierenden Immobilien, d. Übers.).
Was all diesen Ereignissen gemeinsam ist und warum es gerechtfertigt scheint, sie als Anzeichen für das Ende einer ganz bestimmten Periode in der Entwicklung des Internet zu betrachten, ist, dass sie alle uns dazu zwingen, das Internet nicht als einen von der restlichen Gesellschaft abgetrennten Raum zu betrachten. Im Gegenteil: Während sich das Internet immer mehr in das Alltagsleben integriert, ähnelt es immer mehr, naja, dem Alltagsleben. Etablierte Institutionen erkennen den Wert, den das Internet für ihre Expansionspläne hat und zwingen die Technologie mit aller Macht dazu, sich ihrem Willen zu beugen.
Wie wenig diese frühen Visionen des Internet als einem "anderen" Raum in der Wirklichkeit verankert gewesen sind, wird allein schon dadurch klar, dass kaum einer der frühen Visionäre überhaupt einen Versuch unternimmt, seine damaligen Ansichten zu verteidigen. Wo steckt Barlow? Was ist mit Kevin Kelly passiert? Noch viel entlarvender ist auch die Tatsache, dass keiner der Investoren, deren Geld beim Absturz der High-Tech-Werte verbrannt worden ist, sich öffentlich darüber beschwert hat. Irgendwie schien jeder gewusst zu haben, dass die Versprechen viel zu gut gewesen sind, um jemals erfüllt werden zu können. Und diejenigen, die Geld verloren haben, schämen sich vielleicht, genau das zuzugeben. Oder würden Sie in aller Öffentlichkeit sagen, dass Sie letzten März Aktien von priceline.com zu einem Kurs von 104,50 Dollar gekauft haben, die jetzt nur noch 3,50 Dollar wert sind?
Die Zukunft neustarten
Wie auch immer, da das Internet nun in der Wirklichkeit angekommen ist, passieren zwei Dinge: Zunächst verliert das Internet seinen Nimbus des Utopischen, des Besonderen. Gleichzeitig beginnt das Internet, die Umgebung, in der es angekommen ist, zu verändern. Jetzt, wo es offensichtlich wird, dass viele der ersten kulturellen und ökonomischen Vorstellungen nicht funktionieren, würde es mich nicht überraschen, wenn es eine zweite Welle von Innovationen geben würde. Jetzt, wo das Venture Capital versiegt ist und die Träume vom schnellen Reichtum an der Börse erschüttert sind, öffnet sich der Raum wieder für realistischere Versuche, die darauf abzielen, wirkliche Probleme zu lösen, was eventuell zum nächsten Boom führen könnte - oder auch nicht. Das Ende des Dot-Com-Wahnsinns schafft Raum für die Entwicklung eines neuen Denkens, in dem es darum geht, nützliche und nicht bloss profitable Dinge zu entwickeln.
Zur Homepage von Felix Stalder Übersetzung aus dem Englischen von Günter Hack
Im Dezember 97 ließ Rewired Redakteur David Hudson Autoren zu den von Kevin Kelly aufgestellten "neuen Regeln für eine neue Ökonomie" Stellung beziehen. Stück für Stück wurden diese Regeln auseinandergenommen. Telepolis präsentierte damals David Hudsons Einleitungstext, Fabelhafte Intelligenz, sowie eine Auswahl der besten Texte, die in diesem Kontext entstanden sind:
Paulina Borsook: Das Gesetz der Reichhaltigkeit: Der Windel-Trugschluß schlägt wieder zu
Dennis Claxton:Prophezeiungen im ausgehenden 20. Jahrhundert und 'New Economy'
Doug Henwood Gesetz der Verschaltung: Vereinnahme 'dumb power'