Das Erdbeergärtchen von Auschwitz

Seite 2: Die deutschen Krieger

Das Leben hier ist alles Mögliche. Aber es ist auch einiges nicht. Nicht bürgerlich. Keine Souveränität. Wer die Kolonien verpasste, der muss im deutschen Wilden Westen plündern, Apatschenblut trinken, Pocahontas nehmen am Badesee.

Marmorklippen, Katechon. Souverän ist, wer ... am Saum des Nordischen Meeres. So fühlten sich diese deutschen Krieger.

Bild: © Leonine

Dies ist auch die Geschichte einer Jugend. Das Nicht-Erzählte des Nationalsozialismus ist diese Jugend, ist die Alltäglichkeit: der Garten, die Dienstboten, die Damenunterwäsche, die Pelzmäntel. Die Jugend von Schleyer, von Ponto, von Herrhausen.

Voyeuristischer Blick: Big Brother in the Nazi House

Zugleich muss die Machart ein Thema sein: Glazer und Kameramann Łukasz Żal installierten bis zu zehn Kameras im und um das Haus herum und ließen sie gleichzeitig laufen, ohne dass ein Team am Set anwesend war.

Dieser Ansatz, den Glazer "Big Brother in the Nazi House" nannte, ermöglichte es den Schauspielern, während der Dreharbeiten ausgiebig zu improvisieren und zu experimentieren. Ein Leben der Schauspieler in Auschwitz. Was bewirkt das?

Der Blick der Zuschauer ist zwangsläufig voyeuristisch.

Erotik und Gewalt, Eros und Thanatos, der Tod ist ein Meister aus Deutschland, der Eros ist ein "Untermensch". Es wird alles angedeutet, nichts aber ausgesprochen: der Sex zwischen dem Ehepaar, der nicht stattfindet, der Gärtner, der Hedwigs Liebhaber war, die Jüdin Nora Mattaliano-Hodys die Rudolf sexuelle Dienstleistungen liefern musste, und von Höß schwanger wurde.

Wie dreht man einen Film über das Unaussprechliche?

Wie dreht man einen Film über das Unaussprechliche? Über das Einmalige? Über das Grauen? Über das Schweigen?

Die Menschen hier reden viel: "Das ist unser Lebensraum. Das Leben, das wir führen, ist unser Opfer." Italien habe gegen Spanien in Mailand 4 zu 0 gewonnen.

Bei den Nürnberger Prozessen sagte Rudolf Höss vor Gericht, dass "es keine drei Millionen Tote gab. Es waren nur zweieinhalb Millionen, der Rest ist an Hunger, Erschöpfung und Krankheiten gestorben".

Im Wasser fließen auch mal Leichenteile vorbei

Die Kinder baden im Fluss und benehmen sich diszipliniert. Im Wasser fließen auch mal Leichenteile vorbei. Knochen und Gebisse. Rudolf Höß wird hier, aber das weiß er noch nicht, sterben, gehenkt mit Blick auf sein Haus.

Von diesem Haus aus können sie jetzt noch den Tod riechen, das Krematorium, und die verzweifelten Schreie der im Lager gefangenen Menschen hören.

Man müsse die Erdbeeren gut waschen vor dem Essen, hat Hedwig Höß ihren Kindern gesagt, die Asche der Toten verdirbt den süßen Geschmack.

Der Film tut uns weh

Regisseur Jonathan Glazer zeigt die Deutschen so, wie sie sind, jedenfalls auch sind, wie Ausländer sie sofort (er)kennen, vor allem aber so, wie sie in deutschen Filmen nie gezeigt werden.

Zugleich bringt er noch eine mythologische Erzählebene in seinen Film hinein: Eine Art Märchen-Passage, gefilmt mit einer Wärmekamera und dadurch visuell verfremdet und wie ein Schwarzweiß-Negativ anmutend.

In der erzählt der Regisseur, eingeleitet durch eine Szene, in der Rudolf Höß seiner Tochter Ingebrigitt aus Grimms-Märchen vorliest, in mehreren Kapiteln eine Geschichte, die selbst von den Gebrüdern Grimm stammen könnte.

Aber auch sie ist eine wahre Geschichte, ausgerechnet eine der unbekanntesten: Sie geht zurück auf ein damals 14-jähriges Mädchen namens Alexandra, die sich – nichtjüdisch, damals in Auschwitz lebend – dem polnischen Widerstand AKA angeschlossen hatte. Sie half Lagerinsassen über Jahre, versorgte sie heimlich mit Essen.

In der Vorbereitung des Drehs erzählte die über 90-jährige Glazer ihre Geschichte, in der der Regisseur den lange gesuchten humanen Kontrapunkt zum unmenschlichen Höllenszenario der Vernichtung fand.

Glazer ist ein tadellos konsequenter Film gelungen. Er schüttelt uns, unser Magen zieht sich zusammen. Der Film tut uns weh.

Aber alles, was der Film schildert, ist so unglaublich und bizarr, wie im Detail belegbar. Es war einmal im Osten. Und viele dieser ganzen jungen Männer waren in der Bundesrepublik zum Teil bis in die 1990er-Jahre an der Macht.

Dies ist nicht, wie manche sagen, einfach nur ein Film über das Wegschauen, sondern diejenigen, die hier wegschauen, sind die Täter. Sie schauen nicht weg vor dem Leiden anderer, sie schauen weg vor dem, was sie selbst angerichtet haben.

Das Grauen liegt nicht nur im Herzen der Finsternis, sondern in der Art und Weise, wie wir es aus unserer Gegenwart heraus betrachten.