Das Erdbeergärtchen von Auschwitz

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Es war einmal im Osten: Wie einen Film über das Unaussprechliche drehen? Glazers Meisterwerk "The Zone of Interest": deutsches Licht, Manufactum-Welt und das Vernichtungslager.

"Faschismus" ist aber ein Körperzustand, eine gefährliche Materie, die mit Macht und Gewalt darauf dringt, den Zustand der Welt den Zuständen des eigenen Körpers anzugleichen, zu unterwerfen.

Klaus Theweleit

Der abgründigste Auftritt in Sandra Hüllers Karriere beginnt mit einer Idylle: Ein Dutzend Menschen, Erwachsene und Kinder verbringen einen Sommersonntag am See.

Grün der Pflanzen, Blau des Wassers. Seelandschaft mit Ingebrigitt, Picknick und Badespaß, Dejeuner sur l'herbes. Vögel zwitschern blonde Zöpfe, deutsche Frisuren, alte Zeit; das Ganze spielt offensichtlich irgendwann in der Vergangenheit des 20. Jahrhunderts.

Erst als alle in zwei Autos wieder nach Hause fahren, bemerkt man die SS-Runen an den Nummernschildern ...

Hochgradig psychotischer, schizophrener Zustand

Öffnen wir also das "Fenster hin zum Unverständlichen" (Jonathan Littell). Jonathan Glazers "Zone of Interest" ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans des britischen Schriftstellers Martin Amis, der auf Deutsch: "Interessensgebiet" heißt, aber vor allem als Materialvorlage diente.

Der Film erzählt vom Privatleben der Hedwig Höß und ihres Mannes Rudolf Höß, der von 1940 bis Ende 1943 Kommandant von Auschwitz war.

Man sieht hier einer Familie mit fünf Kindern, mit Hund und drei Dienstboten in ihrem Alltagsleben zu, einem Alltag, der direkt neben dem Vernichtungslager, nur durch eine Betonmauer getrennt, nicht etwa ungestört, sondern in einem pseudo-idyllischen Nebeneinander von Grauen und Normalität stattfindet.

Ein solches Leben ist nur als ein hochgradig psychotischer, schizophrener Zustand erklärbar, in dem Menschen nicht etwa "nur" gegenüber dem Leiden der Anderen abgestumpft sind, sondern vor allem gegenüber dem eigenen Tun, den eigenen Mordtaten und sonstigen Brutalitäten.

Kinder planschen im Pool, Erwachsene laden zu Gartenpartys, während über die meterhohe Mauer immer wieder Hundegebell, Befehle, Schreie und Wehklagen zu hören sind, und vor allem der Höllenlärm des Dauerbetriebs der Verbrennungsöfen, deren Feuerschein hier auch die Nacht zum Tage macht.

Nichts ist normal in diesem "normalen" Leben, an dem Ort, den Hedwig Höß "Heimat" und "Paradies" nennt.

The Zone Of Interest (10 Bilder)

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"Im Interesse der Gemeinschaft zur Ausschmückung unseres gesamten Lagers"

Sie reden über "Ring-Einäscherungsöfen" der Firma "Topf und Söhne", über Karrierepläne und drohende Versetzungen, sagen "Der Osten ist unser Morgen!" Die Menschen reden über alles, nur über das Entscheidende nicht.

Menschen von einer erlesenen Hässlichkeit und grotesker Wichtigtuerei findet man in einem Gespräch darüber, wie der Kessel und die Zirkulation von Gasen und Asche funktionieren müssen, damit das Krematorium weder Tag noch Nacht stillsteht.

Es ist keine Zeit zu verlieren, wenn Zehntausende von Menschen mit der vom Oberkommando geforderten Geschwindigkeit vergast werden sollen, aber die Kamera betritt das Lager nie.

Christian Friedel spielt Rudolf Höß als seltsam weichen Massenmörder, der im pervers "ordentlichen" Stil eines deutschen Durchschnittsbeamten seine Arbeit macht, die SS-Kameraden in Briefen zum Schutz der Fliederbüsche im "Interesse der Gemeinschaft zur Ausschmückung unseres gesamten Lagers" auffordert, und nur ab und zu zur Erleichterung mal kotzen muss.

Auch gibt es gelegentliche sexuelle Dienste von Häftlingen, nach denen sich Höß im heimischen Kellerwerkraum mit viel Seife Hände und Seele schrubbt. Denn Sauberkeit ist dem Nazi-Mörder wichtig.

Dagegen ist Hüllers Hedwig Höß, "die Königin von Auschwitz", eine extrem ehrgeizige Spießer-Frau, die ihren Mann auf seinem Karriereweg antreibt und sich ansonsten so regelmäßig Pelzmäntel und Damenwäsche der Ermordeten liefern lässt, wie heute der Durchschnittsdeutsche die Amazon-Pakete.

Die Nähe zu uns

Überhaupt liegt das größte Grauen, das dieser Film entfaltet, in der leicht erkennbaren großen Nähe dieses deutschen Lebens am Rande des Mordbetriebs zu unserer eigenen Gegenwart. Die potenziellen Mörder sind unter uns.

Die alten Holzmöbel sind heute in der Mittelklasse von Berlin-Mitte wieder groß in Mode, die geblümten Kleider und Schürzen gibt es bei Manufactum, für das weiße Weiß der deutschen Hemden – "weißer gehts nicht!" – sorgt damals wie heute Persil.

Und in der Wohnung leuchtet dieses indirekte, pastellige, nicht zu helle Licht. Das deutsche Licht, das wir, wir Kinder der Sechziger-, Siebzigerjahre, Kinder des Deutschen Herbstes, das wir alle aus unserer Kindheit kennen.

Ein kaltes Deutschland, ein sauberes Deutschland, ein weißes Deutschland, das Deutschland der gestärkten Hemden, der gedrillten "wohlerzogenen" Kinder, ein Deutschland der Repression.

Noch die Häuser standen "in Reih' und Glied." Reihenhäuser, Putzfimmel, Kommandotöne im Privaten. "Ordnung ist das halbe Leben". Ordnung und Sauberkeit. Es sind die Abgründe der sogenannten "deutschen Tugenden" denen man hier begegnet.

Die deutschen Krieger

Das Leben hier ist alles Mögliche. Aber es ist auch einiges nicht. Nicht bürgerlich. Keine Souveränität. Wer die Kolonien verpasste, der muss im deutschen Wilden Westen plündern, Apatschenblut trinken, Pocahontas nehmen am Badesee.

Marmorklippen, Katechon. Souverän ist, wer ... am Saum des Nordischen Meeres. So fühlten sich diese deutschen Krieger.

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Dies ist auch die Geschichte einer Jugend. Das Nicht-Erzählte des Nationalsozialismus ist diese Jugend, ist die Alltäglichkeit: der Garten, die Dienstboten, die Damenunterwäsche, die Pelzmäntel. Die Jugend von Schleyer, von Ponto, von Herrhausen.

Voyeuristischer Blick: Big Brother in the Nazi House

Zugleich muss die Machart ein Thema sein: Glazer und Kameramann Łukasz Żal installierten bis zu zehn Kameras im und um das Haus herum und ließen sie gleichzeitig laufen, ohne dass ein Team am Set anwesend war.

Dieser Ansatz, den Glazer "Big Brother in the Nazi House" nannte, ermöglichte es den Schauspielern, während der Dreharbeiten ausgiebig zu improvisieren und zu experimentieren. Ein Leben der Schauspieler in Auschwitz. Was bewirkt das?

Der Blick der Zuschauer ist zwangsläufig voyeuristisch.

Erotik und Gewalt, Eros und Thanatos, der Tod ist ein Meister aus Deutschland, der Eros ist ein "Untermensch". Es wird alles angedeutet, nichts aber ausgesprochen: der Sex zwischen dem Ehepaar, der nicht stattfindet, der Gärtner, der Hedwigs Liebhaber war, die Jüdin Nora Mattaliano-Hodys die Rudolf sexuelle Dienstleistungen liefern musste, und von Höß schwanger wurde.

Wie dreht man einen Film über das Unaussprechliche?

Wie dreht man einen Film über das Unaussprechliche? Über das Einmalige? Über das Grauen? Über das Schweigen?

Die Menschen hier reden viel: "Das ist unser Lebensraum. Das Leben, das wir führen, ist unser Opfer." Italien habe gegen Spanien in Mailand 4 zu 0 gewonnen.

Bei den Nürnberger Prozessen sagte Rudolf Höss vor Gericht, dass "es keine drei Millionen Tote gab. Es waren nur zweieinhalb Millionen, der Rest ist an Hunger, Erschöpfung und Krankheiten gestorben".

Im Wasser fließen auch mal Leichenteile vorbei

Die Kinder baden im Fluss und benehmen sich diszipliniert. Im Wasser fließen auch mal Leichenteile vorbei. Knochen und Gebisse. Rudolf Höß wird hier, aber das weiß er noch nicht, sterben, gehenkt mit Blick auf sein Haus.

Von diesem Haus aus können sie jetzt noch den Tod riechen, das Krematorium, und die verzweifelten Schreie der im Lager gefangenen Menschen hören.

Man müsse die Erdbeeren gut waschen vor dem Essen, hat Hedwig Höß ihren Kindern gesagt, die Asche der Toten verdirbt den süßen Geschmack.

Der Film tut uns weh

Regisseur Jonathan Glazer zeigt die Deutschen so, wie sie sind, jedenfalls auch sind, wie Ausländer sie sofort (er)kennen, vor allem aber so, wie sie in deutschen Filmen nie gezeigt werden.

Zugleich bringt er noch eine mythologische Erzählebene in seinen Film hinein: Eine Art Märchen-Passage, gefilmt mit einer Wärmekamera und dadurch visuell verfremdet und wie ein Schwarzweiß-Negativ anmutend.

In der erzählt der Regisseur, eingeleitet durch eine Szene, in der Rudolf Höß seiner Tochter Ingebrigitt aus Grimms-Märchen vorliest, in mehreren Kapiteln eine Geschichte, die selbst von den Gebrüdern Grimm stammen könnte.

Aber auch sie ist eine wahre Geschichte, ausgerechnet eine der unbekanntesten: Sie geht zurück auf ein damals 14-jähriges Mädchen namens Alexandra, die sich – nichtjüdisch, damals in Auschwitz lebend – dem polnischen Widerstand AKA angeschlossen hatte. Sie half Lagerinsassen über Jahre, versorgte sie heimlich mit Essen.

In der Vorbereitung des Drehs erzählte die über 90-jährige Glazer ihre Geschichte, in der der Regisseur den lange gesuchten humanen Kontrapunkt zum unmenschlichen Höllenszenario der Vernichtung fand.

Glazer ist ein tadellos konsequenter Film gelungen. Er schüttelt uns, unser Magen zieht sich zusammen. Der Film tut uns weh.

Aber alles, was der Film schildert, ist so unglaublich und bizarr, wie im Detail belegbar. Es war einmal im Osten. Und viele dieser ganzen jungen Männer waren in der Bundesrepublik zum Teil bis in die 1990er-Jahre an der Macht.

Dies ist nicht, wie manche sagen, einfach nur ein Film über das Wegschauen, sondern diejenigen, die hier wegschauen, sind die Täter. Sie schauen nicht weg vor dem Leiden anderer, sie schauen weg vor dem, was sie selbst angerichtet haben.

Das Grauen liegt nicht nur im Herzen der Finsternis, sondern in der Art und Weise, wie wir es aus unserer Gegenwart heraus betrachten.