Das Feuer in Moria
Knapp 13.000 Insassen des Flüchtlingslagers auf Lesbos irren nun obdachlos über die Insel
Das in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch wütende Feuer im Lager Moria hat das Kentro Ypodochis kai Tautopoiisis Moria (Zentrum für die Erstaufnahme und Identifizierung - KYT) vollständig zerstört. Knapp 13.000 Insassen des Lagers irren nun obdachlos über die Insel.
Der Großteil von ihnen befindet sich knapp sechs Kilometer von der Inselhauptstadt Mytilene entfernt am Rand der zentralen Landstraße. Sie werden von massiven Polizeikräften daran gehindert, die Inselhauptstadt zu erreichen. Einige der Geflüchteten haben sich in die umliegenden Berge begeben.
Der Staatssender ERT kommentierte, dass es sich um die schlimmste humanitäre Katastrophe der aktuellen Flüchtlingskrise handeln würde. Die Feuerwehr geht von Brandstiftung aus, und berichtet von "eindeutigen Indizien". Das Lager brennt auch am Mittwoch um 12 Uhr Ortszeit weiter, wenngleich die Flammen unter Kontrolle sind. Die Container im Lager sind verbrannt.
Der Abschnitt des Lagers, der als Abschiebegefängnis diente, wurde evakuiert. Der Verbleib der 177 Insassen ist weiterhin unklar. Bis auf weiteres ist es Asylbewerbern, anerkannten Asylanten und Immigranten verboten, die Insel zu verlassen.
Katastrophenzustand verhängt
Die Bewohner der Insel sind in Angst, weil unter den Obdachlosen auch 35 bestätigte Covid-19-Fälle, sowie ihre direkten Kontakte sind. Die Regierung entsandte mit Militärflugzeugen bereits zusätzliche Einsatzbereitschaften der Polizei. Auf die Insel sind Innenminister Tassos Theodorikakos, Immigrationsminister Notis Mytarakis und der Vorsitzende des staatlichen Gesundheitsdienstes EODY, Panagiotis Arkoumaneas. Sie sollen die mehrfache Krisenlage vor Ort koordinieren.
Über die Insel wurde der Katastrophenzustand verhängt. Parallel zu den Ereignissen auf Lesbos läuft in Athen eine Polizeiaktion. Mittellos in die Obdachlosigkeit entlassene, anerkannte Asylanten, die auf den Plätzen Athens campieren, werden aufgelesen und ins geschlossene Lager Amygdaleza gebracht.
Es besteht ein direkter Zusammenhang zu den Ereignissen in Moria, zumal der Patient 0, der die Infektion ins Lager brachte, als anerkannter Asylant zunächst in die Hauptstadt reiste, dort obdachlos blieb und danach ins wilde Lager rund um das Lager Moria zurückkehrte.
Es wird befürchtet, dass sich noch mehr als die bislang bekannten 35 Lagerinsassen angesteckt haben. Zumal diese Zahl auf der Auswertung eines Teils der ersten 2.000 in der vergangenen Woche entnommenen Testproben beruht.
In den Diskussionen in sozialen Netzwerken des Landes gibt es Konflikte zwischen jenen, die das humanitäre Ausmaß der Katastrophe in den Vordergrund stellen und denjenigen, die ihre fremdenfeindliche Einstellung nun erst recht bestätigt sehen.
Es herrscht auch unter den Griechen eine explosive Stimmung. Angefacht wird diese Konfliktlage noch mehr durch die Verbreitung von Verschwörungstheorien. Bei einer morgendlichen Krisensitzung im Megaron Maximou, dem Amtssitz von Premierminister Kyriakos Mitsotakis, waren auch Geheimdienstvertreter anwesend.
Gegen 23 Uhr am Dienstagabend wurden im und rund ums Lager mehrere Brandherde registriert. Im Lager waren Unruhen ausgebrochen, als bekannt wurde, dass die 35 positiv getesteten Insassen und ihre engeren Kontakte unter Quarantäne gestellt werden sollten. Einige von ihnen weigerten sich und gerieten auch mit den übrigen Insassen, die sich ebenfalls vor einer Ansteckung fürchten, in Konflikt.
Zustände im Lager machten Pandemieschutz unmöglich
Die katastrophalen hygienischen Zustände im Lager machten jeglichen Pandemieschutz unmöglich. Es gab weder durchgehend fließendes Wasser und elektrischen Strom, noch standen genügend sanitäre Anlagen bereit. Bei der Essensausgabe gab es auch nach dem Bekanntwerden des ersten Covid-19-Falls im Lager keinerlei Organisation, um ein Gedränge zu verhindern.
Berichten zufolge wurden die Feuerwehrkräfte bei der Brandbekämpfung durch einen Teil der Lagerinsassen behindert. Die Personalstärke und technische Ausrüstung der vor Ort befindlichen Feuerwehrkräfte war wegen eines weiteren, großen Feuers bei Antissa und Vatoussa extrem eingeschränkt.
Starke Winde verschlimmerten die Brandsituation. Während der Nacht war keine luftgestützte Brandbekämpfung möglich.
Probleme auf der Insel: Tourismus-Geschäfte vor dem Ruin
Wegen des Anstiegs der Infektionszahlen auf der Insel endete gestern die Tourismussaison abrupt. England, die Niederlande, Wales und Schottland verhängen über Urlaubsrückkehrer von Lesbos eine vierzehntägige Quarantäne. Die im Tourismus beschäftigten Inselbewohner stehen vor dem Ruin.
Ohne genügend Arbeitstage werden sie aller Voraussicht nach ohne Krankenversicherung und Arbeitslosenunterstützung bleiben. Ausgerechnet am Katastrophentag sind die Gebäude der Regionalregierung wegen einer Desinfektionsaktion gesperrt.
Erste politische Reaktionen
Die oppositionelle KinAl verlangt den Rücktritt des Immigrationsministers, des Ministers für Bürgerschutz und der Verantwortlichen für den Katastrophenschutz. Sie sieht ihre Forderung durch das Narrativ der Regierung, dass hinter dem Brand eine geplante Provokation stecken würde, bestätigt. Konkret wirft die KinAl der Regierung vor, dass die Entwicklung und auch die Brandkatastrophe voraussehbar waren.
Die rechtspopulistische "Griechische Lösung" besteht auf eine Verschiffung der Geflüchteten auf isolierte Felseninseln.