Das Fließende und das Einzelne

Mythen des (Internet)Journalismus - Teil 3

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0115 C Mythen 3

Wenn man das Wesen des Internets und der digitalen Welt verstehen will, macht es Sinn, ähnlich wie bei der elektrischen Spannung eher von einem Zustand als von einem Prozess zu sprechen. In diesem Zustand sind zwei wesentliche Strukturmerkmale der analogen Welt aufgehoben: Die Periodizität und die Begrenzung. Das Periodische wird dabei in einen linearen Fluss verwandelt und zielt in die Unendlichkeit.

Konkret und bezogen auf Menschen und Medien: Gemeinsam ist beiden, dass sie etwas mit Endlichkeit zu tun haben. Der Artikel in der gedruckten Zeitung hört nach dem letzten Buchstaben auf und bildet damit so etwas wie eine Entität. Er ist ein abgeschlossenes Stück Welt das von der unendlichen Welt erzählt. Das kommt dem Menschen insofern entgegen, da er ähnlich wie der Artikel nur ein sehr begrenztes Schauspiel auf der Bühne des Lebens gibt und dann bekannterweise wieder Asche zu Asche und Staub zu Staub wird.

Die Begrenztheit ist damit eine Seinsbedingungen und ihre Aufhebung der Menschheitstraum. Diese Begrenztheit ist gepaart mit der Periodizität, die sich im menschlichen Leben etwa in den planetarischen Auswirkungen der physikalischen Bewegungsgesetze, also den Jahreszeiten äußert. Medial äußert sich die Periodizität etwa im Erscheinungsrhythmus der Tageszeitung, der wiederum an den Wechsel von Tag und Nacht gebunden ist, bei der Wochenzeitung an die kalendarische Woche etc.

Analoge Medien tragen somit die Struktur der analogen Welt mit in sich. Sie sind menschliche Artefakte und treten uns somit als Entitäten gegenüber, die sich von der sonstigen Totalität der - natürlichen - Umwelt abheben. Was sich daraus ergibt ist auch eine Struktur in der Zeit. So tritt uns die heutige Tageszeitung ebenso wie die vom 1. September 1939 oder vom 18. November 1918 als abgeschlossenes Ding gegenüber und ist an diesen Datumszahlen fest verankert. Die analoge Medienwelt ist damit nichts anderes als ein riesiges Gebäude, dessen Bausteine die einzelnen Medieneinheiten darstellen und dessen Architektur durch die Nutzer, die Rezipienten erschaffen wird.

Gegenüber diesem analogen begrenzten Gebäude erscheint die digitale Medienwelt und das Internet als unbegrenzter Raum. Als menschliches Artefakt gleicht es damit dem Universum und es ist verwunderlich, dass diese Art menschlicher Hybris oder Hoffart noch nicht von den Kanzeln der Priester herab verurteilt wurde. In dieser Sicht wäre das Digitale so eine Art Frankenstein in netzartiger respektive komitativer Gestalt.

In diesem Raum sind wie erwähnt die Strukturen der analogen Welt aufgelöst. Aus den Entitäten wird ein beständiger Fluss. Hier ist die Welt nie abgeschlossen sondern immer in Veränderung. Kaum ist bei "Spiegel online" der Terroranschlag gemeldet, geht es in Echtzeit weiter in der Story. Das Ziel ist die Parallelität von Medium und Welt. Weil aber so zwischen den Entitäten nichts mehr ist und der Nachrichtenfluss selbst zu einer Entität wird, bleibt nur noch der Affekt statt der Kontemplation. Und je näher sich die beiden Parallelen kommen, desto deckungsgleicher scheinen sie und Medienphilosophen wie Jean-François Lyotard hoben die Augenbrauen und murmelten mürrisch: "Simulacrum".

Anstelle der analogen Strukturen entwickelt der digitale Raum seine eigenen. Sie sind der Stoff von Internetmythen, in denen die Geschichte des neuen Journalismus, des Internetjournalismus erzählt wird. Und dann beginnen die Augen der jungen digitalen Sturmtruppen zu leuchten und sie erzählen dir von der großen neuen Erzählung, von der crossmedialen Reportage, in der der Rezipient wie Tarzan an seinen Lianen sich zwischen Text und Video, zwischen Grafik und O-Ton, zwischen Stimmungsbild und Expertenmeinung hin- und herschwingen kann. Die Lianen sind die Links und sie führen uns immer tiefer in die Story und das Wissen hinein, sagen die einen und die anderen warnen, dann stehst du plötzlich irgendwo im Wald. Die Links bilden die digitale Webstruktur und sie stehen als feine Verästelungen für die Totalität dieses Raumes: Weil alles bekanntlich mit allen zusammenhängt, kommt man am Ende da wieder raus, wo man begonnen hat.

Der digitale Raum als menschliches Artefakt ist in sich grenzenlos. Und ist freilich nur ein Mimikry des wirklichen Universums. Denn seine Grenzen nach außen sind nicht erkennbar, da wir diesen Raum selbst erschaffen haben. Wenn wir in das Universum hinaussehen, erkennen wir vielleicht Gott - oder auch das Nichts. Wenn wir in den digitalen Raum hineinsehen, sehen wir nur uns selbst.

1972 kam Andrei Tarkowskis Verfilmung von "Solaris" ins Kino, nach dem SF-Roman von Stanislaw Lem. Solaris ist ein Planet, der von einem Ozean, wohl ein lebendes Wesen, bedeckt ist. Auf der Raumstation, die den Planeten erforschen soll, tauchen plötzlich lebende Gestalten aus dem Gedächtnis und der Gefühlswelt der dort stationierten Forscher auf, gleichsam als ihre materialisierten Alpträume. Das Internet ist ähnlich: Wie aus der geöffneten Büchse der Pandora entsteigen diesem grenzenlosen Medium die Alpträume der Menschen: Von sexuellen Obsessionen bis hin zu den Bekennervideos von Terroristen. Der Blick in das Internet ist so der Blick auf die dunkle Seite des Menschen.