Das Hersh-Bennett-Syndrom der Medien: "Kill The Message!"

Seymour Hersh, 2004. Bild: Institute for Policy Studies / CC BY 2.0

Verdrehungen und Schmutzkampagnen: Damit werden Aussagen vom israelischen Ex-Premier Bennett und US-Starreporter Hersh zum Ukraine-Krieg attackiert. Wenn ARD-Faktenfinder die Fakten nicht finden können. Ein Kommentar.

Es ist ein Kunststück, auf offener Bühne die Realität ins Gegenteil zu verdrehen. Der Faktenfinder der ARD hat es, erneut muss man sagen, fertiggebracht, und ist damit nicht allein. Man titelt auf Tagesschau.de: "Westen hat Waffenstillstand nicht verhindert".

Es geht dabei um die Aussagen vom ehemaligen israelischen Premierminister Naftali Bennett, der in einem Interview über die Waffenstillstands-Verhandlungen im Ukraine-Krieg berichtete. Er hatte als Moderator zwischen den Parteien Anfang März letzten Jahres vermittelt. Im Interview sagte er nun explizit, dass die westlichen Verbündeten die Initiative blockiert haben.

Pascal Siggelkow, Redakteur des ARD-Faktenfinder, spricht jedoch in seinem Faktencheck von "Gerüchten", dass die USA und Großbritannien die Verhandlungen torpediert hätten. Was erstaunlich ist. Denn auf die Frage, ob die westlichen Verbündeten die Initiative letztlich blockiert hätten, antwortete Bennett klipp und klar: "Im Grunde genommen, ja. Sie haben es blockiert, und ich dachte, sie hätten Unrecht."

Und Bennett legte nach: "Ich behaupte, dass es eine gute Chance auf einen Waffenstillstand gab, wenn sie ihn nicht verhindert hätten." Ob die Entscheidung des Westens, den Verhandlungsprozess zu beenden, langfristig richtig sei, könne er nicht beurteilen.

Der ARD-Faktenfinder scheint auch ein anderes Faktum, das offen zutage liegt, nicht finden zu können: Die Einschätzung Bennetts wird von Aussagen anderer Quellen bestätigt, über die sich Siggelkow aber ausschweigt.

Sowohl ukrainische Offizielle aus dem Umkreis von Präsident Wolodymyr Selenskyj als auch US-Beamte hatten schon früher auf die Blockade insbesondere Großbritanniens und der USA hingewiesen. Die Einschätzungen, dass die Verhandlungen von Nato-Verbündeten verhindert wurden, tätigten die Beamten gegenüber dem US-Fachmagazin Foreign Affairs und der westlich orientierten Nachrichtenseite Ukrainska Pravda.

Aber das ist nicht die einzige grobe Fehldarstellung. Der Faktenfinder verdreht auch noch eine andere Realität. Siggelkow behauptet nämlich, dass die These, der Westen habe laut Bennett blockiert, nicht nur im "Netz" zirkuliere, sondern "weltweit" von "Medien und Politikern" verbreitet worden sei. "Politiker wie Sahra Wagenknecht" hätten schon zuvor die "falsche Behauptung" aufgestellt, der Westen hätte sein Veto eingelegt.

Das mit Wagenknecht stimmt. Der Rest ist reine Fiktion. Tatsächlich haben die Leitmedien und politisch Verantwortlichen im Westen komplett dazu geschwiegen. Die Presse konnte zwar nicht ganz an der explosiven Nachricht des Bennett-Interviews vorbeigehen, hat dabei aber fast ausschließlich auf Irrelevantes abgehoben. Die Headlines lauteten: "Putin versprach, Selenskyj nicht zu töten".

Über die Top-News der westlichen Verhandlungsblockade, die Bennett auf Nachfrage ausdrücklich bestätigte, wurde stillschweigend hinweggegangen. Wie auch über dieselben Aussagen von ukrainischen und US-Offiziellen zuvor.

Die Faktenfinder-Schlagzeile bei Tagesschau.de "Westen hat Waffenstillstand nicht verhindert" verdreht also eine Realität, über die die Medien eisern schwiegen, einschließlich von ARD und Tagesschau, und sie damit zu einer Nicht-Realität machten. Willkommen bei Orwell.

Da die meinungsbildenden Mainstreammedien gerade gut im Schwung waren, eine politische, für die eigenen Regierung und deren Verbündete unangenehme Tatsache in bester Krisen-PR-Manier abzuwürgen, machten sie bei der kurz darauffolgenden Story gleich weiter.

Der investigative US-Journalist und Pulitzer-Preisträger, der seit über 50 Jahren auch für die New York Times und den New Yorker Aufdeckungen am Fließband produzierte, von My Lai bis Abu Ghraib, veröffentlichte einen neuen Scoop auf seinem Substack-Account. Er wirft darin den USA vor – wobei er sich auf die Schilderungen einer anonymen Quelle mit operativem Wissen stützt – die Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee gesprengt zu haben. Jedes Medium wäre froh, solch einen Knüller bringen zu können.

Doch die mediale Resonanz darauf gleicht einem Komplettausfall. Einige kurze Meldungen bei Bloomberg, Agence France Press, The Times (UK) und der New York Post. Die Washington Times brachte darüber einen recht positiven Artikel. Auch Newsweek berichtete.

Die großen und einflussreichen US-Medien jedoch wie Washington Post, New York Times, Wall Street Journal, aber auch die BBC und der Guardian schwiegen und schweigen bis heute über den investigativen Bericht.

Auch in Deutschland war über die explosive Hersh-Story kaum etwas zu hören. Und wenn, dann ging es gegen die Reputation von Hersh, während man das, was herausgefunden wurde und im Artikel detailreich geschildert wird, als unglaubwürdige Behauptungen diskreditierte. Der ARD-Faktenfinder und Siggelkow mittendrin.

Leyendecker: "Hersh hat wohl Altersprobleme"

Im Deutschlandfunk meinte der Journalist Hans Leyendecker: "Hersh hat wohl Altersprobleme". Das Handelsblatt kommentiert: "Hersh konstruiert eine Sabotage-Verschwörung". Die Süddeutsche Zeitung nimmt den preisgekrönten Rechercheur ins Visier: "Einst Meister der Fakten, nun eher der Fantasien" und "Die Schattenseiten eines Star-Reporters".

Das Ganze wird garniert mit dem Hinweis darauf, dass Putin-Apologeten angesichts der Hersh-Fantasien frohlocken.

Auf die Ad-Hominem-Attacken muss man nicht weiter eingehen. Sie sind inhaltslose Schmutzkampagnen, die denjenigen zu diskreditieren versuchen, der eine nicht ins Bild passende Botschaft überbringt, die den Leitmedien offensichtlich nicht gefällt. Man braucht nur einen Blick auf das Lebenswerk von Seymour Hersh zu werfen, um sie als das zu sehen, was sie sind: abstruse Ablenkungsmanöver.

Hershs Enthüllungen zu Vietnam, zum Irak-Krieg, dem CIA-Spionageprogramm "Operation Chaos" und vielem mehr, sind nicht nur Leuchttürme unabhängiger und mutiger Berichterstattung, sondern stellten sich als wahr heraus. Die New York Times nennt ihn deswegen den "Teller of Truth", den "Erzähler der Wahrheit". Doch die, die seine jüngsten Enthüllungen als Fantasien brandmarken wollen, werfen ihm Verschwörungstheorien, schlechten Journalismus und fehlende Quellenkritik vor.

Sicherlich, im Artikel wird auf nur eine Quelle verwiesen, die Hersh aus Quellenschutz nicht offenlegen kann. Das ist jedoch übliche Praxis. Seltsamerweise haben die großen Medien kein Problem damit, wenn die Botschaft ins politische Bild passt und die einzige Quelle die eigene Regierung oder mächtige Interessengruppen sind.

Die medialen Darstellungen von US- und Nato-Kriegshandlungen sind voll von Ein-Quellen-Berichten, wobei die Informationen vom Aggressor selbst stammen. Gezielte Leaks von Regierungen und Geheimdiensten werden ständig als "Tatsachen" verkauft. Siehe die New-York-Times-Story über Massenvernichtungswaffen im Irak, die sich nachher als komplette Fabrikation herausstellte. Der Times-Aufmacher war mitverantwortlich dafür, einen verheerenden Angriffskrieg zu legitimieren.

Sicherlich ist es legitim, Hershs Geschichte abzuklopfen auf mögliche Unklarheiten und Widersprüche. Aber das erklärt wohl kaum das massenmediale Schweigen über einen 5300 Wörter umfassenden Artikel, der ansonsten einen journalistischen Berichterstattungs-Tsunami ausgelöst hätte.

Stellen Sie sich zum Beispiel einmal vor, ein Journalist hätte mit vergleichbarer Reputation und Beweislast in einem Artikel Russland vorgeworfen, den Sabotageakt ausgeführt zu haben. Was wäre dann in westlichen Medien los gewesen?

Dabei gehen alle Indizien in die entgegengesetzte Richtung. Jedem, der sich den Vorfall unvoreingenommen betrachtet, konnte von Anfang an erkennen, dass allein die USA über Motiv und Fähigkeiten verfügen, die Explosion durchgeführt zu haben.

Die Statements von US-Präsident Joe Biden, Unterstaatssekretärin der US-Regierung Victoria Nuland ("Fuck the EU") und Co., vor und nach der Sprengung, haben genau das unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Ganz abgesehen davon, dass Russland wohl kaum seine eigene, milliardenschwere Energieinfrastruktur zerstören würde, über die es seine Gasgeschäfte mit Europa abwickelt.

Man kann die mediale Reaktion auf Hersh – wie auch auf Bennett – durchaus als Übersprungshandlung interpretieren, als Verlegenheits- und Beruhigungsgeste von gestressten Medien, die sich im Informationskontrollverlust befinden.

Statt journalistisch auf die Aufdeckungen eines Kollegen zu reagieren, also mit weiteren Recherchen und Aufforderungen an die Regierungen, den Vorwürfen auf den Grund zu gehen, kratzt man anti-journalistisch am Image desjenigen, der die Botschaft überbringt. Keine neue Technik, aber immer wieder sehr effektiv.

"Hershs Bericht schließt den Fall nicht ab, wer die Nord Stream-Pipelines angegriffen hat. Aber er unterstreicht die Notwendigkeit einer ernsthaften Untersuchung der Geschehnisse durch den Kongress", sagt George Beebe, ehemaliger CIA-Veteran und Direktor für Strategie am Quincy Institute. Warum hört man solche Stimmen, solche Einschätzungen nicht von unseren Leitmedien?

Wenn Hershs Quelle recht haben sollte und die USA hinter dem Sabotageakt stecken, der letztlich einen Angriff auf eine für Russland wichtige Infrastruktur im Hoheitsgebiet von Nato-Verbündeten darstellt – während der Angriff ohne Einbeziehung des US-Kongresses geplant und ausgeführt wurde –, dann wirft das Fragen auf – auch in Hinsicht darauf, ob Russland einen Vergeltungsschlag gegen US-amerikanische Infrastruktur verüben könnte.

Währenddessen macht der mediale Hersh-Bennett-Effekt erneut deutlich, wie weit Elite-Medien in den USA und in verbündeten Staaten dem offiziellen Narrativ in Bezug auf Russland und den Ukraine-Krieg ohne nennenswerte Kritik folgen. Ein toxisches, einseitiges Narrativ. Denn es ist keineswegs so, dass der Westen unbefleckt ist, wenn es um die Eskalation des Kriegsgeschehens geht. Wir haben auf Telepolis immer wieder darüber berichtet.

Sich dem zu stellen ist nicht Putin-Aggressionsapologie, sondern schlicht Realismus, dem insbesondere Journalisten verpflichtet sein sollten.