Das Leben nach dem Einschlag der fiskalischen Neutronenbombe
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Interview mit Katja Kullmann über Armut und Gentrifizierung im neoliberalisierten Detroit
Wie vielleicht keine andere Stadt steht Detroit für den Aufstieg und Fall der Vereinigten Staaten: Um 1900 Geburtstätte der automatisierten Massenproduktion von Autos in der Ära des Fordismus, in den 60er Jahren nicht nur Heimat des legendären Motown-Labels und ungezählter anderer Soul-Künstler, sondern auch von Iggy Pop, dann Zentrum der sogenannten Rassenunruhen, die das ganze Land erschütterten und seit den Siebziger Jahren Hort der De-Industrialisierung, neoliberale Spielwiese und Opfer mehrerer Privatisierungsexzesse. Die Stadt hat eine signifikante Armuts- und Kriminalitätsrate und trotzdem geben die Leute dort nicht auf. Mitunter scheint sogar etwas auf, was einst nicht nur Philosophen Utopie zu nennen pflegten. Ein Gespräch mit der Schriftstellerin und Journalistin Katja Kullmann, die ein kleines reizendes Buch über die Stadt geschrieben hat.
Frau Kullmann, Sie zitieren in Ihrem Buch, Detroit sei "die nördlichst gelegene Dritte-Welt-Siedlung" mit extrem hoher Arbeitslosigkeit, Drogenmissbrauchsrate und Mord-Quote. Gleichzeitig schreiben Sie, die Stadt habe sich als "einer der menschlichsten Orte erwiesen" die Sie bisher kennen gelernt haben. Wie geht das zusammen?
Katja Kullmann: Das "Dritte-Welt"-Schlagwort nehmen die Anwohner immer wieder in den Mund, und das erzählt schon sehr viel über die Mentalität der Detroiter: über eine ganz prosaische Lebenseinstellung, einen staubigen, unbestechlichen Realismus - der irgendwo zwischen Fatalismus, Selbstironie und Überlebenswille schwankt. Mit dem "Dritte Welt"-Vergleich ist vor allem der brutale Unterschied zwischen Ober- und Unterschicht gemeint. Vielleicht gibt es in der westlichen, nördlichen Welt derzeit keinen anderen Ort, an dem man den Klassenunterschied so gut besichtigen kann. Arm und Reich leben dort in je eigenen Ghettos. Und es liegen oft nur 20 Minuten Fahrtzeit zwischen diesen beiden ganz unterschiedlichen Welten.
Innerhalb der verarmten Stadtgrenzen, der berühmten "8 mile"-Zone, die auch der Rapper Eminem schon beschrieben hat, sind die Ärmsten der Armen hängen geblieben. Dort wohnen heute hauptsächlich schwarze Familien, von denen viele nur noch mit Lebensmittelmarken über die Runden kommen. Drumherum schließt sich ein Speckgürtel an, das superreiche County Oakland. Da draußen sieht man fast nur weiße Menschen, da residieren traditionsreiche Clans in ihren fußbodenbeheizten Villen, auf riesigen gepflegten Grundstücken. Man merkt sehr schnell: Aha, Armut und Reichtum sind hier ganz stark an die Hautfarbe gekoppelt. In Detroit spricht man auch von der Chocolate City und den Vanilla Suburbs. Es wirkt wie ein informelles Apartheidssystem, gleich auf den ersten Blick. Diese Art von Rassentrennung hat mich anfangs überwältigt.
Eine alte Wohlstandstheorie scheint sich hier zu bewahrheiten: Armut oder Reichtum werden sehr oft einfach weitervererbt. Da kann man sich anstrengen, wie man will: Wenn man in dritter Generation in einem heruntergekommenen Viertel aufwächst, keine gescheite Schule in der Nähe hat, rings herum Trostlosigkeit, Gewalt, miese Ernährung, dann schafft man es da kaum aus eigener Kraft heraus. Noch dazu, wenn die eigene Hautfarbe sofort auf den Faktor "hohe Armuts-Wahrscheinlichkeit" verweist.
Ich habe mit einigen Superreichen gesprochen, etwa mit einem lokalen Megamall-Investor und einem Provinzpolitiker der Tea-Party. Aber viel berührender und letztlich auch erhellender waren die Gespräche mit den Leuten, die es in der verwüsteten Stadt irgendwie aushalten müssen. Von diesen Menschen habe ich gelernt, dass ein paar ganz altmodische Werte wie etwa Stolz und Solidarität unabdingbar sind, um in einer so scharfkantigen Gegenwart zu überleben. Beeindruckt hat mich vor allem das Teilen und Tauschen. Die Menschen leihen sich gegenseitig ihre Laptops, betreiben privates Car-Sharing, und wenn sie irgendwie können, helfen sie auch noch in Obdachlosenküchen, unterstützen also diejenigen, denen es noch schlechter geht.
"Mythos Detroit"
Haben Sie in Detroit auch gefährliche Situationen erlebt? Wie rettet man sich daraus?
Katja Kullmann: Aus meiner Sicht nein - keinen einzigen "gefährlichen" Moment gab es, keine Sekunde fühlte ich mich "bedroht". Aber ehrlich gesagt, konnten das nicht mal die Detroiter glauben. Ich kannte all die Warnungen, etwa aus dem Internet. Immer wieder heißt es: "Als weiße Frau bist Du automatisch eine Zielscheibe. Gehe nie allein zu Fuß, bleibe so weit möglich im Auto und nach Anbruch der Dunkelheit am besten im Hotel." Naja, ich habe dann natürlich das Gegenteil getan. Denn darum ging es mir ja: Diesen Mythos Detroit zu untersuchen, ihn kennen zu lernen, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Ein Teil des Mythos ist eben auch der Faktor "Moloch" - und eine Art umgekehrter Rassismus, nach dem Motto: Mit heller Hautfarbe findest Du hier garantiert keine Freunde.
Tatsächlich weiß ich von einer befreundeten Malerin, dass sie in Detroit sogar mal in eine Schießerei geraten ist. Und die meisten Einheimischen haben riesige Wegfahrsperren in ihren Autos, ein Gestänge, das sie beim Parken an die Lenkräder bauen. Aber wenn man sich die Kriminalitäts-Statistiken genauer ansieht, versteht man: Die meiste Gewalt, die meisten Mordopfer gibt es unter den angestammten Anwohnern mit dunklerer Haut. Entweder kommt es bei Bandenkriegen zu Toten oder, auch das ist traurige Realität, jemand kommt bei einem Polizeieinsatz ums Leben. Selten werden diese Fälle richtig aufgeklärt. Erst kürzlich wurde ja der Fall des 17 Jahre alten Trayvon Martin bekannt, des schwarzen Schuljungen, der einen Kapuzenpulli trug und von einem selbst ernannten hellhäutigen "Nachbarschaftsschützer" in Florida erschossen wurde, allein des Aussehens wegen. Das hätte genauso gut in Detroit passieren können.
Ich habe mit Junkies, Kampfhundebesitzern, Obdachlosen gesprochen, habe in Liquor Stores herumgehangen und bin tagelang durch angeblich gefährliche Viertel gestromert. Oft waren die Leute neugierig und haben mich gefragt: "Was suchst Du denn hier?" Ich habe immer gesagt: "Okay, ich bin eine white middle class bitch aus Europa, ich kann es nicht leugnen. Ich will wissen, was hier los ist. Wie lebst Du?" Ich denke, egal wo, man sollte es immer so machen: mit erhobenem Haupt herumgehen, freundlich grüßen und wenn jemand einen schräg anmacht, einfach fragen: "Was willst Du? Ich heiße Katja, und Du?"
Querverweis zum Modell "Berlin"
Detroit hat in den letzten Jahrzehnten einen Exodus hinnehmen müssen, der seinesgleichen sucht. Dennoch ziehen in letzter Zeit auch wieder Leute zu. Wer vor allem ist das?
Katja Kullmann: Zunächst einmal: Es sind sehr wenige Menschen, die derzeit freiwillig in das Detroiter Stadtzentrum ziehen, und dieser Zuzug ist auch noch ein sehr frischer Prozess, er hat erst vor drei oder vier Jahren zaghaft begonnen. Es sind meist junge Menschen, oft mit einer sehr guten Ausbildung, sozusagen der abenteuerlustigere Teil der "kreativen Klasse", etliche Künstler, Designer, Softwarebastler, die sich einen inspirativen Zauber von der Ruinen-Stadt versprechen. Aber der Zuzug hat auch ganz praktische Gründe. Mehrere junge "Kreative" haben mir gesagt, dass sie sich an anderen Orten nie solche Ateliers, Büros und Wohnungen leisten könnten. Brooklyn oder Chicago sind für viele junge Gründer inzwischen unbezahlbar.
Oft kommt in Detroit da ein Querverweis zum Modell "Berlin" ins Spiel. Es gibt sogar Investoren und Stadtplaner, die mittlerweile mit der Formel werben: "Detroit hat das Zeug zum Berlin der USA zu werden". Sie meinen damit das Nachwende-Berlin, in dem ja auch eine gewisse tabula-rasa-Situation herrschte. Naja, die Stadtoberen hoffen auf eine Art Imagegewinn - und setzen darauf, dass der Slogan von der wilden "creative city" verfängt und sich bald auch potentere Steuerzahler und Investoren wieder ansiedeln.
Es gibt sogar zwei größere klassische Dienstleistungs-Unternehmen, die sich jetzt ganz gezielt an diese neuen Gerüchte anhängen: die Softwarefirma Compuware und die Kreditfirma Quickenloans. In einer groß angelegten Kampagne versuchen sie derzeit - wortwörtlich - "2.000 gut ausgebildete Menschen unter 28" nach Detroit zu locken, mit günstigen, sanierten Apartments für diese High Potentials und vor allem mit allerlei Steuervergünstigungen. Auch die Firmen selbst müssen zunächst kaum Steuern zahlen. Ein neues Gesetz, das der Bundesstaat Michigan erlassen hat, befreit frische Investoren bis zu 15 Jahre lang praktisch von allen kommunalen Abgaben. Die Investoren jubeln öffentlich in Interviews über einen "Skyscraper-Ausverkauf in Detroit", wortwörtlich, und rechnen schon die Wertsteigerungen hoch.
Der Gouverneur von Michigan, der Republikaner Rick Snyder, der die neuen Investoren-Gesetze ermöglich hat, gilt als radikaler Neoliberaler. Als er im Wahlkampf 2010/11 Einsparungen von rund zwei Milliarden (auf Amerikanisch: Billionen) Dollar im öffentlichen Sektor ankündigte, bezeichnete er das draußen, in seinem wohlhabenden Landkreis, als "geteilte Opfer" (shared sacrifice) für alle. Darüber hat man in Detroit natürlich nur gelacht, auf bittere, wissende, verzweifelte Art.
"Miese Stundenlöhne"
Findet in Detroit ein sozialer Prozess statt, der in etwa mit der "Gentrifikation" zu vergleichen ist?
Katja Kullmann: Detroit leidet seit Jahrzehnten unter dem gegenteiligen Problem: einer massiven De-Gentrifizierung. Jeder, der es sich leisten kann, zieht weg. Daher freuen sich alle, wenn irgendwo in der Stadt wenigstens mal ein Starbucks-Laden aufmacht. Selbst diejenigen, die sich niemals einen Kaffee dort leisten könnten, weil der ungefähr so viel kostet wie ein XXL-Familien-Spar-Menü bei McDonald’s, finden das gut. Die Hoffnung, die dahinter steht: Je mehr wohlhabende Menschen sich ansiedeln, desto mehr Service-, Fahr-, Wach- und Pflegedienste müssen erledigt werden - desto mehr Jobs fallen also wieder an, auch für diejenigen, die nicht zur Elite gehören.
Wenn man sich diese neuen Dienstleistungs-Jobs etwas genauer ansieht, muss man aber feststellen: Es sind sehr oft Tip-Jobs, ganz miese Stundenlöhne zwischen einem und acht Dollar in der Stunde und meist befristet. Fast alle Menschen, die ich in Detroit traf und die aus verarmten Facharbeiter-Familien stammen und darum ringen, ihren Lebensunterhalt weiterhin selbst zu verdienen, haben zwei oder drei solcher üblen Jobs gleichzeitig, in Call Centern, als Putzfrauen, an Imbisstheken. Sie kommen am Tag vielleicht auf umgerechnet 30 oder 40 Euro, mit zehn, zwölf, vierzehn Stunden Arbeit. So viel geben diejenigen, die vor den gut bewachten Luxusrestaurants ihre Autoschlüssel in die Hand eines Car Boys drücken, gerade mal für die Vorspeisen des Abends aus.
Rund um die neu bezogenen Business-Gebäude werden einige Ecken nun kernsaniert für die neue Klientel. In den gefragtesten, als "hip" gehypten Vierteln werden Wohnungen sogar schon knapp - während in anderen Teilen insgesamt an die 80.000 Wohnhäuser leer stehen. Erste Anzeichen einer "Verdrängung" gibt es tatsächlich, es ist, als ob die Bewohner an manchen Stellen wie von Geisterhand ausgetauscht werden. Aber die Stadt ist einfach riesig, der Wohnraummangel ist weniger das Problem. Es ist vielmehr die soziale Segregation, die nur schwer zu überwinden ist, auch wenn jetzt "2.000 neue Bürger" in die Stadt kommen sollen.
"Broken Windows-Theorie"
In Vierteln wie dem Prenzlauer Berg in Berlin oder dem Münchner Glockenbachviertel kann man beobachten, was Geld alles anrichten kann. Warum ist dies Ihrer Meinung nach in Detroit nicht so?
Katja Kullmann: Nun, vor allem liegt das daran, dass zur Zeit kaum jemand überhaupt Geld in Detroit hineinsteckt. Aber im Ernst: Es gibt zwei sich ergänzende Theorien in diesem Zusammenhang, die Broken Windows-Theorie und den Trickle Down-Effekt. Die Broken Windows-Theorie besagt: Wenn der soziale Abstieg in einem Viertel erst einmal sichtbar wird, wenn die zerschlagenen Fensterscheiben sich häufen, führt das zu einer Kettenreaktion, die ganze Gegend geht rapide den Bach hinunter. Der Trickle Down-Effekt besagt, quasi als Gegentheorie, dass jeder Wohlstand, wenn er nur sichtbar genug ist, automatisch positiv auf die Umgebung abfärbt, dass letztlich "alle" etwas davon haben und alle sich dann auch irgendwie automatisch "nach oben" orientieren. Es ist ein nie wirklich eingelöstes Versprechen, an das sich viele aber immer noch klammern.
Fest steht: die paar funkelnden Casino-Hotels, die paar Galerien und Software-Inkubatoren, die man jetzt in Detroit in speziellen Vierteln hoch zieht, werden nichts Entscheidendes an der Lebenslage der Masse der angestammten Anwohner ändern. Das gilt im Übrigen ja auch für das viel zitierte Vorbild "Berlin": Trotz aller Kultur-Tempel und Design-Hotels ist die Sozialhilferate dort noch immer erschreckend hoch. Je mehr wir von so genannter "Kreativwirtschaft" reden, desto weiter geht die sprichwörtliche Schere zwischen Arm und Reich auseinander. Das läuft parallel, das ist ja schon lange kein Geheimnis mehr.
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