Das Leben nach dem Einschlag der fiskalischen Neutronenbombe

Seite 3: "Das Fahrrad wird in Detroit gerade zu einem politischen Symbol"

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Was tun in Detroit die Leute selber gegen die Armut?

Katja Kullmann: Der Drang zu gegenseitiger Fürsorge ist groß, und das Ausmaß an freiwilliger ehrenamtlicher Arbeit überwältigend. Hunderte, vielleicht Tausende selbst verwalteter Hilfsorganisationen, Spenden-Projekte, Nachbarschafts-Initiativen gibt es. Halbwegs bekannt ist inzwischen das Urban Farming, bei dem unterschiedliche Gruppen anfangen, auf Brachflächen Obst und Gemüse anzubauen und profitfrei untereinander zu tauschen. Andere gründen Fahrradworkshops, in denen arbeitslos gewordene Mechaniker ihre Kenntnisse weitergeben. "Wir entwickeln jetzt unser eigenes Transportsystem" hat ein Bike-Workshop-Teilnehmer mir gesagt, voller Stolz. Das Fahrrad wird in Detroit gerade zu einem annähernd politischen Symbol, kann man sagen. Ich habe auch eine sehr beeindruckende junge Frau aus einem der reichen Vororte kennen gelernt. Sie ist wirklich wohlhabend, mit Ehemann, Villa, zwei Kindern - aber sie verbringt fünf Tage der Woche downtown, bei den Ärmsten. Sie sammelt abgelegte Möbel, Lampen undsoweiter bei ihren reichen Freunden draußen und bringt die Sachen runter in die Stadt, zu den Menschen, die die Sachen dringend benötigen.

Auf staatliche Hilfen zählt kaum noch jemand. Und so ist eine Art "Parallelgesellschaft" in Detroit entstanden. Die Menschen nehmen die Idee des "Liberalismus" nun zwangsweise ziemlich wörtlich - sie nehmen die Dinge selber in die Hand, so gut sie eben können. Interessant ist, wie dieses uramerikanische Prinzip in Detroit aber ganz oft sehr "links" wirkt, aus europäischer Sicht. Da werden gerade reihenweise Kollektive gegründet, an das alte Wirtschaftssystem glaubt kaum noch jemand, auch wenn man in den USA mit dem Begriff "Anti-Kapitalismus" instinktiv vorsichtig ist. Das Streben nach Autonomie, nach einem selbstbestimmten würdevollen Leben, ist in Detroit jedenfalls meist solidarisch gepolt. Alle für einen, einer für alle. Eine sehr sympathische, erfrischende, inspirierende Wirkung hatte das auf mich.

Haben Sie in Detroit auch Marxisten und Kommunisten getroffen? Was sagen die zu der Situation?

Katja Kullmann: Es gibt in Midtown Detroit ein kleines Redaktionsbüro der Revolutionary Press, einer der wenigen mehr oder minder "sozialistischen" Zeitungen in den USA. Aber die Räume waren immer verschlossen, wenn ich davor stand, Kontaktversuche via Internet schlugen fehl, und eine öffentliche Redaktionssitzung, die offenbar einmal im Monat stattfindet und die an der Tür angekündigt war, habe ich dann leider verpasst, weil ich gerade in einem anderen Teil der Stadt fest hing. Die meisten Menschen, die ich nach den "Revolutionären" gefragt habe, winkten ab oder hatten von der genannten Zeitung noch nie gehört. Auch der Begriff "Sozialdemokratie" hat einen zweifelhaften Geruch für viele Detroiter - einfach weil sie insgesamt dem Apparat "Staat" nicht mehr trauen. Ich bedauere es, mich nicht ganz gezielt mit ein paar Gewerkschaftern unterhalten zu haben. Aber dafür war die Zeit zu kurz. Ich war nur einen Monat in Detroit, mehr war nicht drin, ich habe die Reise selbst finanziert, der Buchvertrag kam erst später. Und in dieser kurzen Zeit habe ich mich vor allem auf das konzentriert, was sich gerade als angeblich sensationelle "Neuigkeit" in der Stadt so alles tut, eben auch auf diese neue "Kreativklientel", die Detroit nun irgendwie aus dem Loch heben soll.

"Die Kultur-Dichte ist extrem niedrig"

Wir haben der Motorcity unter anderem den Sound of Young America, Iggy Pop und Detroit-Techno zu verdanken. Was ist heutzutage kulturell los in dieser Stadt?

Katja Kullmann: Ehrlich gesagt: wenig bis nichts. Detroit ist jedenfalls nicht mit einer europäischen Metropole zu vergleichen. Zwar wird derzeit viel geredet über das angeblich neu erblühende Kultur-Wesen, aber man muss schon sehr danach suchen. Es gibt ein altes, schön wieder hergerichtetes 20er-Jahre-Kino und drei große Sportarenen in der Stadt. Ein kleines Programmkino, das vor ein paar Jahren von zwei Studenten in einer früheren Grundschule eingerichtet wurde, einige Musikclubs, zwei renommierte Kunst-Museen und eine angesehene Design-Fakultät. Das ist im Grunde alles - auf einer Fläche, auf der die Bewohner von San Francisco, Boston und Manhatten alle zusammen ganz bequem Platz fänden. Die "Kultur-Dichte" ist also extrem niedrig. Noch klarer wird der Vergleich mit dem Coffee-to-go-Index: Im ganzen Detroit Stadtgebiet gibt es drei Filialen der schon erwähnten Starbucks-Kette - in Düsseldorf sind es acht - in Manhattan über 50. Und in vier Wochen bin ich an einem einzigen Buchladen vorbeigekommen. Der gehörte zu einem der erwähnten Museen.

Bild: © Katja Kullmann

Aber es stimmt auch, dass in leer stehenden Industrieräumen nun verstärkt Künstler an ihren Sachen herumbauen. Und gelegentlich schwappt die Kunst als "Street Art zum Anfassen" dann auch in die Nachbarschaft über. Das berühmteste Beispiel ist das Heidelberg Project, das der Künstler Tyree Guyton in den 80er Jahren in seiner abgerissenen Wohngegenden rund um die Heidelberg Street im Osten Detroits losgetreten hat. Die Bewohner haben angefangen, ihre baufälligen Häuser bunt anzustreichen und haben Installationen auf Brachflächen errichtet, Stofftierskulpturen, Autoreifen, aus denen Blumen wachsen, undsoweiter. Zumindest jenes Projekt hat einen politischen und sozialen Kern.

Auch die Musikszene ist in Detroit sehr lebendig, wie eh und je. Vor allem das Soul-Label Motown, das in den frühen 60er Jahren der Welt ja einen ganz neuen Sound schenkte, zieht noch immer ein paar Fans an, und es ermutigt auch zahlreiche musikalische Epigonen. Unglaublich viele Menschen in Detroit können unglaublich gut singen, das fällt wirklich auf. Und es gibt immer noch eine bemerkenswerte HipHop- wie auch eine House- und Techno-Szene - die sich aber gut versteckt. "In-Clubs" oder verlässliche "Szene-Treffpunkte" sucht man jedenfalls vergeblich. Das meiste findet in verschworener Mund-zu-Mund-Propaganda statt, mal in einer alten Werkshalle, mal in einem leer stehenden Krankenhaus. Man muss sich gezielt umhören, um davon etwas mitzubekommen.

"Motown ist vor allem ein erfolgreiches Geschäftsmodell""

Ich hoffe Sie als Soulfan darf ich das fragen: Waren Sie im Motown-Museum und welche Platten haben Sie sich in Detroit gekauft?

Katja Kullmann: Ja, das Motown-Museum habe ich gleich am zweiten Tag besucht und habe sehr über seine Bescheidenheit gestaunt. Es befindet sich im ursprünglichen Wohnhaus des Label-Gründers Berry Gordy, einem dieser kleinen Holzhäuschen mit Veranda. Gordy hat dort in den späten 50ern als junger Mann mit 8.000 Dollar, die er sich von der Verwandtschaft zusammengeliehen hatte, sein kleines Imperium gegründet. Der berühmte Hall auf den alten Motown-Scheiben, der typische Marvin-Gaye- und Supremes-Sound, kommt von einem Loch in der Wohnzimmerdecke. Dieses Loch gibt es wirklich, es ist in den Holzboden des Dachstocks geschnitten, und wenn man eine Etage drunter steht und rein singt, klingt es ganz magisch. Berry Gordy war sozusagen ein "freier Kreativer" mit Geschick und gutem Riecher - er hat die damals neue Konsumentenlust auf einen poppigen Sound erkannt und mit einfachsten Mitteln ein neues Ding erfunden. Um Rebellion oder ähnliches ist es ihm nie gegangen, ganz im Gegenteil: Motown ist ein genialer Schachzug in Sachen "Anpassung an den Massengeschmack", es ist, neben allen Mythen, vor allem ein erfolgreiches Geschäftsmodell.

Bild: © Katja Kullmann

Oh, und Schallplatten habe ich einige gekauft, aber nicht im Museum, da gibt es keine, sondern in verschiedenen Second-Hand-Handlungen. Allein bei meinem Lieblingsladen, People’s Records, waren es fast zwei Dutzend Singles. Vieles davon ist in den 60ern auf kleineren Labels erschienen. Man nennt diese Musik auch Rare Soul, weil sie nie in ganz großen Auflagen herauskam. Zu den absoluten Highlights meiner Detroit-Souvenirs zählen diese drei Vinyl-Originale, die aber vermutlich keinem Nicht-Rare-Soul-Fan etwas sagen: "Love’s gone bad" von Chris Clark (auf V.I.P.), "What condition my conditon is in" von Betty La Vette (auf Karen) und "The pain gets a little deeper" von Darrow Fletcher (auf The Groovy). Ich mag Detroit und habe es schon seit Jahren fest in mein Leben integriert, es dreht regelmäßig seine Runden auf meinem Plattenteller.

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