Das Literaturgericht
Maxim Billers Skandalroman "Esra" bleibt bis auf weiteres ein Sammlerstück
Das Landgericht München befand gestern, dass sowohl eine individuelle Betroffenheit der beiden Klägerinnen als auch eine Verletzung von Persönlichkeitsrechten gegeben sei und hielt eine am 13. März erlassene einstweilige Verfügung gegen den Vertrieb des Romans bis zum Hauptsachetermin aufrecht. Die Auslieferung einer ungeprüften geschwärzten Fassung, die der Verlag angeboten hatte, stufte das Gericht als nicht ausreichend zum Schutz der Persönlichkeitsrechte ein.
Zwei Frauen, die sich in den Figuren Esra und Lale wiedererkannten, hatten am 13. März eine einstweilige Verfügung gegen den Verlag Kiepenheuer & Witsch erwirkt. Daraufhin durften zwar die 5000 bereits ausgelieferten Exemplare noch verkauft, der Roman aber nicht mehr nachgedruckt werden. Außerdem sollte für das Buch nicht mehr geworben werden - was durch die Aufmerksamkeit, die das Verfahren brachte, auch überflüssig gewesen wäre.
Kiepenheuer & Witsch hatten gegen die einstweilige Verfügung Widerspruch eingelegt, über den am gestrigen Mittwoch entschieden wurde. Die Richterin wirkte gut vorbereitet und hatte das Buch offenbar gelesen und verstanden - eine Situation, wie sie vor allem bei Prozessen mit IT-Hintergrund nicht selbstverständlich ist. Sie führte aus, dass es in dem Fall um eine Abwägung von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht gehe, die beide "zunächst gleichrangig" im Grundgesetz stünden. Deshalb sei zu prüfen, ob die Klägerinnen individuell betroffen seien und ob eine entsprechend gravierende Verletzung des Persönlichkeitsrechts vorliege.
"Individuell betroffen", so die Richterin, sei eine Person wenn sie "erkennbar" ist. Sie führte aus, dass der Autor Maxim Biller nicht nur einzelne, sondern (mit Ausnahme der Namen) alle Merkmale der Betroffenen "eins zu eins" in seinem Buch übernommen habe - darunter Familienverhältnisse, Örtlichkeiten und sogar Haustiere. Nach eigenen Angaben benötigte sie "30 Sekunden im Internet" um herauszufinden wem die beiden Biller-Figuren in der Realität entsprechen. Tatsächlich lässt sich ohne viel Mühe herausfinden, dass es (im Hinblick auf die Anwälte der beiden Parteien vorsichtig formuliert) gewisse Indizien gibt, die darauf hindeuten, dass es sich bei den im Roman beschriebenen Personen um die Münchnerinnen Ayse Romey und Birsel Lemke handeln könnte.
Biller, so die Richterin, liefere durch diese "eins-zu-eins-Übernahme" in seinem Roman - im Gegensatz zu anderen Autoren vor ihm - keinerlei Argumente, die verwendet werden könnten um eine "Erkennbarkeit" zu bestreiten. Tatsächlich deutet einiges darauf hin, dass diese rechtliche Grenze vom Autor Maxim Biller bewusst übersprungen wurde. So formte Biller seine Hautfigur Adam nach seinem Ebenbild: Er ist Schriftsteller jüdischer Abstammung, aufgewachsen in Prag und wohnhaft in München. Und Adam töpfert sich sein Werk - wie Biller - aus seinen Erlebnissen und thematisiert seine und damit auch Billers Grenzüberschreitungen bereits im Roman. So tut er etwa den Wunsch seiner Muse Esra, nicht über sie zu schreiben, als "fast unangenehm kleinbürgerlich" ab.
Der Anwalt der Firma Kiepenheuer & Witsch, der Hamburger Krüger, entgegnete darauf, dass es für das Zustandekommen einer "Betroffenheit" darauf ankomme, in welchen Augen die Personen "erkennbar" sind und zitierte ein BGH-Urteil, in dem selbst die Erkennbarkeit durch einen "beachtlichen Leserkreis" noch hingenommen werden musste. Eine Erkennbarkeit mittels vorheriger Internet-Recherche, so der Anwalt, reiche nicht aus, vielmehr müsse sie aus einer "Betrachtung des Werkes aus sich selbst heraus" entstehen, damit eine "Betroffenheit" gegeben sei. Der "normale Leser", so Krüger, recherchiere nicht nach. Erst durch den "Presserummel" über das Verfahren sei die Öffentlichkeit zu Nachforschungen angeregt worden.
Dann ergriff der Kiepenheuer & Witsch-Geschäftsführer Helge Malchow selbst das Wort und gab der Verhandlung eine leicht Ally-McBeal-hafte (vgl. Der Geist von Ally McBeal) Wendung indem er sich vehement und lautstark darüber beklagte, wie man nur auf die Idee kommen könne, zu verlangen, dass ein Autor Teile seines Werkes ändern solle. Dies sei ihm in 20 Jahren, in denen er seinen Beruf ausübe, noch nicht untergekommen. Er, so Malchow, könne als Verleger nicht soweit auf den Autor einwirken, dass dieser in seinem Werk Ortsnamen ändere. Malchows Rage wirkte dabei zumindest für den unecht, der mit den Gepflogenheiten im Verlagswesen auch nur halbwegs vertraut ist.
Geht es nämlich um die Verkaufbarkeit von Büchern, haben Verleger im allgemeinen weit weniger Skrupel vor durchaus umfassenderen Änderungen am Manuskript des Autors, der sich oft glücklich schätzen kann, wenn er über vom Verlag vorgenommene Änderungen überhaupt informiert wird. (Ein schönes Beispiel hierfür ist Robert Heinleins Roman Stranger in a Strange Land, der erst 30 Jahre nach der Erstveröffentlichung in der von ihm vorgesehenen Form erschien. Heinlein rächte sich, indem er seinen - ebenfalls schreibenden - Helden absichtlichen Mist in die Manuskripte hineinschreiben ließ. Er begründet dies damit, dass ein Verleger ohnehin etwas am Text verändern würde, weil er sich sonst für überflüssig halten müsse: "Nachdem er hineingepinkelt hat, gefällt ihm der Geruch besser, und dann kauft er es." 1)
Auch Malchows Verweis, dass der Zwang zum "Ähnlichkeiten überprüfen" die künstlerische Freiheit erheblich einschränke, wirkte anhand der jüngst vor allem auf Druck der Verlagslobby verabschiedeten Verschärfung des Urheberrechts unfreiwillig zynisch (vgl. Lex Bertelsmann in der Zielgeraden).
Der Frage der Richterin, warum es für die künstlerische Integrität denn nun so wichtig sei, dass die Zahl der Kinder einer geschilderten Figur, deren Haustier oder die Staatsbürgerschaften des Ehemannes genau mit der Realität übereinstimmt, konnte Malchow nicht beantworten. An dieser Stelle musste Rechtsanwalt Krüger für den erhitzten Verleger die Notbremse ziehen und einwerfen: "Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass uns das Gefühl beschleicht, nicht überzeugt zu haben, würde ich mich gerne mit Herrn Malchow besprechen."
Nach der Unterbrechung boten Malchow und Krüger an, bis zum Hauptsacheverfahren eine an mehreren Stellen geschwärzte Fassung des Buches zu vertreiben, forderten aber vom Anwalt der Gegenseite eine sofortige Zustimmung ohne vorherige Prüfung der geschwärzten Fassung. Offenbar wollten die Beklagten die Aufmerksamkeitsflut nutzen, um zu verkaufen - auf den Inhalt des Buches und dessen "künstlerische Integrität" kam es dagegen plötzlich nicht mehr so sehr an.
Rechtsanwalt Krüger verwies abschließend auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der für eine "schwerwiegende Beeinträchtigung" des Persönlichkeitsrechts nicht die "bloße Möglichkeit" ausreiche, sondern die Beeinträchtigung "zwingend" und "zweifelsfrei" vorliegen müsse. Eine bloße "Möglichkeit" einer Beeinträchtigung, so Krüger, wiege weniger schwer als die Kunstfreiheit. Seine Argumentation lief darauf hinaus, dass sich die Antragstellerinnen in einer Zwickmühle verfangen sollten - denn nur wenn sie zugeben würden, dass die Schilderungen sexueller Vorgänge einen realen Hintergrund hätten, wäre solch eine tatsächliche Beeinträchtigung gegeben.
Im Gegensatz dazu führte der Anwalt der Klägerinnen, Wolfgang von Nostitz, aus, dass die Verletzung der Persönlichkeitsrechte gerade darin bestünde, dass sich die Klägerinnen der Frage ausgesetzt sähen, ob "dies oder jenes hinter der Schlafzimmertür" tatsächlich passiert sei. Den Klägerinnen könne, so Nostitz, nicht zugemutet werden, sich darüber zu erklären.
Dass die Richterin schließlich der Argumentation der Klägerinnen recht geben musste, lag unter anderem an der Unterscheidung, die das Recht zwischen "Personen des öffentlichen Interesses" und Privatpersonen macht - eine eigentlich nützliche Konstruktion, die aber zunehmend von der Praxis außer Kraft gesetzt wird. Während etwa Süddeutsche-TV ungestraft sozial Schwache in ihren Wohnungen mit Kamerateams belästigen und bloßstellen darf, ohne eine Klage fürchten zu müssen (weil den Betroffenen dafür nicht nur die Rechtskenntnisse, sondern auch die Mittel fehlen) bauten Führungskräfte in Wirtschaft und Verwaltung mittlerweile derart undurchschaubare Hürden und Strukturen auf, dass sogar ein Michael Moore daran scheitert, etwas über das Zustandekommen von Entscheidungen herauszufinden, die das Leben von Millionen Menschen bestimmen.