"Das Maß an Unterwerfung, die der Westen jedem Bewohner abverlangt"
Seite 2: "Wenn die Dummheit der Kommunisten die Leute zu Antikommunisten gemacht hat: dann war sie deren furchtbarster Fehler"
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Vier Monate später, Anfang März, 1990 hielt der Schriftsteller Ronald M. Schernikau auf dem letzten Kongress des DDR-Schriftstellerkongresses eine Rede, die viel zitiert, aber selten begriffen wurde. Denn Schernikau, der als Kommunist und BRD-Bürger erst kurze Zeit vorher die Staatsbürgerschaft der DDR annahm, hielt in einer Zeit, als sich auch im Schriftstellerverband alle auf den neuen kapitalistischen Takt vorbereiten, eine Rede zum Lob des Kommunismus. Dass damit nicht die SED-Bürokratie gemeint war, wurde ziemlich am Anfang der Ansprache deutlich.
Die Dummheit der Kommunisten halte ich für kein Argument gegen den Kommunismus. Honeckers Versuch, ein guter König zu sein, so klein und mickrig er auch ausfiel, er war der Versuch zu Konsens.
Aus der Rede von Ronald M. Schernikau
Schernikau sprach aus der Position des westdeutschen Kommunisten, der die SED nicht als Machtpartei und Unterdrückungsapparat kennengelernt hat. Daher scheint seine Rede in manchen Passagen konträr zum Aufruf der linken DDR-Oppositionellen für unabhängige Gewerkschaften zu stehen.
Die DDR hat sich wehrlos gemacht, systematisch, mit offenen Augen. Endlich können wir auch die Erfahrungen der Linken im Westen verwerten!, das heißt: Wir werden sie bitter nötig haben. Wer die Gewerkschaft fordert, wird den Unternehmerverband kriegen. Wer den Videorekorder will, wird die Videofilme kriegen. Wer die Buntheit des Westens will, wird die Verzweiflung des Westens kriegen. Wer Bananen essen will, muss Neger verhungern lassen. Wer die Spaltung Europas überwinden will, muss den Westen siegen lassen.
Ronald M. Schernikau
Hier hat der Text Schwächen, auch deshalb, weil sich bald zeigte, dass die DDR-Bevölkerung den Unternehmerverband bekam, aber keine starken unabhängigen Gewerkschaften. Doch Schernikau sagte auch:
Meine Damen und Herren, Sie wissen noch nichts von dem Maß an Unterwerfung, die der Westen jedem einzelnen seiner Bewohner abverlangt. Was Sie vorerst begriffen haben: Der Westen ist stark..
Ronald M. Schernikau
Im Rückblick von 30 Jahren zeigt sich, das Schernikaus Text viel mehr Realitätssinn davon hat, was der Sieg des Kapitalismus bedeutet, als viele vor Freiheitslyrik triefenden Texte jener Jahre. Deshalb kann man heute sagen, Schernikaus Rede und der Aufruf zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften waren vor 30 Jahre eine Flaschenpost, die erst später verstanden werden wird. Sind wir heute soweit?
Am 4. November spielte das Theaterkollektiv Panzerkreuzer Rotkäppchen die größte Demonstration am 4. November 1989 am historischen Ort nach Dort wurden beide Texte vorgestellt. Dabei stellte sich heraus, dass die zwei Reden, die vor knapp 30 Jahren an unterschiedlichen Orten gehalten worden sind und vor den Folgen einer schnellen kapitalistischen Wiedervereinigung warnten, vielmehr Gemeinsamkeiten haben, als die Protagonisten damals ahnten.
Dreißig Jahre AfD
Kürzlich haben linke Ostoppositionelle unter dem Titel 30 Jahre AfD eine Doppelnummer des telegraph herausgebracht. Es ist die linke DDR-Zeitung, der der Soziologe Bernd Drücke in seinem Buch "Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht" über die Geschichte der libertären Presse in Ost und West bescheinigt, wesentlich zu den Veränderungen im Herbst 1989 beigetragen zu haben.
Der Titel des aktuellen telegraph zielt auf die 1989 von den Unionsparteien mit anderen Rechtsparteien initiierte Allianz für Deutschland, die im Herbst 1989 die Stimmung für die Wiedervereinigung mit Erfolg anheizte. Im Vorwort der aktuellen telegraph-Ausgabe heißt es:
Wir fragen in dieser Ausgabe ebenso nach den politischen Einflussfaktoren der Entmachtung eines "dritten Wegs" im nachrevolutionären Prozess von 1990, der Marginalisierung einer Alternative jenseits stalinistischer oder politbürokratischer Zwangsvergesellschaftung und knechtender kapitalistischer Gesellschaftsformierung.
Aus dem Vorwort zum telegraph 135/136
Auf Online kann man kurze Interviews mit Exponenten der linken DDR-Opposition hören. Dort sprechen sie über ihre Hoffnungen vor 30 Jahren und was daraus geworden ist.