Das Menschenbild: Zentraler Baustein der Gesellschaft

Seite 2: Konsequenzen des kapitalistischen Menschenbildes

Der US-Mikrobiologe Garrett Hardin schrieb 1968 den vielbeachteten Artikel The Tragedy of the Commons (Deutsch: Die Tragik der Allmende), in dem er die Idee von frei verfügbaren Ressourcen, die von allen genutzt werden können, für gescheitert erklärte.

Er bemühte dazu das Bild einer Weidefläche, der Allmende, auf der alle Bauern ihr Vieh weiden lassen. Die Allmende, so Hardin, werde über kurz oder lang abgeweidet und zerstört, da der Mensch als Egoist nicht am Erhalt des Gemeinguts interessiert sei.

Hardins Artikel, der ein zentrales Argument für die Privatisierung darstellt, betonte die zersetzende Gefahr des Trittbrettfahrens. Aufgrund ihres Egoismus erliegen Menschen Schritt für Schritt der Versuch zum Trittbrettfahrer zu werden. Ein weiteres Argument, dass der menschliche Egoismus zwangsläufig das Gemeinwohl zerstöre bzw. eine kollektive Handlung verhindere, lieferte 1968 der Wirtschaftswissenschaftler Mancur Olson.

Seiner Analyse nach gibt es drei Fälle bei dieser Frage zu berücksichtigen: (1) Wenn jeder trittbrettfährt, wird das gemeinsame Projekt nicht stattfinden, also macht es keinen Unterschied aus, wenn ich keinen Beitrag leiste. (2) Wenn niemand außer mir trittbrettfährt, wird das gemeinsame Projekt stattfinden, also macht es wieder keinen Unterschied aus, wenn ich keinen Beitrag leiste. In beiden Fällen ziehe ich den Schluss, dass ich Trittbrett fahren sollte. Aber was, wenn sich einige Menschen als Trittbrettfahrer verhalten und andere ihren Beitrag leisten. Dann sollte ich laut Olson nur dann trittbrettfahren, wenn die anderen sicherstellen, dass das Projekt auch ohne meinen Beitrag stattfinden kann.

Mit einer größeren Gruppe von Egoisten scheint es nicht möglich, Gemeinwohl zu erschaffen. Hatte nicht schon Dawkins davor gewarnt:

Wenn es nur einen einzigen eigennützigen Rebellen gibt, der entschlossen ist, den Altruismus der übrigen auszunutzen, so wird er per definitionem mit größerer Wahrscheinlichkeit als sie überleben und Nachkommen haben. (…) Nach mehreren Generationen dieser natürlichen Auslese wird die "altruistische Gruppe" von egoistischen Individuen wimmeln und von einer egoistischen Gruppe nicht zu unterscheiden sein.

Richard Dawkins

Ein passendes Beispiel für Hardins, Olsons und Dawkins Argumentation, dass Trittbrettfahrer zwangsläufig das Gemeinwohl zerstören, scheint der Sozialstaat zu sein, der immer mehr über Schulden finanziert werden musste. Lädt der Wohlfahrtsstaat nicht geradewegs dazu ein, auf das Trittbrett zu steigen und ohne eigene Leistung sich von den Leistungen anderen gutgläubigen Menschen als "Sozialschmarotzer" und "Drückeberger" in der "sozialen Hängematte" tragen zu lassen?

Tatsächlich wurde der fundamentale Wandel von Arbeits- und Sozialpolitik insbesondere durch die Gefahr des sogenannten Trittbrettfahrens begründet, die erstmals Ende der 1960er Jahre als Faktum ausgemacht wurde. Mit Beginn der Jahre von Thatcher und Reagan bedienten sich die Regierungen in den angelsächsischen Ländern zunehmend des Menschenbildes, das von Egoisten und Konkurrenzwesen beherrscht wurde.

Menschen erschienen nicht mehr als soziale Wesen, die in solidarischer Anstrengung ein Sicherheitsnetz für alle spannen, sondern als eine unbestimmte Menge von zumindest potentiellen Egoisten, die den Einzelnen nicht schützen, sondern gefährden konnten, indem sie den Beitrag des Einzelnen zur Solidargemeinschaft, dem Gemeinwohl, als Trittbrettfahrer ausnutzten.

In Deutschland ist dieser Trend spätestens mit der Reform der sozialen Sicherungssysteme und der Einführung von Hartz IV festzustellen. Unter dem Motto "Fördern und Fordern" sollte der "aktivierende Staat" den Bürger gerade im Hinblick auf den Arbeitsmarkt und die soziale Sicherung zu Eigenverantwortung anleiten und so die Gefahr des Trittbrettfahrers meistern.

Ganz in diesem Sinne hatte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder seine "Agenda 2010" mit der Feststellung begründet: "Eine Mentalität der Selbstbedienung hat das Gefühl der Solidarität verdrängt." Deshalb lautet der Lösungsvorschlag und der damit einhergehende grundlegende Wandel zur bisherigen Politik:

Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.

Gerhard Schröder

Dies erscheint auf den ersten Blick nachvollziehbar. Da der Solidargedanke aufgrund der Trittbrettfahrer genau das zerstört, was er erreichen will: Gerechtigkeit. Daher ist der Appell an die Eigenverantwortung das in dieser Logik eigentlich gerechte Prinzip. Der Aufruf zur Eigenverantwortung erscheint dabei gleichermaßen als Auflösung des Solidargedankens und dem Einläuten einer neuen Epoche, in der Gerechtigkeit keine soziale Dimension mehr hat, sondern jeder für seinen eigenen Schutz verantwortlich ist. Frei nach dem Motto: "Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht".

Die Gemeinschaft kommt nur noch für den absoluten Minimalschutz gemäß des Subsidaritätsprinzips auf.

Eine Welt der Anreize

Um die angestrebte Eigenverantwortung zu erreichen, spricht der aktivierende Staat gezielt den Eigennutz des Bürgers an, der gemäß des New Public Management häufiger auch als Kunde bezeichnet wird. Den Menschen werden Anreize insbesondere finanzieller Natur, für das zu fördernde Verhalten in Aussicht bzw. Strafen, insbesondere finanzieller Natur, angedroht, falls das geforderte Verhalten nicht an den Tag gelegt wird.

"Anreize sind der Eckpfeiler des modernen Lebens" und "Der typische Ökonom glaubt, dass die Welt noch kein Problem erfunden hat, das er nicht lösen könnte, wenn er freie Hand hätte, das passende Schema von Anreizen zu konstruieren," schwärmen die Autoren des Bestsellers "Freakonomics".

Die Gemeinschaft der Ich-AGs

"Das Leitbild der Zukunft ist das Individuum als Unternehmer seiner Arbeitskraft und Daseinsvorsorge. Diese Einsicht muss geweckt, Eigeninitiative und Selbstverantwortung, also das Unternehmerische in der Gesellschaft müssen stärker entfaltet werden," formulierte der Abschlussbericht der "Kommission für Zukunftsfragen Bayern - Sachsen" bereits im Jahr 1997.

Das unternehmerische Selbst, das spätestens mit den deutschen Reformen und der sogenannten Ich-AG Einzug im Land und vor allem im Arbeitsmarkt fand, "ist ein Abkömmling des Homo oeconomicus, jenes anthropologischen Konstrukts, auf dem die Wirtschaftswissenschaften ihre Modellierungen des menschlichen Verhaltens aufbauen," wie der Soziologe Ulrich Bröckling zu bedenken gibt.

Die Betonung der Eigenverantwortung für das eigene berufliche Schicksal führt zur Auflösung der menschlichen Gemeinschaft. Denn durch die "Gründung" jeder Ich-AG werden für den betreffenden Menschen seine Mitmenschen, die andern Ich-AGs, zu gefährlichen Konkurrenten.

Laura Glauser schreibt hierzu:

Zentral für diesen Diskurs ist die Idee eines aktiven individuellen Subjekts, das gemäß seiner marktförmigen Bestimmung zweckrational handelt, um erfolgreich zu sein. Für diesen Erfolg ist jeder selbst verantwortlich, weshalb die Selbstständigkeit verknüpft mit dem Appell der Eigenverantwortlichkeit zu weiteren zentralen Elementen dieses Diskurses wird. Dabei ist das Subjekt immer auf sich allein gestellt, es wird als im Wortsinne a-soziales Wesen gedacht, ihm fehlt jeglicher gesellschaftlicher Zusammenhang. So wird ein Selbstverständnis etabliert, das Menschen zueinander in ein Konkurrenzverhältnis stellt, weshalb der wirtschaftliche Markt zur Arena des gesamten Lebens wird, was die kapitalistische Qualität des Diskurses verdeutlicht.

Das Bild des egoistischen Menschen führt jedoch nicht nur zu einer Veränderung der menschlichen Gesellschaft, sondern auch dazu, dass Menschen bewusst nicht mehr nach Gemeinsamkeiten mit ihren Mitmenschen suchen, sondern notgedrungen nach den Unterschieden.

"Der Wettbewerb verbindet universelle Vergleichbarkeit und den Zwang zur Differenz; er totalisiert und individualisiert zugleich: Jeder Einzelne muss sich in der Verfolgung seines Nutzens mit allen anderen messen, und er kann seinen Nutzen nur in dem Maße steigern, in dem er sich von seinen Mitbewerbern abhebt und für sich beziehungsweise für das, was er in den Tauschprozess einbringt, ein Alleinstellungsmerkmal geltend machen kann," erklärt Ulrich Bröckling.

Frei nach dem Motto von Tom Peters, Autor des Buches "TOP 50 Selbstmanagement. Machen Sie aus sich die Ich AG": "Seien Sie besonders … oder Sie werden ausgesondert."

Rankings und Konkurrenzkampf beherrschen das Leben

"Ein großes, globales Rennen hat begonnen: die Weltmärkte werden neu verteilt, ebenso die Chancen auf Wohlstand im 21. Jahrhundert. Wir können wieder eine Spitzenposition einnehmen, in Wissenschaft und Technik, bei der Erschließung neuer Märkte," forderte der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog von der deutschen Bevölkerung ein.

Der Soziologe Meinhard Miegel bemerkt über dieses Wettrennen ironisch:

Er beginnt in der Kita, setzt sich in der Schule und im Erwerbsleben fort und endet selbst im Alter nicht. Das ganze Leben ist durchdrungen von Wettbewerb. Spätestens seit Anbruch des Kapitalismus ist er das gesellschaftliche Leitbild. Gesellschaften, die auf sich halten, sind Wettbewerbsgesellschaften. Diese Gesellschaften haben es weit gebracht. Zumindest sind sie erfolgreicher und in der Regel materiell wohlhabender als andere. Ein Hoch auf den Wettbewerb!

Tatsächlich scheint es keinen Zweifel zu geben, dass sich das Bild des Menschen als Konkurrenzwesen heute durchgesetzt hat. Es scheint schlicht seiner Natur zu entsprechen. Konkurrenz ist auch das zentrale Merkmal des Neoliberalismus, wie der Guardian-Journalist George Monbiot in seinem Versuch schreibt, dieses widersprüchliche Phänomen zu definieren:

Der Neoliberalismus betrachtet den Wettbewerb als das bestimmende Merkmal der menschlichen Beziehungen. Er definiert die Bürger neu als Verbraucher, deren demokratische Entscheidungen am besten durch Kauf und Verkauf getroffen werden, ein Prozess, der Verdienste belohnt und Ineffizienz bestraft. Er behauptet, dass "der Markt" Vorteile bietet, die durch Planung nie erreicht werden könnten.

Die Idee, möglichst viele Bereiche des menschlichen Lebens in einen Wettbewerb zu verwandeln und so die Leistung des Einzelnen durch den ständigen Konkurrenzkampf zu steigern, wie es offenbar auch in der Evolution vorgesehen ist, hat sich inzwischen vielerorts durchgesetzt.

Bewertungen, Vergleiche und Rankings sind zunehmend unsere täglichen Begleiter. Inzwischen sind wir es gewohnt, häufig und vieles zu bewerten: Schulen, Universitäten, Hotels, Restaurants, Ebay-Verkäufer, Filme, Bücher und zu guter Letzt bewertet die Schufa unsere Kreditwürdigkeit. Zu nennen wären auch die zahlreichen unterschiedlichen Indexes, die eine bestimmte Qualität eines Landes in einen weltweiten Vergleich stellen.

Steffen Mau, Professor für Makrosoziologie, weist auf den Konkurrenzkampf und die extrinsische Motivation hin, die dem stetigen Bewerten und Vergleichen innewohnen:

Vergleichsoperationen sorgen dafür, dass wir immer wieder aufgefordert und motiviert werden, uns mit anderen ins Verhältnis zu setzen, nicht in geselliger oder kooperativer Absicht, sondern im Kontext von Konkurrenz und wechselseitiger Überbietung.

Ein besonders extremes Beispiel des Konkurrenzkampfes heißt "Forced Distribution". Es wurde von Jack Welch, dem ehemaligen Chef von General Electric, in die Welt des Management eingeführt. Dieser entwickelte die Formel "20-70-10". Jedes Jahr erhielten die besten 20 Prozent der Mitarbeiter, die sogenannten "High Performer" oder "Stars", die sie zur Dankbarkeit verpflichtenden Boni.

70 Prozent der Mitarbeiter landeten auf einem Mittelplatz, was allerdings für sie keine Konsequenzen hatte, während die schwächsten 10 Prozent, die sogenannten "Low Performer" oder "Lemons", ihre Entlassung erhielten.

Nur durch einen beständigen Konkurrenzkampf, der den Siegeswillen des Einzelnen anspricht, und der sogar bewusst unter Mitgliedern des gleichen Teams durchgeführt wurde, erschien es Jack Welch möglich sicherzustellen, dass seine Mitarbeiter sich jeden Tag weiter entwickelten und niemals stehen blieben. Die Verdoppelung der Unternehmensgewinne zwischen 1995 und dem Jahr 2000 führte Welch maßgeblich auf den Erfolg von "Forced Distribution" zurück.

Das Leben ist ein Markt

Das Bild des Menschen als Egoisten und Konkurrenzwesen breitete sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend auf die unterschiedlichsten Bereiche des menschlichen Lebens aus: in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Ein Hauptgrund hierfür dürfte die Arbeit von Gary Becker sein, der 1992 den Wirtschaftsnobelpreis erhielt.

Beckers zentrale These war seine Überzeugung, dass der sogenannte ökonomische Ansatz auf alle Gebiete des Lebens ausgeweitet werden konnte. Auch und gerade auf Fragestellungen, die traditionell der Soziologie und der Psychologie vorbehalten waren:

In der Tat bin ich zu der Auffassung gekommen, dass der ökonomische Ansatz so umfassend ist, dass er auf alles menschliche Verhalten anwendbar ist, sei es nun Verhalten, das monetär messbar ist oder unterstellte "Schatten"-Preise hat, seien es wiederkehrende oder seltene Entscheidungen, seien es wichtige oder nebensächliche Entscheidungen, handele es sich um emotionale oder nüchterne Ziele, reiche oder arme Menschen, Männer oder Frauen, Erwachsene oder Kinder, kluge oder dumme Menschen, Patienten oder Therapeuten, Geschäftsleute oder Politiker, Lehrer oder Schüler.

Gary Becker

Die Welt, die durch die grundsätzliche Maximierung des Eigennutzens bestimmt wird, erscheint im ökonomischen Denken als ein einziger Markt. In dieser Schablone denkend schlug Becker beispielsweise 1987 vor, dass das Einwanderungsrecht in die USA an die Meistbietenden versteigert werden sollte.

Seine Idee erinnerte an den Juristen und Wirtschaftswissenschaftler Richard Posner, der bereits 1978 sich für einen Adoptionsmarkt aussprach, der Babys an die Meistbietenden vermittelte. Oder an Kenneth Boulding, der 1964 vorschlug, zur Kontrolle der Überbevölkerung ein System handelbarer Fortpflanzungslizenzen einzuführen. Im Jahr 2009 machte Becker dann den Vorschlag das Asylrecht an Flüchtlinge für eine höhere Geldsumme zu verkaufen, um zeitraubende Untersuchungen zu vermeiden.

Es ist keine Frage: das kapitalistische Menschenbild bestimmt in hohem Maße unsere Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. In zweiten Teil dieses Artikels, "Das Menschenbild, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung", wird eine gravierende Diskrepanz zwischen diesem herrschenden Menschenbild und der Wirklichkeit festgestellt und die bedenklichen Konsequenzen dieser Diskrepanz aufgezeigt.

Von Andreas von Westphalen ist im Westend Verlag das Buch erschienen: "Die Wiederentdeckung des Menschen. Warum Egoismus, Gier und Konkurrenz nicht unserer Natur entsprechen".