Das Menschheitsideal "Demokratie" ist am Ende

Seite 4: Man wird ja wohl noch träumen dürfen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In seiner Parabel "Die Stadt der Sehenden" entwirft der portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramago die utopische Vision einer wirklich demokratischen Wirklichkeit.

An einem verregneten Sonntag gehen die Bürger der Hauptstadt eines demokratischen Landes nicht zur Wahl. Die Wahlhelfer werden nervös, die Politiker telefonieren wild umher, im leeren Wahllokal macht sich eine verzweifelte Stimmung breit. Doch dann, am späten Nachmittag, klart das Wetter auf, scharenweise strömen Wähler herbei, die Politiker atmen auf.

Es lag wohl am schlechten Wetter. Die Wahlurnen sind plötzlich voller Stimmzettel, die Welt scheint wieder in Ordnung - bis die Stimmen ausgezählt werden: Über 70 Prozent der Stimmzettel sind weiß. Ungültig.

Saramago schildert das friedliche Aufbegehren mündiger Bürger und die Weigerung der Regierenden, ihre Niederlage zu akzeptieren.

Politik in Demokratien ist ein bloßes Mittel zum Machterhalt. Die Minister in der Stadt der Sehenden sind demokratisch gewählte Herrscher mit absolutistischen Allüren, kritikunfähig und korrupt. Um das Ergebnis des Wahltags vergessen zu machen und zur Normalität zurückzukehren, ordnet die Regierung Neuwahlen an.

Doch nun sind sogar 83 Prozent der Zettel weiß. Je offensichtlicher die Handlungsunfähigkeit der Politik, desto stärker das Wissen der Bürger, dass sie keine wirkliche Wahl haben und sie nur noch aus dem Gefühl heraus wählen, man müsse sein Bürgerrecht wenigstens pro forma wahrnehmen.

Jetzt sieht sich die Regierung "gezwungen", den Ausnahmezustand zu verhängen. Seinen "lieben Mitbürgerinnen und Mitbürgern" empfiehlt der Premierminister Zerknirschung und Reue. Die aufständische Stadt wird abgeriegelt. Das Militär rückt ein, Panzer fahren durch die Straßen. Schon bald sind die ersten Todesopfer zu beklagen. Verhaftungen, Gewalt und Folter gehören rasch zum Alltag. Die Regierung ist unwirsch über das freche Volk.

Schließlich verlässt die Regierung mit all ihren Behörden die Stadt und ihre Terroristen. Was tut man nicht alles, um die Demokratie zu schützen?

Die Selbstherrlichkeit einer demokratisch gewählten Regierung führt zur Abschaffung der Demokratie. Wenn das Volk die Herrschenden nicht mehr wählt, dann müssen diese es zu seinem eigenen Schutz bekämpfen.

Vorbei sind auch die Zeiten, in denen noch das Brecht-Wort galt: Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?

Doch die Hoffnung der Regierung, es werde Chaos ausbrechen und die reumütigen Bürger kämen auf allen Vieren in den sicheren Hafen der bestehenden Verhältnisse zurückgekrochen, trügt; denn in der Stadt ohne demokratische Regierung geschieht Unerwartetes: Das Chaos bleibt aus. Die Wähler und die Nichtwähler arrangieren sich friedlich miteinander und ohne Staatsapparat.

Offensichtlich ist das Volk fähig zu einem Frieden ohne Regierung und Polizei, zu Ordnung und Organisation ohne Politiker. Als die Hauptstadtbewohner, die nicht weiß gewählt haben, aus der Stadt fliehen wollen, jedoch an der Grenze verdächtigt werden, "Weiße" zu sein, und zurückgeschickt werden, helfen ihnen die echten "Weißen", ihre Sachen wieder in die Wohnungen zu tragen: "Ein jeder hatte es für sich entschieden, es gab keine Anzeichen für einen Aufruf von höherer Stelle…"

Als die Müllmänner in einen vom Innenminister angeordneten Streik treten, reinigen die Hausfrauen ihre Straßen selbst. Das Fehlen der Polizei führt nicht zu erhöhten Unfallzahlen, die Verbrechensquote sinkt eher - und die politische Meinung wird in ebenso spontanen wie friedlichen Demonstrationen vorgebracht, was den Präsidenten zu dem entsetzten Ausruf veranlasst: "Demonstrationen haben noch nie etwas gebracht, sonst hätten wir sie doch niemals genehmigt."

Und so lautet wohl Saramagos Utopie: Der Mensch kann sich mehrheitlich und direkt für das Gute entscheiden, ohne den Umweg über die Politik und ihre Repräsentanten. Wahre Freiheit braucht keinen Staatsapparat - und sei er noch so demokratisch -, sondern die moralische Integrität der Bürger, und Toleranz ist die Mutter der Ordnung, nicht die Staatsgewalt.

Es ist wahrscheinlich eine viel zu naive, allzu weltfremde Utopie. Ein schöner Traum. Aber man wird ja wohl noch träumen dürfen…