Das Prinzip öffentlicher Debatten

Das Internet und die Öffentlichkeit

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Mit seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche löste Martin Walser 1998 eine der heftigsten Geschichtsdebatten der letzten Jahre auf. Er benutzte dazu ein renommiertes Forum, die Friedenspreisverleihung, durch die er auch eine gewisse Legitimität für seinen Einspruch erhielt. Derartige persönliche Interventionen innerhalb der Öffentlichkeit finden sich zu Beginn der meisten Debatten, sei es nun das Buch Goldhagens, mit dem dieser die Schuldfrage am nationalsozialistischen Völkermord erneut stellte (Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, 1996), oder die Fotos eines prügelnden Joschka Fischers, die Bettina Röhl lancierte und die die 68er-Debatte in Gang gesetzt hat (Medien und Politik vom Joschka-Virus befreien ...).

Dabei stoßen solche Interventionen nicht allein auf einen bisher unerkannten Konfliktpunkt in der Gesellschaft, der eine breite Relevanz hat, sie müssen sich zuerst einen anerkannten Ort innerhalb der Öffentlichkeit suchen, um überhaupt Wirkung zu haben. Hätte Walser seine Rede an einem weniger prominenten Ort gehalten, wäre die Auseinandersetzung wahrscheinlich nicht derart ausgeufert.

Das verweist auf die Struktur unserer Öffentlichkeit. Sie ist, sowohl was ihre institutionelle wie auch ihre mediale Seite betrifft, stark ausdifferenziert und vor allem hierarchisch gegliedert. Sie unterliegt einer gewissen Werteverteilung. Die FAZ oder die Süddeutsche Zeitung haben für die Gesellschaft eine andere, stärkere Bedeutung als die Oberhessische Presse oder der Münchner Merkur, ebenso wie es einen Unterschied zwischen der ARD und einem lokalen Privatsender gibt. Diese Struktur ist nicht völlig festgefahren, so hat es zwischen den Medien in den letzten Jahren starke Veränderungen gegeben. Dennoch beweist die Öffentlichkeit eine enorme Stabilität, die vor allem auch für eine gewisse Erinnerungsfähigkeit sorgt. Debatten lassen sich immer auch zurückverfolgen, Gedächtnisstrukturen wie Archive, Bücher und Bibliotheken spielen dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Eine derart stabile mediale Struktur hat aber vor allem auch eine Filterfunktion. Nicht jeder ist dazu legitimiert, einen Beitrag mit einer gewissen gesellschaftlichen Resonanz zu leisten. Er muss sich erst selbst einen Platz innerhalb der Öffentlichkeit erarbeiten. Wenn er diesen dann einnimmt, garantiert diese Prozedur in bestimmten Grenzen für die Qualität seines Beitrags und für die Einhaltung gewisser Regeln. Martin Walser hat in seiner Friedenspreisrede gegen eine dieser Regeln elementar verstoßen, was ihm auch stark zum Vorwurf gemacht wurde, er hatte in weiten Teilen seines Vortrags einen sehr privaten Ton angeschlagen, der, in Augen vieler Kritiker, dem Forum, vor dem er sprach, nicht entsprach.

In der derzeit laufenden 68er-Debatte hat das Internet zum ersten Mal eine Rolle gespielt, wenn auch nur am Rande. Denn die Journalistin Bettina Röhl hat ihre eigene Website als Forum einer Gegenöffentlichkeit benutzt, um ihre vor allem durch persönliche Motive geleitete Attacke gegen den Außenminister zu führen. Dort hat sie als erstes die Fotos von Joschka Fischer veröffentlicht, die sie später widerrechtlich an 'Stern' und an 'Bild' verkauft hatte, dort finden sich, neben ihrem Beweismaterial, auch sämtliche öffentliche Briefe an den Bundespräsidenten.

Das Internet hat, so man es denn als Öffentlichkeit betrachtet und nicht als eine neue Form der Privatheit mit gewissen öffentlichkeitsähnlichen Bereichen, eine gänzlich andere Struktur als die hergebrachte Öffentlichkeit. Es ist ein sehr flüchtiges, instabiles und daher auch der Rekonstruktion schwer zugängliches Medium, vor allem aber hat es einen nichthierarchischen, dezentralen Charakter. Das Internet unterliegt noch immer der Phase einer Ausdifferenzierung, gewisse stabile Strukturen sind erkennbar, haben aber noch nicht eine derartige Bekanntheit, wie dies z.B. in der Presselandschaft der Fall ist. Dadurch ist im Internet die Filterfunktion geringer. Jeder ist in der Lage, sich an den unzähligen Foren, Newsgroups oder Mailinglisten zu beteiligen oder eine eigene Homepage als Teil einer Öffentlichkeit zu errichten. Der Verlust dieser Filterfunktion ist nicht von vorne herein als negativ zu bewerten, schließlich ist Stabilität nicht mit Qualität gleichzusetzen, und ein derartiges System wie die Öffentlichkeit neigt immer auch zum Ausschluss ungeliebter Teilhaber. Aber zu diesem Ausleseverfahren gehört auch ein gewisses Element der Selbstkontrolle. Die Qualität einer Berichterstattung unterliegt immer der Kontrolle der anderen Medien, und kaum ein Bereich hat derart Zuwachs erhalten wie die Medienressorts.

Dem Internet fehlt diese Selbstkontrolle, jeder kann ungeprüft Nachrichten erzeugen, auf die Website stellen oder sie in Foren und per Email weiterreichen. Das hat häufig den Charme eines Stammtisches, gerne werden dabei auch, Bettina Röhl ist dafür ein geeignetes Beispiel, Verschwörungstheorien entwickelt. Durch die starke Verschränkung der unterschiedlichen Medien miteinander bekommt diese Entwicklung eine gewisse Brisanz. Die meisten herkömmlichen Medieninstitutionen, seien es nun Radios, Zeitungen oder Fernsehanstalten, haben inzwischen eine eigene Internetredaktion. Zwar herrscht eine gewisse Arbeitsteilung, die Internetredaktion ist für den Bereich der aktuellen, schnellen Nachrichtenaufbereitung zuständig, während die anderen die tiefergehende Berichterstattung übernehmen, dennoch sind die Übergänge fließend. Die stabilen Strukturen der Öffentlichkeit weichen auf, die persönlichen Interventionen können leichter ihren Weg in die Öffentlichkeit außerhalb des Netzes finden. Auch daher kann es passieren, dass jemand wie Bettina Röhl, die in erster Linie eine private Auseinandersetzung führt, eine derartige Resonanz hat.

Mögliche Konsequenzen kann es aber auch auf einem ganz anderen Gebiet geben. Geschichtsdebatten führen immer auch zu einer veränderten Selbstwahrnehmung der Gesellschaft, ein Prozess, der meist erst viel später Resultate zeitigt. Geschichtsbilder werden revidiert, es kommt zu einer neuen Geschichtsschreibung, zu veränderten Gedenkformen und gesellschaftlichen Selbsterzählungen, wie es sich trefflich am Umgang mit der nationalsozialistischen Völkervernichtung erkennen lässt. Die Ausrufung von Gedenktagen oder die Errichtung von Denkmalen und Institutionen dienen dabei, einen einmal gefundenen gesellschaftlichen Konsens zu manifestieren. Die Gesellschaft versucht damit aber auch, die Vergangenheit zu bewältigen und sich vor neuen und irritierenden Interventionen zu schützen.

Für eine derartige Geschichtsschreibung taugt das Internet bisher nicht. Im Gegenteil, das Gefüge, das es derzeit hat, würde solche Versuche untergraben. Es ist zu stark pluralistisch, als dass sich im Internet Konsensstrukturen ausbilden könnten, die über partikularistische Insiderzirkel hinaus reichen und tatsächlich große Teile der Gesellschaft binden könnten. Welche Veränderungen dies für die Öffentlichkeit außerhalb des Netzes hat, vor allem für die Verbindlichkeit von geschaffenen Institutionen, bleibt abzuwarten und wird so schnell auch nicht zu erkennen sein. Schließlich vollzieht sich der Prozess der Geschichtsschreibung in großen Zeiträumen.