Das Raketenabwehrsystem: das Toll-Collect-Projekt der Bush-Regierung

Erneut kritisieren Experten, dass das teure System, mit dessen Einrichtung dieses Jahr begonnen wird, technisch völlig unausgereift ist und selbst zum Sicherheitsrisiko werden könnte

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.
Abschussrakete des landgestützten Raketenabwehrsystems GMD

Deutschland hat sich mit dem Toll-Collect-System blamiert. Unvergleichlich teurer aber ist das wichtigste Rüstungsprojekt der Bush-Regierung, das Milliarden von Dollar verschlingt und womöglich gar nicht funktioniert, sondern nur eine Attrappe ist: der Raketen-Abwehrschild, der noch aus der Zeit des Kalten Krieges stammt und von Rumsfeld aus Ronald Reagans Zeiten mitgebracht wurde. Mit Bush konnte das Raketenabwehrschild trotz offenkundiger Mängel und trotz des angeblich neuartigen Kriegs gegen den Terrorismus endlich umgesetzt werden. Ein Bericht der Union of Concerned Scientists äußert vernichtende Kritik und fordert, die für dieses Jahr geplanten ersten Installationen des Systems abzubrechen.

Ab dem 1. Oktober sollen die ersten 10 landgestützten Systeme des Raketenabehrsystems in Silos in Fort Greely, Alaska, and Vandenberg Air Force Base, Kalifornien, abschussbereit installiert sein und die USA vor Langstreckenraketen schützen, die mit nuklearen. chemischen oder biologischen Sprengköpfen versehen sein können. Das BMDS (ballistic missile defense system) wird von einem Konsortium unter der Leitung von Boeing entwickelt. Allein in den nächsten 5 Jahren geht das Pentagon von über 50 Milliarden Dollar aus, die in die Weiterentwicklung und Aufstellung des Systems investiert werden müssen. Bislang wurden bereits weit über 100 Milliarden Dollar in das System investiert. Die USA versuchen auch mit allem Nachdruck, Alliierte am Schutzschild und damit an den Kosten zu beteiligen (Die große Mauer).

Suchbild des Ziels

Schon allein sicherheitsstrategisch fällt die Begründung für den Aufbau eines solchen Raketenabwehrschilds, sollte er denn tatsächlich funktionieren, schwer. Die "bösen" Staaten, die tatsächlich über Langstreckenraketen verfügen oder diese in absehbarer Zeit erwerben können, sind tatsächlich geschrumpft. Der Irak ist "befriedet", Libyen hat beigedreht. Bleiben noch der Iran und natürlich Nordkorea, wenn nicht alte Gegner wie Russland oder China oder Länder wie Pakistan oder Indien zu Feinden werden. Terroristen hingegen dürften wohl kaum die Möglichkeit haben, Langstreckenraketen in ihren Besitz zu kriegen und sie abschießen zu können, zudem gibt es für sie wesentlich einfachere und zuverlässigere Destruktionsmittel, um ihre Ziele zu erreichen. Tatsächlich muss nun auch Nordkorea herhalten, um den schnellen Aufbau des Raketenabwehrsystems noch vor den Wahlen zu legitimieren, um damit wohl Tatsachen auch für eine eventuell andere Regierung zu schaffen.

Hauptvorwurf der Wissenschaftler, zu denen u.a. auch Philip Coyle, unter Präsident Clinton verantwortlich im Pentagon für das Testen von Waffen, oder George Lewis, Direktor der Abteilung für Sicherheitsstudien am MIT, gehören, ist, dass das System in seiner jetzigen Entwicklungsphase nicht wirklich getestet wurde und gegen einen Angriff wirkungslos wäre. Die Behauptungen der Regierung, dass das System sehr zuverlässig und effizient ist, seien "in höchstem Maße unverantwortlich". Damit stehen die Wissenschaftler nicht alleine da. Erst vor kurzem hat auch das General Accounting Office (GAO) des Kongresses darauf hingewiesen, dass die Fähigkeit zur Abwehr von Langstreckenraketen weitgehend unbewiesen sei. Selbst die für Tests zuständige Pentagon-Abteilung hatte ähnliches geäußert (Raketenabwehrsystem noch nicht wirklich einsatzbereit). Und letztes Jahr kam ein Bericht der American Physical Society zu dem Schluss, dass das ganze System eine Geldverschwendung sei.

Gelungener "Hit-and-Kill"-Test beim seegestützten Aegis-System am 25.1.2002

Die ersten Teile des Raketenabwehrsystem, das die Regierung nun schnell installieren will, basiert auf Raketen, die vom Boden abgeschossen werden und ein "kill vehicle" mitführen, das die Langstreckenrakete im Flug oberhalb der Atmosphäre treffen und zerstören soll. Radarsysteme auf dem Boden und dem Meer orten und verfolgen die Ziele, die "kill vehicles" verwenden zum Ansteuern ihres Ziels Infrarotsensoren. 5 der insgesamt 8 Abschusstests mit land- und seegestützten Raketen verliefen zwar erfolgreich, aber unter nicht realistischen Bedingungen, wie die Kritiker schon seit vielen Jahren sagen.

Die Gruppe von der Union of Concerned Scientists hat die Leistungsfähigkeit der jetzt vorhandenen und bis Ende 2005 geplanten Systeme für den Fall eines möglichen Angriffs aus Nordkorea analysiert und dabei sowohl ihre "theoretischen technischen Kapazitäten", als auch die Testergebnisse berücksichtigt. Bei den Tests seien die Bedingungen weitgehend immer dieselben geblieben. Die Ziele hatten dieselbe Geschwindigkeit und Flugrichtung, es war stets Tag, was nicht wirklich sagt, wie zuverlässig die Infrarotsensoren in der Nacht funktionieren, zudem war vorher bekannt, welche Form Sprengkopf und die (wenigen) Attrappen haben, die zudem höchst unterschiedlich gestaltet und daher leicht zu unterscheiden waren. Die Radarsysteme können die Objekte nicht unterscheiden, bislang wurde aber noch kein Test so durchgeführt, dass allein mit den Sensoren des "kill vehicle" eine Unterscheidung getroffen wird. Das sei auch nicht vor 2007 geplant. Sinnigerweise war das Ziel ausgestattet mit einem GPS-Empfänger, mit dessen Signalen das "kill vehicle" die Raketenattrappe ansteuern konnte.

In keiner Weise sei das System unter vorher nicht bekannten Informationen, nicht vorprogrammierten Bedingungen und realistischen, leicht anzuwendenden Gegenmaßnahmen, beispielsweise eine Vielzahl von täuschenden Attrappen, die dem Sprengkopf oder den Sprengköpfen ähneln, getestet worden. Mit schon ganz einfachen Maßnahmen sei das Raketenabwehrsystem auszutricksen. Beispielsweise wenn der Sprengkopf in der mittleren Flugphase noch auf der Trägerrakete bleibt und entschieden werden muss, wo das "kill vehicle" einschlagen soll. Man könne auch den Sprengkopf in einen großen Ballon einhüllen, so dass auch nicht eindeutig das Ziel ausgemacht werden kann, oder man könne mehrere Ballons an ihm anbringen. Aber selbst wenn Tests erfolgreich seien, würde das noch nicht heißen, dass ein System unter realistischen Bedingungen auch funktionieren würde, wie dies im ersten Krieg gegen den Irak mit den Patriot-Systemen der Fall gewesen sei. Diese wären zwar erfolgreich getestet gewesen, aber hätten fast keine der irakischen Kurzstreckenraketen abschießen können.

Die Wissenschaftler kritisieren nicht nur, dass ein teures und technisch nicht ausgereiftes System installiert wird, sie warnen auch davor, dass der Glaube, man habe bereits einen Schutz gegen Langstreckenraketen etwa von Nordkorea die Regierung dazu verleiten könne, aggressiver aufzutreten - nicht nur gegen Nordkorea, sondern beispielsweise auch gegenüber China oder Russland. Das aber könnte - gerade auf dem Hintergrund der Politik der Bush-Regierung - zu einem fatalen Sicherheitsrisiko werden, wobei dem Mangel des Raketenabwehrsystems auch nicht abhelfen würde, wenn man mehr Raketen stationiert. Die Wissenschaftler fordern daher erst einmal realistische Tests, die von einer von der Missile Defense Agency (MDA) unabhängigen Behörde durchgeführt werden sollten.

Das Pentagon gibt sich von aller bislang geäußerten Kritik unbeeindruckt: "Selbst die eingeschränkte Verteidigung, die wir vorbereiten, bietet einen gewissen Schutz vor einem zufälligen oder unautorisierten Abschuss oder vor einem begrenzten Angriff, während wir jetzt keinen Schutz haben. Es wäre unverantwortlich, dies nicht für die Verteidigung unseres Landes und unserer Menschen zur Verfügung zu stellen", erklärt Richard Lehner, ein Sprecher der MDA.