Das Recht auf Unglück

Teil 4: Von utopischen Dystopien und dystopischen Utopien

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Neben der Frontier prägte vor allem die Dystopie die amerikanischen Science Fiction im 20. Jahrhundert. Die beiden Szenarien schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich: die Frontier ist besonders deutlich als Fluchtpunkt erkennbar, wenn sie einer Dystopie gegenübergestellt wird. Für die Entwicklung und Vermittlung libertärer Ideologie eignen sich beide Stilmittel ausgezeichnet: In Utopien können anarchokapitalistische Gesellschaftsentwürfe erdacht und beschrieben werden, in Dystopien können dagegen Szenarien schädlicher staatlicher Einflussnahme dargestellt werden.

Eine direkte Gegenüberstellung von Utopie und Dystopie auf einer zeitlichen Ebene findet sich in Robert B. Boardmans Savior of Fire. Ein Raumschiff von der Erde landet auf dem Planeten Fire, dessen Bewohner in einem libertären Paradies leben. Sie sind so frei, dass sie kein Wort für Freiheit kennen. Ein Volkswirtschaftler von der Erde, der - wie Sir Keynes - "John Maynard" heißt will die Arbeitslosigkeit auf der Insel bekämpfen und den Fortschritt befördern. Ganz nach der Theorie des Volkswirtschaftlers Ludwig von Mises ist die dadurch ausgelöste Inflation Grundursache allen Übels und führt nacheinander zu Preissteigerungen, Mindestlohn, Kriminalität, Polizei, Steuern, Regierung, Verstädterung, Umweltverschmutzung und Krieg. Das System bricht schließlich zusammen, als die Bevölkerung den Glauben in das Papiergeld verliert. 1

Doch bei weitem nicht jede Dystopie propagiert libertäre Ideologie so direkt. Oft sind Dystopien in der Science Fiction lediglich mit einer unmäßig verbietenden, kontrollierenden, verschwörenden oder entindividualisierenden und gleichmachenden Regierung verbunden und öffnen so einen Freiraum für libertäre Ideologie.

1924 erschien mit Evgenij I. Zamjatins Wir2die erste bedeutende Dystopie des 20. Jahrhunderts. Es folgten Aldous Huxleys Brave New World,3, George Orwells 19844 und eine Vielzahl genregebundener Dystopien. Sie waren nicht nur eine bloße Kritik am Sowjetkommunismus, sondern meist an den fordistischen Produktions- und Lebensweisen allgemein.5

Der Kulturhistoriker Bruce Franklin stellte in einer Untersuchung des Science-Fiction-Magazins Astounding bereits für das Jahr 1939 einen Wechsel vom staunenden Technologieenthusiasmus der "Wow!-Gosh!-Ära" hin zu einer mehr dystopischen Sicht der Zukunft der Erde fest.6 Später ist vor allem der Science-Fiction-Film von pessimistischen bis apokalyptischen Szenarien geprägt7 - auch wenn diese oft mit der Flucht an eine Frontier verbunden sind.

Nach Frederic Jameson restrukturiert Science Fiction die Gegenwart als Geschichte und kann sie dadurch zur Betrachtung freigeben.8 Was im Amerika des 20. Jahrhunderts als Repression empfunden wurde, das taucht als Extrapolation in der dystopischen Science Fiction dieser Zeit ebenfalls auf.9 Obwohl selten offen politisch, offenbarten deshalb Science-Fiction-Filme viele Probleme und Ängste ihrer Zeit. Die Katastrophe entsteht in diesen Dystopien aus dem Weiterdenken von bereits vorhandenen Bedrohungen: Umweltverschmutzung (No Blades of Grass), Überbevölkerung (Soylent Green), Kriminalität und Verfall der Innenstädte (Escape from New York) oder die Gefahr eines Atomkrieges (Colossus: The Forbin Project).

Stadt, Land, Flucht: Wie die Frontier von der Dystopie getrennt wird

Zum allergrößten Teil sind diese anti-utopischen Extrapolationen in Städten angesiedelt. Dabei war die Stadt keineswegs immer an dystopische Szenarien gebunden: in der klassischen utopischen Literatur ist sie durch den Schutz, den ihre Mauern bieten, Voraussetzung für die Abgeschlossenheit und damit das Bestehen der Utopie. Ein bedrohliches Symbol wurde die Stadt erst in der amerikanischen Geistesgeschichte. Sowohl Thomas Jefferson (1784 in den Notes on Virginia) als auch die bedeutendsten amerikanischen Dichter des 19. Jahrhunderts: Ralph Waldo Emmerson, Henry David Thoreau, Herman Melville, Nathaniel Hawthorne und Edgar Allen Poe verwendeten die Stadt bereits als dystopischen Ort. Gegenüber der Stadt diente das Landleben und das weite Land selbst als Ideal.10

Die dystopische Einengung ist das Gegenteil der Frontier-Utopie des unendlichen Raums. Der Film Soylent Green etwa spielt im Jahre 2022 in einem hoffnungslos übervölkerten New York. Nahrung und Wohnraum sind durch Klimakatastrophen und Bevölkerungswachstum äußerst knapp. Ein durch den Treibhauseffekt unmäßig schwitzender Charlton Heston ist ständig gezwungen, nicht auf Menschen zu treten, die auf Treppenhäusern schlafen, bzw. sie beiseite zu scheuchen.

Überbevölkerung ist einer der großen Topoi dystopischer Science Fiction in den 1970er Jahren. In Ira Levins Roman This Perfect Day müssen Menschen mit 62 Jahren aus Effizienzgründen sterben,11 in der Disco-Dystopie Logan's Run sogar schon im Alter von dreißig. Im Film Z.P.G. (Zero Population Growth) von 1971 hat die Überbevölkerung eine gravierende Luftverschmutzung hervorgerufen. Daraufhin wurden Geburten verboten. Wer sich diesem Verbot widersetzt wird, zum Tode verurteilt.

Eine Lösung bieten diese Dystopien nicht in Form von politischen Maßnahmen wie Geburtenkontrolle an (diese werden als wirkungslos oder als unmenschlich dargestellt), sondern nur durch eine Flucht aus den Städten: Im Film Logan's Run rettet sich der Held mit einer weiblichen Rebellin in die nicht-kontrollierte, nicht-städtische Außenwelt. In Soylent Green kann sich der Protagonist Sol Roth (Edward G. Robinson nur in den staatlich kontrollierten Selbstmord retten, der mit in übertriebenem Widescreen-Effekt projizierten Aufnahmen von Naturbildern eingeleitet wird: Hier ist der Tod die "Final Frontier."

Die utopische Dystopie

Libertäre Dystopien sind oftmals sauber, friedlich und mit Regeln und Gesetzen ausgestattet. Wie können sie trotzdem dystopisch wirken? Traditionelle Utopien sind meist statisch, soziale Probleme und Konflikte sind in ihnen gelöst.12 Dieser statische Zustand der Utopie wurde im 20. Jahrhundert oftmals als unbefriedigend empfunden. Der Frankfurter Kulturpessimist Theodor Adorno sah diesen Effekt darin begründet, dass der Mensch sich zu entscheiden habe zwischen der Barbarei des Glücks und der Kultur als einem objektiv höheren Zustand, der Unglück in sich einbegreift.13

In Marco Brambillas Science-Fiction-Film Demolition Man sind die Straßen im Großraum Los Angeles des Jahres 2032 sauber, Graffiti werden von den Gebäuden automatisch entfernt, die Autos sind geräuschlos, die Luft klar und die Rasenflächen gemäht. Die Menschen sind für amerikanische Maßstäbe des späten 20. Jahrhunderts übertrieben freundlich zueinander, sprechen sich mit Vor- und Nachnamen an. Kraftausdrücke sind verboten, Fett und Alkohol geächtet. Eine Gruppe von Rebellen um Edgar Friendly (Denis Leary) mag sich diesen Vorschriften und Verboten nicht unterwerfen und lebt deshalb in der Kanalisation. Der Rebellenführer erklärt dem Helden John Sparten (Sylvester Stallone) den Wunsch nach Individualismus und der Freiheit, auch Unvernünftiges zu tun:

[...] Ich will Fett, Ich will Cholesterin! Ich will Butter und Schinken und eimerweise Käse essen!

Ähnlich lässt Peter W. Huber seinen Helden in Orwell's Revenge befinden:

Freiheit beinhaltet die Freiheit dumm, geschmacklos und abartig zu sein. Die freie Wahl beinhaltet die Freiheit der Wahl des Schlechteren14

.

Materielle Zufriedenheit und geistige Freiheit werden in solchen utopischen statisch-glücklichen Dystopien als unvereinbar angesehen, das als fehlend empfundene Element oftmals als "Kunst" oder "Poesie" im Irrationalen verortet. Aldous Huxleys "Wilder" in Brave New World verlangt sein "Recht auf Unglück" mit den Worten:

Ich will keine Bequemlichkeit [...] Ich will Poesie, Ich will echte Gefahr, Ich will Freiheit, [...].

Die staatliche Sorge wird als Gefahr für den Bestand des Individuums empfunden, das Glück als erzwungener Konformismus. Zur dystopischen Darstellung dieser Sichtweise dienen die staatliche Verabreichung stimmungsverändernder Medikamente oder die zwangsweise ärztliche Behandlung abweichenden Verhaltens. In Ira Levins Roman This Perfect Day von 1970 etwa wird die gesamte Bevölkerung ständig unter Lithium gesetzt.15

Die dystopische Utopie

Während Ordnung und Wohlstand dystopisch erscheinen, haben für viele Libertäre die gegenteiligen Szenarien utopische Qualitäten. Schilderungen wirtschaftlichen Niedergangs, verbunden mit mangelnder innerer Sicherheit und Selbstjustiz, wie in Neal Stephensons Roman Snow Crash werden in libertären Kreisen als Utopien rezipiert. Dabei nimmt Stephenson viele potentielle Schwachstellen des Anarchokapitalismus wie etwa den Privatbesitz von Massenvernichtungswaffen auf und baut sie in seinen Roman ein:

Warum der Deliverator derartig ausgerüstet ist? Weil sich die Leute auf ihn verlassen. Er ist eine fahrende Zielscheibe. Dies ist Amerika. Die Leute tun, wonach ihnen Scheiße noch mal eben gerade zumute ist, hast Du ein Problem damit? Weil sie das Recht dazu haben. Und weil sie Waffen haben und es ihnen niemand verbieten kann. Als Folge davon hat dieses Land eine der schlechtesten Volkswirtschaften der Welt."

In solchen schrecklichen aber aufregenden Dschungel- und Abenteuervorstellungen kann sich der libertäre Held gerade bewähren, wie in Teil 3 der Artikelserie Final Frontiers bereits geschildert. Was den minder Befähigten die Dystopie ist, ist ihm Utopie.

Der Untergang des autonomen Subjekts

Der Filmhistoriker Carlos Clarens sieht nicht in Tod oder Zerstörung, sondern in einer Dehumanisierung das am meisten Schrecken erzeugende Instrument der Science Fiction.16 Neben den bereits erwähnten Werken von Zamjatin und Huxley findet sich ein sehr frühes Beispiel für die Angst vor dem Untergang des autonomen Subjekts in Ayn Rands Erzählung Anthem,17 die Ende der 1930er geschrieben wurde, aber erst 1946 erstmals in Buchform erschien. In ihrer dystopischen Zukunft gibt es kein ein "Ich", nur ein "Wir". Ebenfalls Ende der 1930er entwarf Robert Heinlein in den beiden später unter dem Titel Revolt in 2100 als Buch erschienenen Geschichten If This Goes On - und Coventry ein prä-Orwellsches System mit Steuerung und Kontrolle der Gedanken, Gehirnwäsche und Kameraüberwachung, ausgeübt durch eine Staatsreligion.

In Alfred Besters Roman Demolished Man18, einer im 24. Jahrhundert spielenden Dystopie, kann und darf die Staatsmacht Gedanken lesen. Sogenannte "Espers" (nach ESP, Extrasensory Perception) können sich in die Gedanken anderer Menschen einklinken. Sie verkörpern durch diese Fähigkeit die Angst vor der Auflösung des Individuums, vor dem Aufgehen in einem Gruppenbewusstsein.

Im Science-Fiction-Film der 1950er Jahre wird die Disziplinierung des Individualismus dagegen noch überwiegend affirmiert. Individualisten, die sich zu weit von der Gemeinschaft vorwagen, finden in diesen Filmen meist den Tod. Nachdem aber auch die Soziologie in den 1950ern den Organisation Man, den angepassten Angestellten entdeckt, wie ihn Tony Randall als devoter Werbefachmann in Frank Tashlins Will Success Spoil Rock Hunter? perfekt verkörpert, erschrickt die amerikanische Kultur vor sich selbst und läutet eine Wiederbelebung des Individualismus und der Werte aus der Pionierzeit ein.19

In den von dieser Angst geprägten Dystopien ist das Individuum meist durch direkte physische oder psychische Einflussnahmen auf das Bewusstsein oder indirekt, durch Werbung oder Propaganda gefährdet. In THX 1138, einem Film, den George Lucas 1970 herausbrachte (und nach dem das heute für viele Filme angewandte Soundsystem benannt wurde), ist das ganze Leben vom Staat geregelt. Individuen werden zur Einnahme von Medikamenten gezwungen, die das sexuelle Begehren regulieren. Gedanken und Handlungen werden von elektronischen Überwachungseinrichtungen kontrolliert. Alle Menschen tragen Namen, die aus einer Buchstaben- und Zahlenkombination bestehen. Optisch setzt Lucas die Konformität durch einheitliche weiße Overalls und kahl geschorene Köpfe für alle Darsteller um. Menschen, die von der Norm über ein Toleranzmaß hinaus abweichen, werden in dieser Dystopie "rekonditioniert." Auch Ira Levins Roman This Perfect Day von 1970 ist solch eine Ordnungsdystopie, in der Haar- und Hautfarbe vereinheitlicht sind und in der die Bewohner statt eines Namens eine "nameber" (Zusammengesetzt aus name und number) tragen.

Eine weitere Methode zur Herstellung von Konformität ist die ständige Kontrolle. In Marco Brambillas Film Demolition Man wird die gesamte Stadt durch ein Kamera- und Mikrophonsystem überwacht, das unter anderem die Einhaltung des Verbots von Kraftausdrücken erzwingen soll. Auch allen Bürgern in die Haut gepflanzte Chips dienen der Überwachung.

Gegenüber der Tatsache, dass nicht nur Regierungen, sondern auch Märkte die Redefreiheit einschränken können, wird speziell in explizit libertärer Science Fiction eine relative Blindheit an den Tag gelegt. Im Oath of Fealty20 beispielsweise steht die private Überwachung in einer gigantischen Gated Community für Sicherheit, nicht für Kontrolle. Ebenso propagiert die Science Fiction private Überwachung als Gegentechnologie zu staatlicher Überwachung. So sieht etwa der Science-Fiction-Autor David Brin keine Möglichkeit, die elektronische Überwachung zu verhindern. Er plädiert deshalb in The Transparent Society für eine Gegenkontrolle, für eine öffentliche Videoüberwachung der Überwacher, eine "transparente Gesellschaft": Dort kann jeder Bürger

[...] den Kamerakontrollraum selbst einschalten, um sicherzustellen, dass die diensthabenden Agenten nach Gewaltverbrechen - und nur nach Verbrechen - Ausschau halten.21

Eine andere Methode ist die Umgehung der staatlichen Kontrolle mittels Gegentechnologien wie Kryptographie, wie sie etwa die Revolutionäre in Heinleins The Moon is A Harsh Mistress nutzten.22

Je unmittelbarer die staatliche Einflussnahme auf Individualrechte, desto besser ist sie für die Darstellung einer Dystopie geeignet. Neil Schulman entwickelt mit dieser Formel in seinem Roman The Rainbow Cadenza ein recht eindrucksvolles dystopisches Szenario. Schulman kontrastiert die libertäre Mondkolonie Ad Astra mit einer Dystopie auf der Erde. Er erweitert dazu auf dem Mutterplaneten die staatliche Kontrolle über den Menschen in ungewöhnliche Bereiche hinein. Durch die Entwicklung des Medikaments "Adamine", das männlichen Nachwuchs garantiert, leben in diesem Roman siebenmal mehr Männer als Frauen auf der Erde. Staatlicherseits reagiert man auf diese Veränderungen unter anderem mit der Einführung einer dreijährigen Liebesdienstverpflichtung für Frauen im "Peace Corps." Unter dem alten Hippie-Slogan "Make Love not War" werden die Frauen vom Staat gezwungen, bedürftigen Männern sexuelle Dienste zu leisten. Die Kanalisation des Sexualtriebes soll Kriege verhindern.

Die sexuellen Zwangshandlungen während dieses staatlichen Friedensdienstes fallen nicht unter die auf Schulmans Erde geltende gesetzliche Definition von Vergewaltigung, da die Beteiligten bei ihrem Eintreten einen Diensteid ablegen müssen und dadurch eine Blankozustimmung zum dienstlich ausgeübten Geschlechtsverkehr geben. Als Vergewaltigung zählt dagegen der Verkehr mit einer Desertierten, weil hier die notwendige Zustimmung der Regierung fehlt.

Mittels dieser Institution karikiert Schulman sowohl den Wehrdienst, bei dem der Staat über die Körper junger Männer verfügt, als auch andere staatliche Instrumente:

Wenn Sie diese Entwicklung für unrealistisch halten, bedenken Sie, dass die Wegnahme von Eigentum ohne Zustimmung des Eigentümers Diebstahl ist - solange es nicht von einem Steuereintreiber der Regierung weggenommen wird (um eine Polizei zu bezahlen, die uns vor Raub beschützen soll). Bedenken Sie weiterhin, dass es Mord ist, jemand anderem das Leben zu nehmen - außer es wird durch einen Scharfrichter der Regierung erledigt (damit wir vor Ermordung geschützt werden). Denken Sie auch daran, dass es Sklaverei ist, wenn Sie einen anderen Menschen in ihre Dienste zwingen - es sei denn dies geschieht durch die von der Regierung eingeführte Wehrpflicht (die uns vor fremden Feinden schützen soll, welche uns im Falle der Eroberung versklaven würden). Die Regierung verbietet solche Verbrechen nie - sie beansprucht nur ein Monopol darauf. Warum sollte es bei Vergewaltigungen anders sein?

Die Bürokratie als Souverän

Ausgeübt wird diese Auflösung des autonomen Subjekts weniger von einzelnen schurkischen Politikern als durch eine gesichtslose Bürokratie. Die Staatsverschwörung kann nicht nur von Politikern, sondern auch von einer gesichtslosen Bürokratie ausgehen. In den John Franklin Letters23 etwa fällt Amerika einer Verschwörung der UN zum Opfer, die mit Regulierung und Steuern beginnt und im Genozid endet. Die in dieser Erzählung herrschende Verwaltungselite wird von den Rebellen nur "Buros" (kurz für "Bureaucrats") genannt und ist vollständig ohne charismatische Führerfiguren.

Während der Epochen des New Deal und des folgenden kalten Krieges machte die USA entscheidende Veränderungen durch: Der New Deal schuf regelnde Eingriffe in Wirtschaft und Kultur, während der Kalte Krieg den militärisch-industriellen Komplex mit seinen riesigen Verteidigungsbudgets anwachsen ließ und den Amerikanern eine verstärkte Konformität im Zeichen von Antikommunismus und Angestelltentum abverlangte. Zwischen diesen Eckpunkten politischer Veränderung wuchs und gedieh ein Gewächs, das von Amerikanern zunehmen als Übel empfunden wurde: die Bürokratie. Die Forderungen nach mehr Effizienz und Kontrolle des Wohlfahrtsstaates verstärkten diesen Zyklus noch und schufen eine immer dichtere Bürokratie.

Schon die Science-Fiction der 1950er Jahre drückte Erfahrungen mit und Ängste vor zunehmender Bürokratie in dystopischen Szenarien aus. Der Gesichtslosigkeit und dem Funktionieren staatlicher Organisationen (einschließlich der Armee) wurde eine grundsätzliche Skepsis entgegengebracht, auch wenn sie wie in Them zur Bekämpfung der Gefahr als notwendig angesehen werden. In Destination Moon dagegen, für den der libertäre Science-Fiction-Autor Robert Heinlein das Drehbuch schrieb, ist die Regierung nicht nur zur Erreichung des Ziels nicht notwendig, sondern lediglich ein bürokratischer Apparat, der den durch visionäre Unternehmer finanzierten Start der Mondrakete verhindern will. Die Bürokratie wird nicht nur als ökonomisches Hindernis, sondern auch als persönliche Belästigung angesehen: In Oath of Fealty von Larry Niven und Jerry Pournelle zieht ein ehemaliges Mitglied des Weather Underground in die in Ansätzen libertäre Gated Community Todos Santos, nicht weil er dort keine Steuern zahlen müsste, sondern weil er dort keine Steuererklärung machen muss, kein "unbezahlter Buchhalter der Regierung" ist.24

Hand in Hand mit der Abscheu vor Bürokratie geht die Ablehnung von regelnden Eingriffen, etwa zur Beseitigung von Diskriminierung. So sind auch political correctness und affirmative action Zielscheibe von Neil Schulmans Spott in The Rainbow Cadenza: In seiner Zukunftswelt wurde der "phallische" Hot Dog durch den "Hoop Dog" ersetzt, ein rundes Würstchen auf einem Bagel. Aus der Gerichtsaussage, dem "testify", die im Englischen an "testicles" (Hoden) erinnert, wurde ein "ovafy".

Von der Bürokratie zur Staatsverschwörung

Die geschilderten Ideologeme, die sich vor allem gegen staatliche Einflussnahme richten, bilden die Basis für eine Kulturparanoia vor Staatsverschwörungen.

Keiner der über 50 Hollywood-Science-Fiction-Filme zwischen 1970 und 1982 zeigt eine funktionierende Demokratie. Die Herrschaftsform in diesen Filmen ist meist eine Art von Verschwörung oder ein totalitärer Apparat.25 In einer Minderheit von Erzählungen und Filmen erscheinen auch große Konzerne als die eigentlichen Machthaber oder Verschwörer, wie im Roman The Space Merchants von Frederik Pohl und Cyril Kornbluth.26

In Film- und Fernsehproduktionen wie den X-Files fasste das Muster der Regierungsverschwörung so fest Fuß, dass sich eine eigene Ikonographie von Regierungsverschwörern mit dunklen Anzügen und schwarzen Hubschraubern entwickelte.

Oft steckt in den Maßnahmen eines scheinbar harmlosen Sozialstaats die Saat der Bürokratenverschwörung, deren Ziel die Errichtung einer Diktatur ist. So arbeitet z.B. das Ökoregime in James P. Hogans The Multiplex Man nur oberflächlich mit repressiver Toleranz - in Wirklichkeit aber zieht eine Regierungsverschwörung, welche die Veränderung der Persönlichkeit von Oppositionellen zum Ziel hat, die Fäden. Die Verschwörung kommt aus der Bürokratie - der gewählte Präsident weiß nichts davon:

Der Präsident! Washingtons Daily Soap, das Angebot zur Ablenkung der Wählerschaft und zur Pflege der Illusion, dass sie in relevanten Angelegenheiten mitzureden hätten. Das wirkliche Spiel mit der Macht fand hinter dieser Fassade statt [....].27

Die Kommunion des Verbots

Im Gegensatz zur Verschwörung der Bürokraten wird die Zusammenarbeit von Individuen in solchen Dystopien häufig erst über den gemeinsamen Bruch staatlicher Verbote möglich. Die Gemeinschaft entsteht erst aus der Kommunion des Verbots.

Fremde Welten und Zukunftsszenarien sind ausgezeichnete Mittel zur Darstellung der Relativität staatlicher Verbote. In If Pigs Had Wings von William Alan Ritch z. B. werden Krimis "Pornos" genannt und sind verboten.28 Eine andere Möglichkeit der Diskreditierung ist die Ausweitung bestehender Verbote in die Diktatur: In Day of Atonement von J. Neil Schulman beispielsweise hat sich aus den zahlreichen religiösen Verboten des Staates Israel eine theokratische Dystopie entwickelt.29

Eine dritte Methode ist schließlich der Entwurf funktionierender libertärer Utopien ohne im Amerika des 20. Jahrhunderts bestehende Verbote. Diese verbotslosen Utopien werden dann durch Regulationswut gefährdet. Robert Heinlein macht auf diese Weise in The Moon is a Harsh Mistress eine Menge von in vielen Gegenden Amerikas bestehenden Regelungen als Auswüchse "perverser" Regelungswut lächerlich:

Eine Frau [...] hatte eine lange Liste, die sie in dauerhaft geltendes Recht umgesetzt haben wollte - zu Privatangelegenheiten. Keine komplexen Ehen jeder Sorte mehr. Keine Scheidungen. Keine 'Unzucht' (das Wort musste ich erst nachschlagen). Keine härteren Getränke als 4%iges Bier. Gottesdienste nur samstags und die Einstellung aller anderen Tätigkeiten an diesem Wochentag (was wird aus Luft- und Temperatur- und Druckversorgung meine Dame? Aus Telephon- und Kapselverkehr?) Eine lange Liste von Substanzen, die verboten und eine kürzere, die nur von zugelassenen Ärzten abgegeben werden sollte. [...] Sie wollte sogar das Glücksspiel [Hervorhebung im Original] illegal machen.

Den bürokratischen Charakter solcher Verbote unterstreicht Heinlein durch die Verwendung deutscher Wörter. Der Einsatz einer fremden Sprache dient ihm als Symbol, So zeigt in The Cat Who Walks Through Walls, das deutsche Wort "verboten" die Entwicklung hin zum preußischen Ordnungsstaat an.30

Das Schlüsselverbot aber ist sowohl für Heinlein als auch für zahlreiche andere dystopische Szenarien in der Science Fiction die Zensur, wie sein Held aus Revolt in 2100 ausführt:

Zum ersten Mal in meinem Leben las ich etwas, was nicht von den Zensoren des Propheten abgesegnet worden war. [...] Ich begann langsam zu verstehen, dass Geheimhaltung der Grundpfeiler jeder Tyrannei ist. Nicht Gewalt, sondern Geheimhaltung ... Zensur. Wenn eine beliebige Regierung [...] sich anschickt, ihren Untertanen zu sagen: ‚Das dürft ihr nicht lesen, das dürft ihr nicht sehen, das zu wissen ist euch verboten", ist das Endergebnis Tyrannei und Unterdrückung, ganz gleich, wie heilig die Motive auch sein mögen."

Ein Bereich, in dem Zensuraktivitäten in den 1990er Jahren besonders deutlich spürbar waren - und der ein dementsprechend fruchtbarer Nährboden für libertäre Ideologie war - ist das Internet. Dieser Effekt soll in der nächsten Folge der Artikelserie behandelt werden.