"Das Signal für ein Kurdistan ohne Grenzen von jetzt an"
Erdogan beklagt die einseitige Aufmerksamkeit auf Kobane, die Kurden profitieren von der Zerschlagung der Sykes-Picot-Grenzen
Der türkische Präsident Erdogan beansprucht zwar nicht, zum neuen Kalifen zu werden, aber er tritt in die Fußstapfen der Sultane und hat seine Anspruch durch seinen mächtigen Palast mit 1000 Zimmern demonstriert, der zu den größten der Welt zählt und der modernste sowieso sein soll. Inwieweit sich al-Baghdadi vom IS, der selbst ernannte Kalif, und Erdogan, der Möchtegern-Sultan, in ihren Ambitionen nach Größe nahe stehen, wäre eine interessante Frage, eine gewisse gegenseitige Duldung scheint jedoch vorhanden zu sein. Erst auf großen Druck hin, hat Erdogan Hilfe für die bedrängten Kurden der YPG in Kobane in Form einiger Kämpfer der Peschmerga aus dem Nordirak und der Freien Syrischen Armee über türkisches Gebiet in die Stadt einreisen lassen.
Allerdings muss man Erdogan Recht geben, wenn er moniert, dass nun die Weltöffentlichkeit ebenso wie die USA mit ihren Luftangriffen ihre Aufmerksamkeit sehr einseitig auf die syrische Stadt, die auch nach Ansicht der US-Regierung keine strategische Bedeutung besitzt, an der Grenze zur Türkei gerichtet haben. Nach Erdogan sind praktisch alle Einwohner geflüchtet, die Stadt wird von ein paar tausend, nach ihm von 2000 Frauen und Männern der YPG verteidigt, die der PKK nahesteht. Am Freitag fragte Erdogan bei seinem Besuch von Frankreichs Präsidenten Hollande:
Warum Kobani? Warum nicht Idlib, warum nicht Hama, warum nicht Homs, warum nicht der Irak, der zu 40 Prozent vom IS besetzt wurde? Es gibt jetzt keine Menschen mehr in Kobane außer 2000 Kämpfern. Ist das der Grund, warum dieses Gebiet dauernd bombardiert wird? Es ist unmöglich, dies zu verstehen.
Tatsächlich sollen gerade erst Kämpfer der al-Qaida-Gruppe al-Nusra die Gruppen der Freien Syrische Armee aus einigen Teilen der Provinz Idlib vertrieben haben, allerdings herrscht hier ein großes Chaos aus verschiedenen kämpfenden Gruppen, die sich liieren und dann auch wieder bekämpfen. Nizar al-Khatib, ein Kommandeur der Freien Syrischen Armee, kritisierte die Entsendung einiger Kämpfer nach Kobane, da sie in Aleppo gebraucht würden, das seit einigen Tagen von der syrischen Armee eingekesselt wurde. Zudem hätten von Anfang an Mitglieder der Freien Syrischen Armee in Kobane mitgekämpft.
In Homs sollen IS wieder das Sha'ar-Gasfeld erobert haben. Im Sindschar-Gebirge sind schlecht bewaffnete Jesiden vom IS umstellt, 10.000 Zivilisten sind bedroht. Im Irak wurden in der Provinz Anbar hunderte Angehörige des Stammes Al Bu Nimr, der sich gegen IS aufgelehnt hatte, ermordet, darunter auch Kinder und Frauen. Die Medien berichten zwar darüber, aber Aufmerksamkeit findet vor allem Kobane. Weltweit gab es in den letzten Tagen Solidaritätskundgebungen, am Samstag einen internationalen Solidaritätstag für die Kurden in der Stadt, die zum Symbol des Kampfs gegen den IS wurde.
Wahrscheinlich ist die Lage in Kobane für ein die Aufmerksamkeit fesselndes Narrativ herausragend geeignet. Es geht um kein größeres, unübersichtliches Gebiet, sondern um eine Stadt, die von den Bösen angegriffen wird, die über bessere Waffen als die Verteidiger verfügen, die automatisch zu den Guten werden (auch wenn sie mit der PKK alliiert sind, die auf der Terrorliste der USA und der EU stehen). Zudem liegt die Stadt an der Grenze, von der aus man hineinschauen kann. Und dann sind da die türkischen Panzer, die nicht eingreifen, aber auch die Soldaten, die keine Helfer nach Kobane gehen lassen wollen. Zudem hat der IS Brutalität gegenüber den Feinden zu seinem Markenzeichen gemacht. Daher wird der Kampf gegen die Barbarei oder die religiöse Raserei geadelt, während das Zuschauen verurteilt wird.
Angeblich werden auch die Kurden in Kobane von "Freiwilligen" aus dem Ausland unterstützt. Sie könnten, kriegsgeschult zurückkehrend in ihre Heimatländer, auch dort eine Gefahr darstellen. Die Kurden ziehen auch wegen ihren schon jahrzehntelang dauernden Freiheitskampf als unterdrücktes Volk in der Türkei, im Irak, in Syrien und im Iran Sympathie auf sich. Die Kurden sind mit 30 Millionen Menschen das größte Volk der Welt ohne einen eigenen Staat. Und gegenüber den religiösen Fundamentalisten des Männerbundes IS sind die eher säkularen Kurden, bei denen Frauen und Männer kämpfen und die multi-ethnische und -religiöse Strukturen in den von ihnen kontrollierten Gebieten eingerichtet haben, als Gegengewicht ebenso sympathischer. Aber insgesamt handelt es sich wohl um ein archaisches Narrativ wie das etwa von David und Goliath.
Im Windschatten des IS soll Kobane für die Kurden der erste Schritt zu einem kurdischen Staat darstellen
Zwar waren die YPG-Kämpfer in Kobane über die Hilfe durch die Angriffe der US-Kampfflugzeuge und die erste Waffenlieferung erfreut, zunächst aber nicht über die wohl zuerst von der Türkei und der nordirakischen Autonomen Region Kurdistan (KRG) angebotene Hilfe durch Peschmerga-Kämpfer. Zwischen der eher linken YPG und der mit den USA und der Türkei engverbundenen KRG, die nicht sonderlich demokratisch von den Familien Talabani und Barsani beherrscht wird, gab es bislang Differenzen. Die YPG hatte jeden Einfluss der irakischen Kurden auf die syrischen Gebiete abgewehrt, in der KRG war man nicht erfreut, als die YPG und die PKK den Jesiden zu Hilfe kamen, als die Peschmerga vor dem IS geflohen waren, und damit ihre Einflusszone ausdehnten. Die PKK- und YPG-Kämpfer sollen zudem besser ausgebildet sein.
Der YPG war es allerdings kaum möglich, die Hilfe der Kurden aus dem Nordirak auszuschlagen, auch wenn es zunächst hieß, man brauche keine Kämpfer, sondern nur mehr und schwere Waffen, wogegen sich wiederum die Türkei stellte, die in den Peschmerga (und der Freien Syrischen Armee) eine Art Trojaner installieren will. Die YPG hat zunächst nur 150 Peschmerga zugelassen, unklar scheint auch noch zu sein, unter welchem Kommando sie kämpfen sollen. Aber offenbar wurden bereits einige Raketen abgeschossen, erstmals haben die Kurden in Kobane nun Artillerie. Die Rede ist von "gemeinsamen Operationen".
Mittlerweile scheint man das Beste daraus machen zu wollen und verkauft die innerkurdische Hilfe als Einigung der Kurden. Und deutlich wird auch, dass nicht nur das Assad-Regime, sondern auch die Kurden vom IS profitieren. Erstmals hat der IS die postkolonialistischen Grenzen des britisch-französischen Sykes-Picot-Abkommens von 1916 symbolisch in einem Video mit dem Titel "Das Ende von Sykes-Picot" nicht mehr anerkannt, als die Grenze zwischen Syrien und dem Irak geöffnet wurde. Auch die Ausrufung des Kalifats geht in die Richtung, alle überkommenen Grenzen in der Region abzuschaffen. Schon jetzt ist klar, dass die Aktionen des IS zu einer Neuordnung der Region führen werden. Der Irak ist schon weitgehend zerfallen, auch Syrien ist aufgelöst, der Libanon und Jordanien sind tangiert, letztlich sind auch Iran und die Türkei betroffen. Für die Kurden würde damit der Traum von einem eigenen kurdischen Staat näher rücken, zumindest in Teilen Syriens und des Iraks.
Die Angriffe des IS haben nach Ansicht eines kurdischen Kommentators grenzüberschreitende Aktionen der Kurden ermöglicht, als YPG/PKK-Kämpfer zusammen mit Peschmerga-Kämpfern im Irak vorrückten und auch in der Nähe von Erbil kämpften. Aber dann wird der 28. Oktober herausgehoben, als die Pschmerga-Kämpfer gleich zwei Sykes-Picot-Grenzen überschritten haben: vom Nordirak in die Türkei und vor dort nach Syrien:
Die Peschmerga-Kräfte haben die Sykes-Picot-Grenzen erstmals in der Geschichte Kurdistan öffentlich gebrochen. Das lässt die Kurden mehr denn je vereint sein, weil die Kurden so lange darauf gewartet haben, dass diese feindlichen Grenzen brechen. Aber hier haben Kurden, jetzt die Pechmerga, drei Teile von Kurdistan in einem Gang durchquert. Das ist das Signal für ein Kurdistan ohne Grenzen von jetzt an.
Für den Kommentator ist damit der erste und historische Schritt hin zu einem kurdischen Staat und zu einem "Ende der türkischen Träume" getan. Das sind natürlich kurdische Träume, die aber zeigen, dass der IS wahrscheinlich irreversible Veränderungen bewirkt hat, auch wenn er selbst von der Bühne treten wird, und dass die Region noch lange ein Pulverfass sein wird.