Das Sparpaket ist durch - die Regierung auch?

Bild: W. Aswestopoulos

In einem angespannten Klima fand in Griechenland eine turbulente Abstimmung über das neue Sparpaket statt

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Mit nur 153 Stimmen wurde das in einen einzigen Artikel zusammengefasste Gesetzeswerk(Das griechische Sparpaket ist alles andere als durch) ratifiziert. Zweifelsohne ist die Regierung nun ernsthaft angeschlagen, denn vor der Debatte verfügte sie nominell noch über 180 loyale Parlamentarier. Direkt nach den Wahlen im Juni waren es noch 184.

Die Situation erinnert stark an den schnellen Machtverlust von Giorgos Papandreou. Nur dauerte dieser bei Papandreou vom Oktober 2009 bis zum November 2011 (Griechenland: Täglich grüßt das Murmeltier!). Als Ironie der Geschichte entpuppt sich, dass Premier Antonis Samaras seinen Studienfreund Papandreou einst mit einem konsequenten Gezeter gegen den nun verabschiedeten Sparkurs zu Fall gebracht hatte. Die Streiks in Athen gehen derweil weiter, heute gibt es mal wieder keine öffentlichen Nahverkehrsmittel und keine Taxis in Athen. Am Sonntag stehen die Verabschiedung des Etats für 2013 und eine Vertrauensabstimmung an.

Hinsichtlich der sechzehn Abgeordneten der Demokratischen Linken gab es kaum Zweifel an ihrer halbherzigen Verweigerung. Parteichef Fotis Kouvelis hatte stets betont, dass er vor allem wegen der massiven Einschränkungen im Arbeitsrecht auf eine Stimmenthaltung seiner Fraktion drängen würde. Bis zuletzt hatten Premier Antonis Samaras (Nea Dimokratia) und Evangelos Venizelos (PASOK) noch versucht, den Koalitionspartner umzustimmen.

Neue Machtverhältnisse

Venizelos reagierte bereits während der Abstimmung auf die Verweigerung einiger seiner nun ehemaligen Parteifreunde. Er warf sie aus der Fraktion. Die frühere Tourismusministerin Angela Gerekou (Griechenland: Ein Rücktritt als Spitze eines Eisbergs), der ehemalige Finanzstaatsekretär Markos Bolaris und der Abgeordnete Giannis Koutsoukos enthielten sich der Stimme.

Die Abgeordneten Michalis Kassis und Thodoros Parastatidis gingen einen Schritt weiter, sie riefen demonstrativ ein lautes "Nein" in den Saal. Der ehemalige Agrarminister und langjährige Parteisekretär wählte als elegantere Methode sein persönliches Blog. Dort outete er sich als Europafan, zweifelte aber am Sinn der Maßnahmen. Vielmehr sieht er darin eine Ursache für die kommende offizielle Staatspleite. Mit seiner Logik erklärte er seine Stimmenthaltung, wollte diese jedoch nicht im Parlament verkünden. Als einziger der 300 Abgeordneten gab er seine Stimme nicht ab. Sämtliche aus dienstlichen Gründen oder mit offiziellem Urlaub, wie Giorgos Papandreou, im Ausland weilenden Volksvertreter stimmten per Fax ab.

Vollkommen überraschend verweigerte auch Giorgos Kassapidis von der Nea Dimokratia der Regierung seine Gefolgschaft. Auch er wurde aus seiner Fraktion ausgeschlossen. Kassapidis ist in der Athener Presselandschaft weitgehend unbekannt. Offensichtlich berief er sich auf das Regierungsprogramm und Samaras Wahlkampfstrategie (Magier Samaras und sein drittes Rettungsprogramm), die in sämtlichen Punkten vom nun gültigen Sparprogramm konterkariert werden.

Was mit den zwei Verweigerern, Odysseas Boudouris und Paris Moutsinas von der Demokratischen Linken geschieht, ist unbekannt. Sie hatten entgegen der vorgegebenen Fraktionslinie mit "Nein" gestimmt. Allerdings kennt die DIMAR laut Statut keinen Parteiausschluss.

Chaotische Debatten

Ebenso verworren wie die neuen Stimmverhältnisse im Parlament lief die Parlamentsdebatte ab. Eigentlich war der Ablauf fest vorgegeben, denn wie bei den anderen umstrittenen Sparpaketen hatte auch die Regierung Samaras den vorher von ihr selbst kritisierten Weg der Eilgesetzgebung gewählt. Damit war die gesamte Diskussionszeit auf zehn Stunden begrenzt. Es gab keinerlei Möglichkeit für die Abgeordneten, sich gegenüber einer der knapp 150 verschiedenen Maßnahmen zu verweigern. Das gesamte Paket konnte nur als Gesamtheit beurteilt werden, so wollte es der Finanzminister. Etwas mehr als 24 Stunden hatten die Abgeordneten Zeit, das erst am späten Montagabend herausgegebene, aus 253 Seiten bestehende Sparpaket zu studieren.

Die ersten Stunden gingen in einer nicht enden wollenden Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit der Maßnahmen verloren. In einer namentlichen Abstimmung entschied eine Mehrheit von 170 Parlamentariern gegen 47 Neinsager, dass die Maßnahmen der Verfassung entsprechen würden. Die Fraktion des SYRIZA war aus Protest aus dem Saal gegangen.

Hintergrund dieser Diskussion waren zwei höchstrichterliche Entscheidungen. Die Vollversammlung des Obersten Gerichts des griechischen Rechnungshofs, eine aus dreißig Richtern bestehende juristische Kontrollinstanz hatte in einem Rechtsgutachten bereits am vergangenen Donnerstag verkündet, dass ein großer Teil des Sparpakets nicht mit der Verfassung konform ist. Die Richter goutierten nicht, dass es zum fünften Mal Rentenkürzungen gibt, während priviligierte Kreise, wie zum Beispiel Reeder, immer noch von massiven Steuerbefreiungen profitieren. Damit sei der Gleichheitsgrundsatz verletzt, meinten sie.

Am Mittwochmittag schloss sich das Oberste Gericht, der Areopag, dieser Meinung an. Allerdings ging es diesen Richtern, Griechenland kennt kein spezifisches Verfassungsgericht, nicht um die gebeutelten Rentner. Vielmehr wollten sie nicht einsehen, dass sie nunmehr mehr als sechzig Prozent Gehaltskürzungen seit Beginn der Krise hinnehmen mussten.

Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass der Verfassungsprofessor, mehrfache Minister und für die Nea Dimokratia im Parlament sitzende Akis Pavlopoulos sowohl für die Verfassungsmäßigkeit als auch für die Maßnahmen gestimmt hat. Denn Pavlopoulos war selbst Autor eines Rechtsgutachtens, das Papandreou im Mai 2010 einen Verfassungsbruch vorwarf. Damals kritisierte Pavlopoulos, dass es nicht zulässig sei, Rentenkürzungen zusammen mit anderen, zu diesem Schritt sachfremden Maßnahmen in ein Gesetzespaket zu packen.

Für die nächste Diskussion über verfassungsmäßig garantierte Grundfreiheiten, die Pressefreiheit, sorgte kaum nachvollziehbar Bürgerschutzminister Nikos Dendias. Er meldete sich zu Wort und warf der SYRIZA-Fraktion vor, dass diese Amtsanmaßungen begehen würde. Hintergrund war ein im Internet veröffentlichtes Video, das Zivilbeamte im Einsatz zeigt und auf einer der Partei nahe stehenden Webseite präsentiert wurde. Im Einzelnen ging es darum, dass den linken Abgeordneten um das Parlament herum zahlreiche wie Anarchisten gekleidete meist junge Männer aufgefallen waren, die ohne das Vorzeigen von Ausweisen Demonstranten kontrollierten und diese danach in Handschellen abführten. Die Parlamentarier fanden dies suspekt und baten die offensichtlichen Zivilpolizisten um eine Aufklärung sowie um die entsprechenden Dienstmarken. Dabei wurden sie von Reportern beobachtet, gefilmt und fotografiert. Die gesamten Vorgänge fanden in aller Öffentlichkeit statt.

Was ist Pressefreiheit? Welche Rechte hat die Polizei

Trotzdem meinte Dendias, dass es einerseits verboten sei solche Aktionen zu fotografieren andererseits aber die Parlamentarier kein Recht gehabt hätten, die Beamten nach Ausweisen zu fragen. Für Syriza versuchte Fraktionssprecher Panagiotis Lafazanis zu erklären, dass die nachweislich mehrmals vorgefallenen Gewaltübergriffe der Polizei nur mit Hilfe von Fotos der Journalisten aufgeklärt werden konnten.

Lafazanis verwies auf die Pressefreiheit und auf die Pflicht von Beamten, sich bei Festnahmen und Kontrollen auszuweisen. Schließlich "kann in den heutigen Zeiten niemand wissen, wer einen gerade kontrolliert", leistete sich Lafazanis auch einen Seitenhieb auf die Trupps der rechtsradikalen Chryssi Avgi. Das brachte den bereits tobenden Dendias nur noch mehr in Rage, bis das Parlamentspräsidium dem Minister das Mikrofon abdrehen ließ. Dendias meinte, dass die Fotografien die Datenschutzrechte seiner Beamten ernsthaft verletzten würden. Er kündigte Konsequenzen an.

In einem ähnlichen Klima und auf nahezu gleichem Niveau lief die gesamte Debatte ab. Ein zumindest hinsichtlich des Unterhaltungswerts bemerkenswertes Highlight des Nachmittags war die Rede von Theodora Tsakri von der PASOK. "Samaras und Stournaras sind Lügner", bemerkte die ehemalige Staatssekretärin im Innenministerium. Haarklein analysierte sie, warum die aktuellen Maßnahmen die Rezession nur noch mehr verstärken und das Land in Richtung Ruin treiben würden. Sie spräche die Sprache der Wahrheit, betonte sie immer wieder. Aber "mit der Pistole am Kopf und ohne einen Plan B, für dessen Fehlen die gleichen, die uns hierhin gebracht haben, verantwortlich sind, stimme ich zum letzten Mal mit JA", schloss sie ihre Darbietung.

Zum wirklichen Eklat im Parlament kam es jedoch, als Finanzminister Stournaras sich kurz nach 18 h dazu entschlossen hatte, dem Gesetzespaket noch einen weiteren Paragraphen zuzugeben. Er wollte mit einer "regierungsamtlichen Gesetzesverbesserung" nicht mehr und nicht weniger als den lange verschonten Parlamentsangestellten das Gehalt kappen. Leider hatte der Minister, der selbst nicht Parlamentarier ist, dabei übersehen, dass dies laut Verfassung nur dem Parlamentspräsidenten vorbehalten ist. Denn die Unabhängigkeit der Legislative von der Exekutive ist wesentlicher Bestandteil demokratischer Verfassungen, was sich in der griechischen Version in der "Unabhängigkeit und Selbstorganisation" des Parlaments niederschlägt.

Der wahrscheinlich kürzeste erfolgreiche Streik der griechischen Geschichte

Um 19 Uhr traten deswegen die Parlamentsangestellten in den Streik. Es gab keine Stenografen mehr, kein Wasser für die Redner und keinerlei weitere Hilfen. Im Gebäude selbst versuchten die Streikenden erfolglos, die Büros des Parlamentssenders zu stürmen. Lafazanis witterte ebenso wie Panos Kammenos von den Unabhängigen Griechen den lang ersehnten, unzweifelhaften Verfassungsverstoß. In seltener Einigkeit von Linken und Rechtskonservativen brüllten die beiden gegen Stournaras Maßnahme an.

Um 19:30 Uhr nahm der Minister seine Eingabe wieder zurück. Er tat dies nicht ohne den namentlich gegen beide Parteien gerichteten Hinweis: "Nun sehen die Bürger, welche Privilegien sie schützen." Die Parteisekretärin der Kommunisten, die sich aus dem gesamten Streit herausgehalten hatte, konstatierte: "Wer sagt uns, dass dieser offensichtliche Verfassungsverstoß nicht inszeniert war, um damit eine beabsichtigte PR-Wirkung zu erreichen?" Stournaras, dessen Rücktritt von Lafazanis und Kammenos gefordert wurde, verstand offensichtlich nicht, dass Schweigen ihm in dieser Situation mehr geholfen hätte. Er meinte störrisch: "Die Eingabe kommt bei einer neuen Gelegenheit wieder."

Konsequenz der ministeriellen Androhung war die Fortsetzung des Streiks der Parlamentshelfer. Auch dies könnte die Gültigkeit der Abstimmung in Frage stellen, denn statt der vorschriftsmäßigen Stenografen gab es nur Kassettenrecorder. Gilt das Paket, dann hat Stournaras mit seiner Taktik zumindest in einem Punkt einen weiteren Sieg errungen. Seine Eingabe, die Sozialversicherung der Journalisten und Ingenieure in den zahlungsunfähigen, einheitlichen Träger EOPYY einzubringen, war vor knapp einer Woche gescheitert. Am Mittwoch war sie expliziter Teil des Gesamtpakets.

Bild: W. Aswestopoulos

Auf den Straßen gab es nur das Übliche

Die Demonstranten vor dem Parlament hatten weniger Glück als die Abgeordnetenhelfer. Sie erlebten außer der bereits üblichen Gewaltorgie den landesweit ersten Einsatz von Wasserwerfern. Dass dieser bei strömendem Regen stattfand, fanden viele Protestler zunächst witzig. Die ungewohnte Wucht des Wasserstrahls änderte diesen Eindruck jedoch schnell. Mehr als 80 Personen wurden in Athen festgenommen. Darunter waren wie üblich zahlreiche "vorsorgliche Festnahmen", die zum Teil bereits in Vororten der Hauptstadt erfolgten. Betroffen war diesmal auch ein Journalist, der beim SYRIZA nahen Sender Sto Kokkino angestellte Androulikakis. Mindestens drei Festnahmen mündeten in einer Verhaftung. Die Zahl der verletzten Demonstranten wird auf mindestens fünf taxiert.

In anderen Teilen des Landes kam es darüber hinaus zu Übergriffen der Ultrarechten. Diese fanden es offenbar passend, im nordgriechischen Langada mit Knüppeln gegen eine Gruppe demonstrierender Berufsschüler vorzugehen. Ein den Kommunisten nahe stehender Demonstrant musste mit Verletzungen in stationäre Behandlung.

Das Fazit des Tages

Zum Abschluss des Tages sah ein sichtlich gestresster Samaras "Endlich den ersten Schritt damit das Volk bessere Tage sieht". Der Premier hofft darauf, dass ihm die EU mehr als die seit langem ausstehende Kreditrate von 31,5 Milliarden Euro spendiert. "Jetzt beginnen die Schwierigkeiten erst richtig", war der skeptischere Kommentar von Stournaras zur Abstimmung und zum turbulenten Verlauf des Tages. Denn mit der Abstimmung ist nicht automatisch die Zahlung der Tranche fällig. Zunächst sind das Testat der Troika und ein Votum der Eurogruppe erforderlich.

Erste Kommentatoren, wie Stelios Kouloglou erwarten gar den Schlussakt im griechischen Drama. "Wenn", meint Kouloglou, "nun aus Berlin die Diskussionen über eine stückweise Auszahlung der Tranche kommen oder das Sonderkonto für die Staatsgelder wieder zur Sprache kommt, dann ist die Regierung keine Wochen mehr im Amt."