"Das System funktioniert, aber nicht auf diesem Planeten"

Zur Demontage des Autoregimes. Kilian Jörg über die Utopie einer autofreien Welt

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Der Wiener Philosoph Kilian Jörg veröffentlichte mit der Plattform carless.earth das Manifest für eine autofreie Welt. Eine mutige Forderung, bedenkt man die Bedeutung des Mobils in unserer modernen Welt. Jörg plädiert nicht für den absoluten Bruch, sondern für eine graduelle "Entwöhnung". Die Forderungen sind jedoch klar: Das Auto muss nicht nur in der Innenstadt Platz abgeben. Die Bevorzugung der Vierräder-Blechboxen muss von einem breiten Umdenken begleitet werden. Jörg führt in seinem neuesten Buch "Backlash. Essays zur Resilienz der Moderne" das Glatte als Wohlfühlfaktor der spätkapitalistischen Gesellschaft an. Das Glatte schafft alle Kerben aus der Welt und ermöglicht ein vermeintlich reibungsloses Funktionieren. Das Glatte ist auch Ideal jeder Straßenplanung.

Im Interview zeigt sich, welche Rolle das Auto in industrialisierten Gesellschaften einnimmt und wie sich seine Dominanz zumindest ein Stück weit abschwächen lässt. Denn eine autofreie Welt bleibt vorerst im besten Sinne eine Utopie - ein weit gestecktes Ziel.

Du plädierst für eine autofreie Welt. Weshalb?

Kilian Jörg: Das Auto ist die Achillesferse des kapitalistischen Status quo als Konsumgesellschaft von vermeintlich freiem Warenverkehr. Darüber hinaus ist das Auto ein zentraler Akteur der Umweltzerstörung, die uns immer mehr Probleme bereitet. Ich glaube, es ist wichtig zu erkennen, dass diese hauptsächlich vom Auto und der durch sie ermöglichten Lebensweise ausgeht. Nicht nur die Abgase, die wir auf der Straße einatmen, sondern auch die ganzen Ressourcen und Produktionsketten, die wir dafür benötigen, und die Lebensstile, die durch das Auto mehrheitsfähig wurden. Die Landschaftsveränderungen, die das Auto notwendig macht, spielen hier eine große Rolle. Sie bewirken eine extreme Einengung der Umwelt auf eine Menschenwelt.

Wie zeigt sich diese "extreme Einengung"?

Kilian Jörg: Ich arbeite viel mit der Metapher der Glättung und des Glatten. Das Rad braucht einen glatten Asphalt und eine Bodenversiegelung, die die Welt glättet und damit gewisse idealisierte Formen sehr schnell bewegen lässt, aber viele andere Lebensweisen, die nicht zu diesem Paradigma passen, verdrängt oder gar zum Aussterben zwingt. Der gesamte kapitalistische Warenverkehr funktioniert eigentlich nur auf der Grundlage dieses Glättungsparadigmas. Um diese kapitalistische Wirtschaftsweise und die damit verbundenen Ungleichheitsregime in einer Zeit, die wir manchmal das Anthropozän nennen, zu überkommen, ist das Auto ein sehr guter Angriffspunkt.

Wo findet dieser Angriff konkret statt?

Kilian Jörg: Es gibt gerade eine Konjunktur des Anti-Auto-Themas, zumindest in urbanen Innenstadtbezirken, wo man versucht, das Auto vermehrt heraus zu drängen (wie in Brüssel, Paris oder Berlin). Neben Flugscham kommt schon langsam auch so etwas auf wie "Fahrscham" auf - zumindest in manchen Schichten. Das ist schön und gut. Um diese Dynamik konsequent weiter zu entwickeln, braucht es utopische Visionen einer autofreien Welt als Ziel.

Man muss positiv fragen und forschen, was ohne das Auto alles möglich wäre! Wie könnten wir ein modernes oder nachmodernes Leben ohne das Auto denken? Was für einen Innovationschub könnte so ein radikaler und freiwilliger Bruch mit einer als falsch erkannten mobilen Normalität auslösen? Wieviel bunter könnte unserer öffentlicher Raum und unsere Welt aussehen, wenn so viel Platz frei wird? Wie viele neuen Bewegungsformen und Wirtschaftsformen könnten entstehen? Ich glaube, wir sind in einer Zeit angekommen, in der wir das Auto nicht mehr als Ermöglicher begreifen (sollten), sondern als Hemmnis und Hindernis für eine viel buntere und pluralere Welt möglichst vieler Lebensweisen!

Ganz konkret: Was könnte denn wirklich entstehen?

Kilian Jörg: Während das Auto seine - glatten - Standards überall auf der Welt gleich durchsetzt, liegt der Vorteil vom Abbau dieses Autoregimes darin, dass die Welt wieder viel kleinteiliger gestaltet werden könnte. Deswegen kann ich jetzt auch nicht ein Szenario nennen, welches dann überall auf der Welt gleich entstehen würde. Denn die Stärke einer hypothetischen Abschaffung des Autos läge genau darin, dass unsere Räume wieder mehr nach den spezifischen Bedürfnissen einer Umwelt und einer Community vor Ort (die nie nur aus Menschen besteht!) gestaltet werden könnte.

Entgegen der Tendenz der kapitalistischen Globalisierung, in der alles immer gleicher wird, würde die Welt also wieder viel abwechslungsreicher und kleinteiliger werden - was im Umkehrschluss dann auch dazu führen würde, dass wir gar nicht mehr so weit reisen müssten, um was Neues und exotisch Anderes sehen zu können.

Um aber noch ein paar konkrete Beispiele zu nennen: Ohne Auto würden z.B. die schnell hochgezogenen Shoppingburgen am Stadtrand aussterben, die eh kaum jemand schön findet, und kleinere Geschäftsstrukturen, bei denen Einkaufen Spaß machen kann, würden entstehen. Nahrung würde viel mehr aus der Region stammen und so auch eine engere Vernetzung der Städte mit dem Land (welche ja zurzeit immer mehr auseinanderdriften) benötigen. Des Weiteren würde ohne Automobilität eine auf Monokultur und Kunstdünger ausgerichtete Landwirtschaft einer kleinteilig organisierten Permakultur weichen müssen. Unsere Umwelt würde um vieles gesünder werden, weil wir uns mehr bewegen, mehr Austausch untereinander haben, weniger Schadstoffe in Luft, Boden und Wässern hätten … Ich könnte diese Utopie jetzt noch ewig so fort führen, denn an der Abschaffung des Autos hängt so viel mit dran von dem, was wir mehr und mehr als ökologisch problematisch einsehen...

"Im Auto sind wir die perfekten Cartesianer"

Das erzeugt natürlich viel Widerstand, weil die Mobilität zentral in urbanisierten und industrialisierten Landschaften ist.

Kilian Jörg: Dieser Widerstand lässt sich von zwei Seiten betrachten: Zum einen ist da das Autoregime, ein politisches System, das sich am Auto orientiert. Wenn das Autoregime sehr gut funktioniert, kann Widerstand quasi automatisch verhindert werden. Bereits im 19. Jahrhundert wurden in Paris die Haussmann-Boulevards strategisch dafür eingesetzt, die proletarischen Viertel zu "zerstückeln". Eine Versammlung von Menschen, die subversiv werden könnte, wurde so erschwert. Das sieht man auch heute noch, wie z.B. die fotografischen Arbeiten von Eva Frapiccini über die Baumaßnahmen nach dem so genannten "Arabischen Frühling" eindrucksvoll zeigen, meistens funktioniert dies aber ganz ohne explizite Intention einer politischen Kraft: Der Ausschluss funktioniert ganz "automatisch", sobald das Auto und dessen Regime zur baulichen Norm wurde.

Es kommt oft vor, dass wir das Auto viel zu wenig beachten. Wir müssen ja auch einfach die Stimuli des Autos im Stadtraum unterdrücken, um uns ohne nervliche Überlastung bewegen zu können. Wir überhören Autolärm und wir riechen auch nicht, sondern wir versuchen, das auszuklammern, um noch normal als "vernünftige" Menschen leben zu können. Ich finde, es ist wichtig, sich mal der Ganzheit des Autoregimes bewusst zu werden. Um darin auch Bruchlinien und Auswege ausfindig zu machen.

Welche Bruchlinien wären das?

Kilian Jörg: Ich möchte dies mit einer kleinen Anekdote verdeutlichen: Neulich habe ich einen performativen Workshop zu Geruch in der Stadt mit meiner Kollegin Sabina Holzer angeleitet, bei der wir zum bewussten Riechen in der Straße aufgerufen haben. Während alle Teilnehmenden sich am Block verteilten, blinkte ein SUV in der Nähe auf und ein geschlecktes Paar stieg in das Vehikel. Instinktiv näherten sich zwei dem eben gestarteten Auspuff und schnupperten einfach daran. Der Lenker fühlte sich anscheinend beim Ausparken behindert, öffnete nochmals die Tür und fragte: "Entschuldigung, gibt es ein Problem?"
Darauf die Antwort: "Sie riechen!"
Der Lenker war darauf so verdutzt und stammelte nur: "Ohh …. verzeihen Sie!"

Ich glaube, dass dieser noch lange darüber nachgedacht hat - die meisten Autosubjekte (so nenne ich sie) sind sich ja gar nicht der sinnlichen und ökologischen Belastung bewusst, die ihre alltägliche Normalität der Umwelt überantwortet. Solche kleinen Übungen können da schon ganz viel im Bewusstsein der Einzelnen ändern!

Du hattest auch noch von einer zweiten Seite des Widerstands gesprochen?

Kilian Jörg: Genau. Der andere Widerstand gegen eine autofreie Welt rührt von einer großen Identifikation mit dem Auto und Autofahren her. Die Situation kennt bestimmt jeder: Man braucht sich nur an ein Auto leicht anzulehnen und schon kann es einem passieren, dass einem ein Autobesitzer wutentbrannt anschreit. Als ob man ihm (ich gendere das hier bewusst nicht) gerade an die Nase gefasst hätte. Es gibt eine große Identifikation mit dem Auto als Seinsweise, was sich bis in die Straßenverkehrsordnung durchzieht. In der StVO ist die Normeinheit, nach der sich der Verkehr richtet, das Auto und nicht der Mensch.

Was sagt denn diese Überidentifikation über die Autofahrer aus?

Kilian Jörg: In dieser Überidentifikation mit dem Auto liegen, glaube ich, tiefere Wahrheiten über unseren abendländischen Subjektbegriff. Ich schreibe im Buch, dass wir im Auto die perfekten Cartesianer sind, weil wir unsere Körper vergessen und nur rational mit Text und Information in einer Objektwelt interagieren, aber keine sinnliche Wahrnehmung haben.

Ein anderes Körperbewusstsein zeigt sich in James G. Ballards Roman "Crash", in dem Menschen ein besonderes Vergnügen entwickeln, ihre Körper mit der Autokarosserie in Unfällen zu verbinden, sich also zu verletzen und am liebsten mit dem Blech des Autos zu verschmelzen.

Kilian Jörg: Ich mag diesen Roman sehr und ich finde, durch Ballard kann man sehr gut sehen, wie normalisiert ein Autofetischismus ist. Lustigerweise habe ich mich vor zwei Tagen über "Crash" unterhalten und eine Person sagte: Das ist ja so siebziger Jahre und heute sind wir schon weit darüber hinaus. Und dann sagte eine Freundin: Nee, ich war neulich in den USA und dort haben sich zwei Biker darüber unterhalten, wie sie wirklich mit ihrer Maschine verschmelzen, wenn sie über den Highway rasen. Jede Tempokontrolle war für die beiden eigentlich ein Hindernis auf dem Weg zur Verschmelzung mit der Maschine, zum wahren Sein quasi.

Bei Ballard besitzt das Auto ja eine eindeutig positive Wertung - ja, seine Gefährlichkeit gilt als besonders anziehend.

Kilian Jörg: Ich finde es natürlich interessant, dass die Zerstörung in dem Ballard-Buch einen solch prominenten Platz hat. Auch die ständige Diskussion darüber, wie man Unfälle bauen und diese erotisch aufladen kann. Ich finde es wichtig, hier zu sagen: Das Auto ist einfach geil!

Ich kann mich selbst dieser Anziehung nicht erwehren. Wenn ich mal mit dem Auto über die Bergstraße fahre, hat das etwas Geiles und Anziehendes. Ich glaube, es ist wichtig, wenn man eine Kritik am Auto betreibt, dass man nicht eine Kritik im klassischen "reinen" Sinn betreibt und versucht, rein zu bleiben vom Objekt der Kritik, es also von sich fernzuhalten. Sondern sich als Teil des Problems sieht. Im so genannten Anthropozän wird ein anderer Kritik-Begriff notwendig - wir können uns nicht mehr von den Problemen distanzieren, die uns betreffen. Wir sind alle Teil in diesem Umweltproblem.

"Die Mittelschicht in Europa verabschiedet sich vom Statussymbol Auto"

Die Überidentifikation nanntest du bereits. Das Auto als Status-Symbol ist auch ein Beweis dafür, was man sich als gut in den Kapitalismus integrierter Konsument leisten kann.

Kilian Jörg: "Alle können Auto fahren." Diese Aussage stimmt natürlich nicht. Aber es können sich viele leisten oder glauben zumindest, es sich leisten zu können - und das hat großen Sexappeal. Sobald man genug Mittelschicht hat, die sich das Auto leisten kann, verselbstständigen sich die politischen Verhältnisse auf einem gewissen Status quo der katastrophalen spätkapitalistischen Normalität. Man sieht es in China ganz gut, wo ich vor ungefähr drei Jahren war. Da konnte man keine zwei, drei Schritte gehen, ohne auf Autowerbung zu stoßen. Das Auto ist das noch ganz neue, unschuldige Symbol einer Welt-Teilhabe, die natürlich viele Vorteile hat, weil man am Wochenende aus der Stadt rausfahren kann, auch gleich nach der Arbeit.

Auf Europa trifft das nicht (mehr) zu, oder?

Kilian Jörg: Ich glaube, in Europa sehen wir langsam Brüche im Autoregime. Oder suchen Auswege daraus. Die Ausgangslage ist da eine ganz andere: Die Mittelschicht verabschiedet sich vom Statussymbol Auto. Langsam, aber sicher. Man sieht es gerade an meiner Generation, dass es nicht mehr das Allerwichtigste ist, sich einen dicken BMW zu kaufen. Man merkt, dass es eine ganz andere Klassenfrage ist: Das hat mir auf der Berliner Oranienstraße viel zu denken gegeben. Man sieht, dass die linken, tendenziell weißen, besser gestellten Bürger alle nur mit Fahrrad fahren. Sie wollen die Autos aus Kreuzberg herausdrängen. Auf der anderen Seite gibt es die großteils migrantische Schicht, die SUVs und Tuning-Autos fährt.

Ich habe ein wenig Angst vor einer neuen Bruchlinie, wo zuvor Solidarität herrschte zwischen Migrant*innen und linksalternativen Milieus. Gerade in Kreuzberg und Neukölln zeigen sich sehr große, latente Bruchlinien zwischen den eng zusammenlebenden Segmenten von Gesellschaft. Ich bin gespannt, wie sich das weiterentwickelt. Die Oranienstraße soll jetzt bald eine Fahrradstraße werden, wie viele anderen Straßen in Kreuzberg. Was passiert dann mit den Tuning-Autos?

In deinem Buch führst du Handlungsanweisungen an, wie man sich gegen die Vereinnahmung der Stadt durch Autos als Fußgänger wehren kann. Hast du da bereits Feedback, ob es da zu Konflikten kommt?

Kilian Jörg: Die Handlungsanweisungen haben letztlich viele Richtungen. Manche sind eher spekulativ und schwer durchzuführen: Es gibt zum Beispiel eine, bei der man über eine Reihe parkender Autos joggen soll. Das habe ich selbst noch nie gemacht! Das wäre von mir ein Wunschtraum, das einmal im Leben zu machen. Da wird einem erst bewusst, wieviel Prozent des öffentlichen Raums mit Autos zugestellt ist. Andere Übungen sind ganz leicht, wie Sinneswahrnehmungen, mit denen man den Status ein bisschen anders wahrnehmen kann, diesen ständigen Fluss, der vom Auto ausgehend die Stadt dominiert. Andere sind natürlich darauf ausgelegt, kleine Widerstände hervorzubringen.

Wie sieht das konkret aus?

Kilian Jörg: Was ich empfehlen kann und wirklich einfach ist: Wenn man über einen Zebrastreifen bei Grün geht und ein Auto, weil es mal wieder bei Dunkelgelb über die Linie gefahren ist, mitten auf dem Zebrastreifen steht, sollte man nicht einfach vorbeigehen, sondern an dessen Scheibe klopfen! Dass die Leute wenigstens mitkriegen, was sie gerade verstellen. Überdies kann ich empfehlen, nervige Autogeräusche von Hupen oder aufgemotzten Autos einfach mal nachzuäffen - oder bei einem besonders laut brummenden Motor höflich an die Fahrerscheibe klopfen und sich besorgt über den Zustand des Motors geben - sowas kann einen irrsinnig lustigen Austausch bewirken!

"Unser Verkehrssystem ist unter anderem auf der Bremse aufgebaut"

Du sprichst von der Zerlegung des urbanen Raums. Auch anstrengend ist die "Unhandlichkeit" des Autos, insofern es eine Tonne Blech durch oft enge Straßen schiebt und wenn ich hinterm Steuer sitze, stets alert sein muss, was mir als Nächstes im Weg stehen könnte.

Kilian Jörg: Unser Verkehrssystem ist unter anderem auf der Bremse aufgebaut. Es ist ja meist Stop-and-Go. Energetisch ist das wirklich eine Katastrophe. Bei jeder roten Ampel musst du solch eine Tonne zum Stehen und dann wieder durch fossilen Brennstoff zum Start bringen. Das ist kinetisch eine wahnsinnige Rechnung. Das führt dazu, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit eines Autos in Städten selten über 20 km/h liegt. Also nicht viel mehr als die eines Fahrrads.

Eine Handlungsanweisung in meinem Buch ist auch: Stell dir die Stadt mal ganz ohne Bremse vor! Wie würde der Verkehr ohne Bremse funktionieren? Da gebe es keine roten Ampeln und es müsste eine viel größere Kommunikation zwischen den Verkehrsteilnehmern stattfinden, wie man sich aneinander vorbei bewegt, ohne stehen bleiben zu müssen.

Das funktioniert?

Kilian Jörg: Ja. Man sieht das in strukturärmeren Ländern. In Neu-Delhi gibt es zum Beispiel weniger Ampeln und es wird sich weniger daran gehalten. Es fließt immer vorbei. Ein Auto erreicht in der Stadt nie wirklich 50 km/h, aber ich nehme an, es ist nicht so viel langsamer, von A nach B zu kommen, als hier. Das Abbremsen ist eine große Energieverschwendung. Und ohne Auto bräuchten wir sowieso keine Ampeln! Deshalb bin ich auch immer sehr sauer, wenn ich von der Polizei mit dem Fahrrad an einer roten Ampel angehalten werde, weil es ja eine nur aufs Auto ausgelegte Infrastruktur ist. Mit dem Fahrrad kann ich mich bei jeder Kreuzung irgendwie vorbei schlängeln. Mit dem Auto ist es eben nicht möglich, weil es zu große militärische Anlagen sind.

"Militärisch" ist das richtige Adjektiv.

Kilian Jörg: Einerseits gibt es den Trend, dass Leute immer weniger Autos kaufen, aber das wirkt sich in der Gesamtumweltbilanz noch nicht aus, weil die Autos, die verkauft werden, immer größer, schwerer und dicker werden. Stichwort SUVs, die ja eine sehr wuchtige Gestalt besitzen. Da gibt es auch eine schöne Theorie über den SUV von Ulrich Brand und Markus Wissen, die den SUV als eine toxisch männliche Reaktion auf die Einsicht des Klimawandels verstehen. Man sieht: Okay, es werden Katastrophen kommen. Es wird immer schwerer, sich in dieser Umwelt zu bewegen. Deshalb kaufen sich die Privilegierten diese Kriegswagen, die einem wenigstens das Gefühl geben, da kommt man noch durch die verwüstete Landschaft. Was natürlich nicht stimmt, aber es gibt einem das subjektive Sicherheitsgefühl nach innen und verlagert die Zerstörung noch mehr nach außen.

Wie steht es mit dem Elektroauto, das von der Politik häufig als umweltfreundliche Alternative gepriesen wird?

Kilian Jörg: Ganz im Gegenteil ist das Elektroauto ein Teil derjenigen Politik, die vorgibt, grün zu sein, aber eigentlich das Outsourcen von Umweltschäden nur noch mehr auf die Spitze treibt. Der Ressourcenverbrauch bei E-Autos ist teilweise noch höher als bei normalen Autos, weil die Gehäuse aus Aluminium oder noch leichteren Materialien sein müssen und die Batterien viel Seltene Erden brauchen, die extrem komplexe und auch dreckige Produktionsketten hinter sich haben. Da wird die Umweltzerstörung noch mehr in ärmere Länder ausgelagert, während wir die Abgase nicht mal mehr in unseren reichen Städten riechen müssen. Das darunter liegende Autoregime mit der individuellen Abschottung und dem Ausschluss der Sinneswahrnehmung bleibt natürlich erhalten.

Da stellt sich die Frage, ob der Wunsch nach Glätte auch auf das Umweltbewusstsein abfärbt, dieses als gutes Gewissen angestrebt wird, dabei aber die Anpassung aller umweltbedingten Unebenheiten vorangetrieben wird, weil Umwelt nur mit Fortschritt und Konsumkultur zu denken ist?

Kilian Jörg: Fortschritt kann vieles sein. Seit hundert Jahren synonymisieren wir Fortschritt mit technologischem Fortschritt. Ich würde am Fortschrittsgedanken festhalten, aber man kann ja Fortschritt auch anders wahrnehmen: Man kann bessere, nachhaltigere zwischenmenschliche Beziehungen, auch zu anderen Lebewesen auf diesem Planeten, aufbauen. Auch dafür braucht's Techniken. Jetzt vielleicht nicht Maschinentechnik, sondern Psycho- und Sozialtechniken, wo meine Handlungsanweisungen ein wenig in diese Richtung weisen. Welche Körpertechniken kann man anwenden, um eine andere Umweltbeziehung aufzubauen? Das birgt viel Fortschrittspotenzial. Wenn alle mit fahrradähnlichen Gerätschaften in einer Millionenstadt wie zum Beispiel Berlin unterwegs wären, würde der Verkehr viel besser fließen, auch die ganzen Staus könnten verhindert werden. Das ist Fortschritt!

Das hat sicher zudem Auswirkungen auf das Landschaftsbild?

Kilian Jörg: Ja. Man müsste auch mitbedenken, dass unsere Landschaften wieder spannender werden. Weshalb wollen wir immer so in die Ferne reisen? Weil bei uns mittlerweile in Europa alles gleich ausschaut, immer die gleichen Autobahnkreuze und Vorstadtschläferstädte, wo dieselben schnell hochgezogenen Shopping Cities stehen. Das ist eine Auto-Infrastruktur. Wenn das alles wegfällt, müssen wir wieder kleinteiliger denken. Dann kommen diese großen normierten Landschaften weg. Dann wird die Landschaft vielleicht auch wieder gekerbter und spannender. Dann könnte man auch wieder mehr Details in der Umwelt entdecken. Dann müsste man vielleicht nicht mehr so weit reisen und könnte mehr anderes sehen und muss nicht erst 1000 Kilometer fahren.

"SUV" ist in meinen Kreisen fast synonym mit "alter Sack"

Wie sieht das in anderen Teilen der Welt aus?

Kilian Jörg: In Indien und China war noch vor ein paar Jahren das Auto wirklich eine Seltenheit. Jetzt ist es die Norm für eine neu heranwachsende Mittelschicht in diesen Ländern. Dort auch viel unschuldiger als in unseren Breitengraden, wo wir vielleicht eine gewisse Autoscham entwickeln.

Wer entwickelt denn eine Autoscham?

Kilian Jörg: Wie schon weiter oben gesagt, mache ich so ein Gefühl in einer besser situierten Mittelschicht Europas jüngerer Generation aus. "SUV" ist in meinen Kreisen fast synonym mit "alter Sack".

Die Beziehung zum Auto wandelt sich über die Zeit sicher auch?

Kilian Jörg: Das stimmt. Wenn man sich Filme und Bücher aus den 60er und 70er Jahren anschaut, von Kerouac zum Beispiel oder "Easy Rider", sieht man, dass auch die progressiven Linken das Auto total gefeiert haben. Als eine neue Freiheit, eine neue Emanzipation. Das hat sich in den letzten fünfzig Jahren extrem gewandelt. Heute wird es eher mit Ressentiment-beladenen alten weißen Männern assoziiert, die sich einen SUV kaufen und alles Neue und Progressive hassen. In Ländern wie Indien oder China sieht man, wie eine frisch gewachsene Mittelschicht eine neue Aufladung des Autos vollzieht.

Ich glaube, dass sich diese beiden Bewegungen immer ergänzen. Man muss das holistischer denken, wie konservativ und progressiv da ineinandergreifen. "Progressiv" verbindet sich meist mit einem technologischen Fortschritt auf problematische Weise. Wenn Progressive jetzt mit Elektroautos fahren, ist das nicht unbedingt besser, vielleicht sogar schlimmer.

Die Autoindustrie wird ein großer Gegner einer autofreien Welt sein.

Kilian Jörg: Das sieht man auch bei historischen Lobbybewegungen. Als die Autoindustrie z.B. in den USA groß wurde, wurde ganz gezielt der öffentliche Verkehr zerstört. Los Angeles ist das beste Beispiel. Da wurde das öffentliche Verkehrsnetzwerk, das damals das größte der Welt war, aufgekauft und zerschlagen. So eine Struktur sieht man heute noch bei der Privatisierung der Bahnen in Europa. Da stecken auch Interessen der Autoindustrie dahinter, dass immer noch mehr Verkehr auf die Straße und das Auto verlagert wird.

Wie kommt man gegen eine solche starke Industrie mit ihren Argumenten an?

Kilian Jörg: Ich glaube, dass diese vormals "starke" Industrie - gerade in Deutschland nach dem Dieselskandal etc. - zurzeit sehr am Straucheln ist. Mit dem carless.earth-Manifest und vielen anderen Initiativen kann man geeint versuchen, ihr weiter zuzusetzen (bis zum Kollaps). Dazu muss man die Utopie der autofreien Welt entwickeln. Denn damit geht auch eine ganz andere Wirtschaftsweise einher, die nicht mehr auf Vollbeschäftigung aufbaut, sondern eine alte marxistische Forderung umsetzt, dass wir nicht mehr voll arbeiten müssen und vielleicht eine 20-Stunden-Woche einrichten. Oder ein bedingungsloses Grundeinkommen auszahlen, weil dann Arbeit wieder etwas wird, worauf Menschen Lust haben und nicht, weil sie in eine Entfremdungshetze von industrialisierter Arbeit kommen.

Die hohen Löhne bei den Autokonzernen füttern wiederum den Konsum der Produkte. Also, wer als Facharbeiter bei Volkswagen oder Opel arbeitet, kann sich mit dem Lohn wiederum ein gutes Auto leisten. Sie füttern sich selbst.

Kilian Jörg: Das ist ein autopoetischer, sich selbst erfüllender Zirkel, der in diesem Autoregime auch angelegt ist. Ich sage immer zynisch: Das System funktioniert. Nur vielleicht nicht auf diesem Planeten.