Das System ist die Katastrophe

Seite 5: Kernkraft und Kapital

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Doch inzwischen hat der durch das japanische "Nuklearbeben" ausgelöste Schock selbst die bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ansonsten herrschende Weltanschauung erschüttert, wonach die gegebene Gesellschaftsordnung als die "besten aller denkbaren Welten" zu gelten habe. Es lohnt sich, diese stellenweise doch radikale Gesellschaftskritik von Harald Welzer im konservativen Leitmedium der Bundesrepublik ausführlich zu zitieren:

Der GAU in Japan hat für den Augenblick auch die Gewissheit kontaminiert, in der besten aller denkbaren Welten zu leben … Das Setzen auf Kernkraft ist ja nur ein Symptom für den prinzipiell unstillbaren Energiehunger dieses Gesellschaftsmodells; die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko im vergangenen Jahr, heute schon vergessen, ein anderes; alle anderen Desaster, die das Prinzip der haltlosen Ressourcenübernutzung anrichtet, kann man gar nicht aufzählen. ... Jared Diamond hat in seinem Buch "Kollaps" gezeigt, dass Gesellschaften, die mit bedrohlichen Veränderungen in ihren Überlebensbedingungen konfrontiert sind, vor allem eins tun: Die Strategien intensivieren, mit denen sie zuvor, oft jahrhundertelang, erfolgreich waren. Wenn also die fruchtbaren Böden weniger werden, quetscht man mehr aus ihnen heraus und richtet sie desto schneller zugrunde. Wenn das Öl weniger wird, bohrt man in der Tiefsee und erhöht die Risiken, und wenn die Energie nicht reicht, baut man Atomkraftwerke in Erdbebengebiete.

Harald Welzer in der FAZ

Welzer schildert hier zwar sehr schön die destruktive Dynamik unseres Gesellschaftssystems, doch werden hierbei die Folgen der kapitalistischen Wirtschaftsweise zu den Ursachen der beklagten Fehlentwicklungen verklärt. Der "unstillbare Energiehunger" unseres Gesellschaftsmodells resultiert ja gerade aus dem Prozess der Kapitalakkumulation. Das "Prinzip der haltlosen Ressourcenverschwendung" ist nicht Ursache, sondern Folge des Wachstumszwangs, der dem oben dargelegten Kapitalprinzip logisch innewohnt. Obwohl Welzer dem Kapitalismus sogar "perfide" Eigenschaften zuspricht, bleibt der Begriff des Kapitals postmodern hohl. Für einen ersten zaghaften Schritt in Richtung radikaler Kapitalismuskritik ist dieser Text aber trotz der genannten Mängel nicht schlecht. Nur weiter so!

Wirklich problematisch wird der Text aber erst dann, wenn es darum geht, Schlussfolgerungen aus der schiefen Diagnose zu ziehen: Dann ist man sehr schnell dabei, auf bewährte Rezepte zu setzen und eine weitere Runde im "Gürtel-Enger-Schnallen" zu propagieren:

Der GAU zeigt: Ressourcen sind so endlich wie Gesellschaftsmodelle, die diese schlichte Tatsache ignorieren. Die Komfortzone ist ab heute geschlossen.

Harald Welzer

Bei der Ursachenanalyse ist auch der eingangs zitierte Chefredakteur des Handelsblatts bemüht, die Schuld auf möglichst alle Schultern zu verteilen:

Wir sind nicht das Opfer der Veränderung, wir sind ihre Quelle. Die Komplexität der heutigen Welt ist Menschenwerk. Uran als Brennstoff war kein Gotteseinfall. Die Produkte der Investmentbanker finden sich auch in unseren Depots.

Gabor Steingart

Ist es wirklich so einfach? Haben wir alle - vom Arbeitslosen, über den Investmentbanker bis zum Atommanager - Uran als eine Energiequelle erschlossen und spekulative "Finanzinstrumente" in unseren Depots geparkt? Sind wir gar alle Heuschrecken, wie einst eine Stern-Titelstory suggerierte? Offensichtlich dient diese Gleichmacherei, die immer in Katastrophen- und Krisenzeiten in den entsprechenden Kommentaren anklingt, der öffentlichen Exkulpierung der betreffenden Gruppen von Funktionsträgern, die mit ihren Handlungen zur Ausformung dieser Fehlentwicklungen beigetragen haben.

Dennoch verfehlt die in Krisenzeiten sehr beliebte Jagt auf Sündenböcke - ob nun Atomlobbyist oder Spekulant - den Kern des Problems. Obwohl die kapitalistische Gesellschaftsformation selbstverständlich "Menschenwerk" ist, handelt es sich hierbei nicht um einen bewusst gesteuerten Prozess. Der Kapitalismus ist von der Entfaltung einer blinden, kaum kontrollierbaren Dynamik gekennzeichnet, deren zerstörerische Potenzen zuletzt in der Weltwirtschaftskrise einer Naturgewalt gleich über die Gesellschaft hereinbrachen. Hier haben nun Kapital und Kernkraft sehr viel gemeinsam. Auf einer abstrakten Ebene gleichen sich Kernspaltung und Kapitalverwertung frappierend; beides sind letztendlich unkontrollierbare Prozesse, die – einmal in Gang gesetzt – nicht einfach gestoppt werden können.

Die "menschengemachte" Kapitaldynamik tritt den Menschen gesamtgesellschaftlich als eine "fremde" Macht gegenüber, die ihr Leben durch "Sachzwänge" den absurdesten Restriktionen unterwirft. Unsere Wirtschaftsweise kommt einem "äußeren" Verhängnis gleich, das über uns mittels eines "Finanzbebens" oder einer Weltwirtschaftskrise hereinbrechen kann. Wie diese gesamtgesellschaftliche Dynamik aus den "betriebswirtschaftlichen" Entscheidungen der einzelnen Marktsubjekte erwächst, wurde weiter oben im Text anhand der Erfordernisse der Just-in-Time-Produktion beispielhaft verdeutlicht.

Diese Eigendynamik des Kapitals resultiert aus den Aktionen der in Konkurrenz befindlichen Marktsubjekte, die für den anonymen Weltmarkt produzieren, der als einzige Vermittlungsebene der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion fungiert – und genau hier setzt sich das Kapitalprinzip auch gesamtgesellschaftlich durch, das gerade den Marktsubjekten zu Durchbruch verhilft, die das beste betriebswirtschaftliche Ergebnis erzielen. Aus dieser gesamtgesellschaftlichen Eigenbewegung des Kapitals, das einfach nach einer möglichst hohen Verwertungsrate strebt, resultieren die absurdesten Entwicklungen, denen wir uns konfrontiert sehen: Es ist schlichter Irrsinn, Güter massenhaft um den ganzen Erdball zu transportieren, weitere Kernkraftwerke in Erdbebengebieten zu errichten oder trotz zunehmenden Klimawandels immer mehr Autos zu fabrizieren. Und trotzdem werden all diese Entwicklungen auf globaler Ebene noch zunehmen, es werden mehr Ressourcen und Energie verbraten werden, weil aus Geld mehr Geld werden muss.

Das System ist die Katastrophe. Die gesamte menschliche Zivilisation ist zu einem Abfallprodukt der Kapitalverwertung verkommen, und die um sich greifenden Krisentendenzen deuten schlicht darauf hin, dass die Menschheit sich nicht mehr rentiert.