Das System ist die Katastrophe

Wird Fukushima zum Tschernobyl des spätkapitalistischen Weltsystems?

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Welche Folgen wird die Katastrophe in Japan auf die Weltwirtschaft, ja auf das gegenwärtige kapitalistische Weltsystem haben? Selbst dessen berufsmäßige Apologeten kommen bei der Auseinandersetzung mit dieser Frage so langsam ins Grübeln. Das japanische "Nuklearbeben" erschüttert inzwischen so manche Gewissheiten in den Redaktionsstuben der Wirtschaftspresse, die sich plötzlich mit grundsätzlichen Fragen unserer Wirtschaftsweise konfrontiert sieht.

Deutschlands Kommentatoren etwa sehen zwar noch keine rosa Elefanten, dafür aber lauter schwarze Schwäne. Wenn Gabor Steingart, derzeit Chefredakteur des Handelsblatt, die grundlegende Erschütterung seiner Weltanschauung in adäquate Begriffe zu kleiden versucht, dann greift er auf poetisch klingende, aber möglichst unverbindliche Metaphern zurück, wie jene vom "schwarzen Schwan". Das entsprechende Theorem besagt im Grunde schlicht, dass unerwartete Ereignisse unabsehbare Folgen nach sich ziehen.

Diese substanzlose Denkfigur eignet sich perfekt, um Steingarts Ahnung vom "Ende der Normalität" in einer "Welt ohne Halt", die alte Gewissheiten "zerstört", einen begrifflichen Ausdruck zu verleihen. "Das Verrückte wurde normal. Die Normalität spielt verrückt," so der Handelsblatt-Chefradakteur, der nachfolgend etliche Extremereignisse in eine Reihe stellt, wie die Terrorangriffe auf das World Trade Center, die Finanzkrise, den arabischen Aufstand - und die drohende Stilllegung der deutschen Atommeiler.

Selbst einer der berüchtigsten neoliberalen Einpeitscher des bundesrepublikanischen Medienbetriebs, Ifo-Chef Hans-Werner Sinn, scheint zumindest kurzzeitig in seinen Überzeugungen zu schwanken: "Was vor Kurzem noch als unwahrscheinlich, wenn nicht unmöglich galt, findet statt." Der Glaube der Menschen an die Stabilität der Welt sei erschüttert worden "wie nie zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. Viele sehen das Ende des Wachstums, das Ende der Technik, das Ende der Moderne – oder gar den Anfang vom Ende der Zivilisation." Die "Apokalypse" in Japan treffe ein Weltsystem, das bereits durch zwei Krisenwellen ganz anderer Art geschwächt wurde:

In der ersten Welle der Finanzkrise kollabierten weltweit Hunderte von Banken, unter ihnen bekannte Adressen der USA. ... In der zweiten Welle, die gerade voll im Gange ist, drohen ganze Staaten in Europa pleitezugehen.

Hans-Werner Sinn

Sinn kann aber selbst diese Katastrophenkaskade nur kurz erschüttern:

Man muss nur die Lehren aus den Unglücken ziehen und bessere Banken, Staaten und Kraftwerke bauen.

Hans-Werner Sinn

Etwas konkreter bei der Einschätzung der gegenwärtigen Lage werden Steingarts Kollegen von der Financial Times Deutschland (FTD). Der Kolumnist Wolfgang Münchau, der vor einer "Kernschmelze des Kapitalismus" warnt, thematisiert die Wechselwirkungen zwischen der Katastrophe in Japan, den Folgen der "Finanzkrise", sowie dem Preisauftrieb bei Energieträgern. Es sehe dabei so aus, als ob "unser gesamtes kapitalistisches System unter den von ihm generierten Krisen zusammenbrechen" würde, so Münchau.

Die Verwüstungen in Nippon hätten demnach bereits ein "makroökonomisches Ausmaß" erreicht, dass eine abermalige "Schuldenkrise" auslösen könne, "die sich zu den bestehenden Schuldenkrisen gesellt". Zudem bereitete das Erdbeben in Nippon auch der "Hausse an den globalen Aktienmärkten" ein Ende. Die "überfällige Marktkorrektur" an den Finanzmärkten könnte "wiederum indirekte Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistung der Industrieländer" haben. Überdies würden nun die Energiepreise verstärkt anziehen, diese "Teuerung wird das Wirtschaftswachstum in der westlichen Welt verlangsamen und damit die Möglichkeit einschränken, aus der Finanzkrise herauszuwachsen."

Der Tschernobyl-Effekt

Mit der allgegenwärtigen Schuldenkrise und den steigenden Energiepreisen benennt Münchau immerhin zwei bereits zuvor virulente Phänomene, die aus einem fundamentalen Krisenprozess des Weltkapitalismus resultieren, und die nun durch das japanische "Nuklearbeben" intensiviert werden. Fukushima könnte somit zum Tschernobyl unserer Gesellschaftsformation werden.

In der Endphase der Sowjetunion traten zwei Extremereignisse auf, die der Weltöffentlichkeit und der Bevölkerung dieses Imperiums dessen maroden Charakter voll offenbarten: Zum einen war es selbstverständlich der Super-Gau in Tschernobyl, der aufgrund der sowjetischen Geheimhaltungspolitik, des schlechten Krisenmanagements und der massenhaften "Verheizung" von Menschenleben - der sogenannten "Liquidatoren" - für Empörung sorgte. Die Folgen eines 1988 die armenische Stadt Spitak nahezu vollständig verwüstenden Erdbebens ließen sich nicht unter einem Sarkophag aus Stahlbeton verbergen.

Die sowjetische Führung sah sich erstmals genötigt, um ausländische Hilfe bei der Katastrophenbekämpfung zu ersuchen, da das in Stagnation versunkene Imperium mit der Bewältigung der Folgen dieses Bebens – bei dem circa 25.000 Menschen umkamen – überfordert war. Das verknöcherte spätsowjetische System war nicht mehr in der Lage, adäquat auf diese Extremereignisse zu reagieren oder gar alternative Entwicklungswege aufzuzeigen, was einen massiven Delegitimierungsschub des Systems innerhalb der Bevölkerung auslöste. Weder Tschernobyl noch Sidak haben die Sowjetunion "zu Fall" gebracht, aber beide Katastrophen beschleunigten die entsprechenden systemischen Erosionsprozesse.

Bei der Katastrophe in Japan fielen Tschernobyl und Sidak ineinander. Ein von Krisentendenzen gekennzeichnetes System - dies trifft aktuell auf Japan wie das Weltsystem zu - wird durch dieses Extremereignis zusätzlich destabilisiert; diese zusätzliche "äußere" Erschütterung beschleunigt die Krisendynamik weiter. Und es ist eben dieses natürliche Extremereignis, das auch den Glauben an die "Natürlichkeit" unserer Gesellschaftsformation erschüttert.

Die Schockwellen des japanischen Nuklearbebens lösten somit auch ideologische Ernüchterungsmomente aus, die bis in die Chefredaktionen der Wirtschaftspresse reichen. Ein Riss in der Matrix entsteht. Hierbei verliert unsere gern als "Marktwirtschaft" bezeichnete Gesellschaft den Schleier des Selbstverständlichen, der sie ansonsten umgibt - und gestandene Wirtschaftsjournalisten und Wirtschaftsideologen bringen dann Wörter und Begriffe wie "Apokalypse", "Welt ohne Halt" oder kapitalistische "Kernschmelze" zu Papier. Die Endzeitstimmung ist so weit verbreitet, dass inzwischen die entsprechenden Erzeugnisse der Kulturindustrie nicht mehr termingerecht publiziert werden.

Der Kapitalismus und die Katastrophe

Selbst wenn der Super-Gau in Fukushima verhindert werden kann, wird diese Katastrophe die Widersprüche und Krisentendenzen innerhalb des kapitalistischen Weltsystems tatsächlich verschärfen, wie etwa der Ökonom Stephen S. Roach gegenüber der FTD ausführte:

Dieser "Japan-Schock" ereignet sich nämlich nicht gerade in Zeiten großer wirtschaftlicher Stärke. Das gilt nicht nur für Japan selbst, wo seit den frühen 1990er Jahren zwei verlorene Jahrzehnte eine einst dynamische Volkswirtschaft auf einen Wachstumskurs von weniger als 1 Prozent zurückwarfen. Es gilt auch für die Weltwirtschaft insgesamt, die sich gerade erst von den Folgen der schlimmsten Finanzkrise und Rezession seit den 1930er Jahren zu erholen begann. Außerdem ist der Japan-Schock nicht der einzige negative Faktor, der heutzutage eine Rolle spielt. Die Auswirkungen drastisch steigender Ölpreise und anhaltender Staatsschuldenprobleme in Europa sind ebenfalls sehr beunruhigend. Jeder dieser Schocks für sich allein kommt vielleicht nicht als der sprichwörtliche Tropfen infrage, der das Fass zum Überlaufen bringt, aber die Kombination und der Zusammenhang sind, gelinde gesagt, irritierend.

Stephen S. Roach

Kurzfristig sind aber vor allem die Produktionsausfälle von Bedeutung, die insbesondere der IT-Branche und dem Fahrzeugbau drohen. Hierbei ist vor allem Südostasien betroffen, da inzwischen 54 Prozent aller japanischen Ausfuhren – hierunter auch wichtige Vorleistungsgüter – in die aufstrebende Region fließen. Die zunehmende Herausbildung transnationaler Produktionsketten und die Auflösung von Lagerbeständen dienten der Kostensenkung im scharfen Verdrängungswettbewerb, den diese unter Überkapazitäten leidenden Branchen ausgesetzt sind. Die Kostenvorteile, die etwa die Just-In-Time-Produktion mit ihrer Verlagerung von Lagerhallen auf die Verkehrswege mit sich brachte, gingen aber mit einer stärkeren Labilität und Krisenanfälligkeit des Gesamtsystems einher.

Dabei legt die Katastrophe in Japan auch hier nur die Fehlerhaftigkeit des konkurrenzvermittelten betrieblichen Kostenkalküls bloß, an dem sich alle für den anonymen Weltmarkt produzierenden Wirtschaftssubjekte orientieren müssen. Für ein jedes sich in Marktkonkurrenz befindliche Unternehmen ist es überlebensnotwendig, solche Rationalisierungsmaßnahmen durchzuführen, die kurzfristig die Profitabilität steigern, da es sonst aufgrund mangelnder Konkurrenzfähigkeit in die Pleite getrieben würde. Die Tendenzen zur Erhöhung der Produktivität und Profitabilität setzen sich gesamtgesellschaftlich durch, gerade weil jedes Unternehmen nur seine engen betriebswirtschaftlichen Zielsetzungen der Renditemaximierung verfolgt.

Diese enge "betriebswirtschaftliche" Handlungsperspektive aller Marktsubjekte hat keinen Platz für "gesamtgesellschaftliche" Erwägungen, obwohl die Handlungen der Marktteilnehmer gesamtgesellschaftliche Strukturveränderungen nach sich ziehen – die sich aber unbewusst, sozusagen "hinter dem Rücken" der Marktsubjekte vollziehen. Zugespitzt ließe sich somit formulieren, dass es gerade der konkurrenzvermittelte Rationalisierungsprozess aller Unternehmen in den genannten Wirtschaftssektoren eine besonders krisenanfällige Wirtschaftsstruktur hervorgebracht hat.

Lang- und mittelfristig werden die vom FTD-Kommentator Münchau und von Roach erwähnten Krisenfaktoren an Gewicht gewinnen, also die Schuldenkrise und der Anstieg der Ressourcen- und Energiepreise. Japan ist - wie eigentlich alle Industrienationen - mit einem gigantischen und auch beständig wachsenden Schuldenberg konfrontiert. In Nippon verschuldete sich vor allem der Staat, dessen Verbindlichkeiten sich auf inzwischen mehr als 200 Prozent des Brutinlandsprodukts summieren. Dieses unter allen Industrieländern einmalig hohe Schuldenniveau konnte nur deswegen so lange aufrecht gehalten werden, weil der japanische Staat von der hohen Sparquote im Inland profitierten konnte und sich vor allem auf dem japanischen Binnenmarkt zu niedrigen Zinsen verschuldete.

Mit der auch in Japan sinkenden Sparquote und den finanziellen Mehrbelastungen für Bürger wie Unternehmen aufgrund des Erdbebens dürfte diese günstige Kreditquelle bald versiegen. Bereits jetzt führte die Katastrophe zu einem Rückfuß japanischer Investitionen aus dem Ausland, der einen raschen Anstieg des Yen provozierte. Erst aufgrund massiver internationaler Interventionen auf den Währungsmarkt konnte die Yen-Aufwertung vorläufig gestoppt werden, unter der speziell die japanische Exportindustrie zu leiden hat.

Der japanische Schuldenberg entstand in den 90er Jahren, als das Land in wirtschaftlicher Stagnation versank, die mittels immer neuer stattlicher Konjunkturpakete überwunden werden sollte. In dieser Ära gab der japanische Staat Unsummen für den Aufbau genau jener Infrastruktur aus, die nun teilweise zerstört wurde. Diese Verschuldungsdynamik diente vor allem dem Zweck, den dauerhaft stotternden Konjunkturmotor in Japan noch am Laufen zu erhalten.

Der Weg, die schwindsüchtige Konjunktur vermittels staatlicher Schuldenmacherei zu stützen, mag eine japanische Eigenart darstellen, doch auch in anderen Industrieländern funktioniert der Kapitalismus längst nur noch "auf Pump". In den USA, Großbritannien, Irland, Spanien oder in weiten Teilen Osteuropas wurde diese zusätzliche schuldenfinanzierte Nachfrage vermittels der wild wuchernden Finanzmärkte generiert, die zumeist in einer Spekulationsblase auf den Immobiliensektoren dieser Länder kulminierte.

Nach dem Platzen der entsprechenden Spekulationsblasen erfolgte die übliche Sozialisierung der Krisenkosten, indem die ausstehenden Verbindlichkeiten verstaatlicht wurden, weswegen sich nun die staatlichen Schuldenberge in der Eurozone und den USA rasch dem japanischen Niveau annähern. Hieraus resultierte die Hans-Werner Sinn gemachte Beobachtung, wonach es zwei "Krisenwellen" - im Finanzsektor und bei den Staatsfinanzen - gegeben hätte.

Die Weltwirtschaftskrise tritt also vor allem als eine Schuldenkrise in Erscheinung, und es ist genau dies weltweit hohe Verschuldungsniveau, das einen raschen Wiederaufbau in Japan erschweren dürfte. Die globale Schuldenmacherei der letzten Jahrzehnte hat nichts mit einem fiskalischen Schlendrian der betroffenen Staaten tun, oder mit einem unverantwortlichen "Leben auf Pump" der einzelnen Kreditnehmer. Die Verschuldungsorgie ist selbst nur Folge einer inneren systemischen Schranke, an die das kapitalistische Weltsystem stößt.

Der Kapitalismus ist gerade aufgrund der oben dargelegten konkurrenzvermittelten Produktivitätssprünge schlicht zu produktiv für sich selbst geworden (Krisenmythos Griechenland). Spätestens seit der mikroelektronischen Revolution der 1980er Jahre konnten in nahezu allen Industriesektoren massive Rationalisierungsschübe erzielt werden, die zu einer permanent schwelenden "Krise der Arbeitsgesellschaft" führten. Das langsame Verschwinden der Arbeit aus den immer produktiveren Warenproduktion wurde durch die Schaffung zusätzlicher schuldengenerierter Nachfrage in den aufgeblähten Finanzsektoren kompensiert, wodurch massive Rezessionen jahrelang verhindert werden konnten - im Fall Japans waren es die direkten Staatsausgaben.

Illusionen der "schöpferischen Zerstörung"

Mit einem immer höheren Produktivitätsniveau stiegen auch die gesellschaftlichen wie unternehmerischen Investitionen, die zu Aufrechterhaltung der Warenproduktion notwendig werden, während deren Beschäftigungseffekte immer geringer ausfallen. An diesen Tendenzen werden auch alle Illusionen zerbrechen, die unter impliziten Rückgriff auf das von Joseph Schumpeter ersonnene Theorem der "schöpferischen Zerstörung" einen konjunkturellen Neuanfang des Kapitalismus herbeisehnen.

Demnach würden die Unternehmen der regenerativen Energieerzeugung zu den "Krisengewinnlern" und "Profiteuren" des Nuklearbebens in Japan gehören. Auch die kurz nach dem Erdbeben in Japan rasant steigenden Aktienkurse von Unternehmen aus der regenerativen Energiewirtschaft könnten den Eindruck erwecken, dass hier ein neuer wirtschaftlicher Leitsektor am Entstehen ist, der die Transformation der energetischen Basis der Industriegesellschaften bewerkstelligen und der Kapitalverwertung neue Märkte erschließen könnte. Der Kapitalismus würde diesen Vorstellungen zufolge phönixgleich aus der verstrahlten Asche rund um Fukushima auferstehen.

Die gesamtgesellschaftliche Durchsetzung des Automobils, die "Automobilmachung" der führenden Industriegesellschaften (Das Ende des "Goldenen Zeitalters" des Kapitalismus und der Aufstieg des Neoliberalismus), brachte zuletzt solch eine umfassende Umgestaltung des gesamten Kapitalismus mit sich, die jauch zu einem ungeheuren konjunkturellen Aufschwung führte, der erst in den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts erlahmte. Neue Produkte, die mit arbeitsintensiven, neuartigen Produktionsmethoden einhergingen, eröffneten der Kapitalverwertung neue Märkte, und sie ließen in vielen Industriestaaten Vollbeschäftigung – ja Arbeitskräftemangel – entstehen. Den Staaten flossen hierdurch die Steuermittel zu, mit denen die notwendige Verkehrsinfrastruktur geschaffen wurde, deren Aufbau nicht im Rahmen von Marktprozessen bewerkstelligt werden kann.

Doch genau solch ein notwendiger, grundlegender Umbau der energetischen Basis der Gesellschaft scheitert an den oben genannten Krisentendenzen: Bei dem heutigen Produktivitätsniveau kann die Produktion von Solarzellen oder Windkraftwerken keine vergleichbaren Beschäftigungseffekte zeitigen; und eine Anpassung der Energieinfrastruktur an den Bedarf der erneuerbaren Energien dürfte an den staatlichen Schuldenbergen scheitern.

Allein ein Atomausstieg würde, vorsichtigen Schätzungen zufolge, an die 200 Milliarden Euro kosten. Die Kosten für einen Umbau der energetischen Infrastruktur, der bei einer Durchsetzung der regenerativen Energieträger unerlässlich wäre, würden sich ebenfalls allein in der BRD auf hunderte von Milliarden Euro summieren. Das auf zentralisierte Energieerzeugung ausgelegte Stromnetz müsste eine totale Umstrukturierung erfahren:

Eine Stromwirtschaft mit Erneuerbaren als tragende Säule ist zudem ein technisch extrem anspruchsvolles Gebilde. Ihr Aufbau kommt einer technologischen Revolution gleich. Heute wird in jeder Sekunde so viel Strom produziert, wie gerade benötigt wird. Dieses System schafft es, die Schwankungen von Wind- und Sonnenenergie auszugleichen. Übernehmen sie die Führungsrolle, so gelten plötzlich ganz andere Grundsätze. Die Stromnachfrage muss sich dann danach richten, was gerade produziert wird. Dazu braucht man Stromspeicher, schlaue Geräte, die auf Preissignale reagieren, und intelligente Netze, die Strom in beide Richtungen schleusen können statt nur von Kraftwerk A zu Verbraucher B.

Financial Times Deutschland

Die hoch verschuldeten Staaten, die in der Krise mit "Abwrackprämien" die Automobilindustrie stützten und milliardenschwere Rettungspakete für die Finanzmärkte schürten, werden diesen finanziellen Kraftakt kaum schultern können. Eine zusätzliche Belastung der Konsumenten mit Steuern oder höheren Strompreisen kommt einer Senkung der Massennachfrage gleich.

Die ausgebrannte Welt

Neben den - staatlich oder privat durchgeführten - Verschuldungsprozessen, die nun eine Energiewende erschweren, bestand die zweite Krisenreaktion des kapitalistischen Systems in einer verstärkten Expansionsbewegung. Diese "Flucht nach vorne" aus der Stagnation in den Zentren des kapitalistischen Westsystems führte das Kapital in dessen Peripherie, in die "Schwellenländer", deren Boom die vom FTD-Kommentator Münchau angesprochene Energiekrise mitbefördert.

Der Kapitalismus stellt eigentlich eine recht archaische Produktionsweise dar, die in den Irren- und Arbeitshäusern der Frühen Neuzeit ausgebrütet wurde und im 19. Jahrhundert zu vollen Entfaltung gelangte, als Kinderhände zu Elendslöhnen in 12-Stunden-Schichten die Endmontage von Waren betreiben, deren Einzelteile unter enormer Ressourcen- und Energieverschwendung möglichst "billig" produziert wurden. Die vom Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten entfachten Produktivkräfte sprengen die Hülle der Produktionsverhältnisse. Das System strebt folglich auf seine alten Tage zurück in diese Vergangenheit, weswegen die Arbeitsbedingungen in Chinas Fabrikkasernen ähnlich selbstmörderisch wie im Manchester des 19. Jahrhunderts sind.

Es ist aber unsinnig, etwa China den rasanten Anstieg des Energieverbrauchs vorzuwerfen – als Bürger der Autofahrernation Deutschland. Chinas kapitalistische Industrialisierung verläuft in denselben Bahnen, wie in den Industrienationen nach dem Zweiten Weltkrieg, also vor allem vermittels der oben dargelegten Automobilmachung der Gesamtgesellschaft. Diese ökologisch verhängnisvolle Entwicklung ist nicht etwa Resultat einer kurzsichtigen Politik der chinesischen Führung, sondern Ausdruck der systemimmanenten Zwänge der kapitalistischen Produktionsweise. Nur der Neuaufbau eines Automobilsektors und der entsprechenden Infrastruktur können zumindest kurzfristig die Beschäftigungseffekte erzielen, die notwendig sind, damit China nicht an seinen sozialen Widersprüchen zerbricht.

Dieser Prozess einer nachholenden Automobilmachung Chinas ist aufgrund des nun weitaus höheren Produktivitätsniveaus aber prekär und nur in einer besonders starken ökonomischen Expansionsbewegung aufrechtzuerhalten – wie auch aufgrund des gnadenlos niedrigen Lohnniveaus in China, das noch massenhafte Anwendung von Lohnarbeitern rentabel macht.

Generell befindet sich das kapitalistische System seit seiner gesamtgesellschaftlichen Durchsetzung im 18. und 19. Jahrhundert auf einer "Flucht nach vorn" vor seinen eigenen Widersprüchen. Durch die konkurrenzvermittelte Produktivitätssteigerung untergräbt das Kapital seine eigenen Existenzgrundlagen, weswegen immer neue Industriesektoren oder Märkte der Kapitalverwertung erschlossen werden müssen.

Für die von Überkapazitäten geplagte Automobilindustrie bildet der potentiell gigantische Absatzmarkt in China einen letzten Hoffnungsschimmer. Selbstverständlich würde eine PKW-Dichte im Reich der Mitte, wie sie etwa in der Bundesrepublik herrscht, die globale Klima- und Energiekrise vollends eskalieren lassen, doch für solche ökologischen Erwägungen ist der Kapitalprozess "blind". Sollte die oben dargelegte "innere Schranke" des Kapitalismus nicht zuvor eine erneute Weltwirtschaftskrise auslösen, werden trotz Fukushima, Klima- und Ressourcenkrise vor allem in Schwellenländern weitere Atomkraftwerke gebaut werden, wird der Ausstoß von PKWs in China oder Indien weiter ansteigen, werden noch mehr Kohlekraftwerke ans Netz gehen. Der Ressourcen- und Energiebedarf des globalen kapitalistischen Konjunkturmotors wird weiter ansteigen, bis er an seine "äußere Schranke" stößt, die in der Endlichkeit der Ressourcen unseres Planeten besteht (Mit Vollgas gegen die Wand).

Dieser permanente Wachstumszwang des kapitalistischen Systems kann nicht durch Reformen überwunden werden, er resultiert aus dem Wesen des Kapitals selber. Als Kapital fungiert Geld, das durch einen permanenten Investitionskreislauf vermehrt, also "akkumuliert" oder "verwertet" werden soll. Das Wirtschaftswachstum ist hierbei nur der volkswirtschaftlich sichtbare Ausdruck der Kapitalakkumulation, die tatsächlich an eine "stoffliche Grundlage" gebunden ist. Spätestens seit der Finanzkrise wissen wir alle, dass dieser Prozess der Kapitalakkumulation an die Warnproduktion gekoppelt ist und nicht auf den Finanzmärkten aufgrund reiner Spekulationsprozesse dauerhaft aufrecht erhalten werden kann.

Kapitalistischer, sich in Warenfülle äußernder "Reichtum" muss erarbeitet werden: Der Unternehmer investiert sein als Kapital fungierendes Geld in Rohstoffe, Arbeitskräfte und Energie, um in Fabriken hieraus neue Waren zu schaffen, die mit Gewinn verkauft werden. Das hiernach vergrößerte Kapital wird in diesem uferlosen Verwertungsprozess des Kapitals in noch mehr Energie, Rohstoffe etc. investiert, um wiederum noch mehr Waren herzustellen. Dieser potentiell endlose Kernprozess kapitalistischer Produktion setzt permanentes Wachstum des Kapitals voraus – niemand investiert sein Geld, um danach weniger oder genauso viel zu erhalten. Hiermit müssen auch die Aufwendungen – Rohstoffe und Energie – für diesen Verwertungsprozess permanent erhöht werden. Deswegen wird auch künftig der Rohstoff und Energiehunger anschwellen, und er wird höchstens durch die nächste Weltwirtschaftskrise oder den ökologischen und zivilisatorischen Kollaps unterbrochen.

Das Kapital strebt somit nach einer möglichst hohen "Selbstvermehrung"; es ist Geld, das zu mehr Geld wachsen will. Dieser "hohle", selbstbezügliche Prozess ist allen gesellschaftlichen oder ökologischen Folgen seiner beständig anwachsenden, alle Weltregionen und Gesellschaftsbereiche erfassenden Verwertungstätigkeit gegenüber blind. Der permanent anschwellende Prozess der Kapitalakkumulation, der die innerste Treibfeder des kapitalistischen Konjunkturmotors bildet, "verbrennt" somit die Ressourcen der Erde, die für unser Überleben notwendig sind. Die zusehends schwindenden Ressourcen unserer Welt bilden das immer enger werdende Nadelöhr, durch das sich dieser Prozess der Kapitalverwertung unter immer größeren Friktionen hindurchzwängen muss.

Das Kapital ist aufgrund der Notwendigkeit permanenter Expansion das logische Gegenteil einer ressourcenschonenden Wirtschaftsweise, die notwendig wäre, um ein Überleben der menschlichen Zivilisation zu sichern. Das Kapital stellt sozusagen einen Prozess der "effizientesten Ressourcenverschwendung" dar, der keine menschlichen Bedürfnisse kennt, sondern nur die zahlungskräftige "Nachfrage" derjenigen Menschen, die noch nicht aus dem Prozess der Kapitalverwertung herausgeschleudert wurden. Deswegen gibt ja auch in den Hungergebieten der Dritten Welt keine Nachfrage nach Lebensmitteln, während zugleich fünf Prozent der weltweiten Getreideproduktion zur Deckung von 0,3 Prozent der weltweiten Energienachfrage verwendet werden.

"Die Autos fressen die Menschen", könnte in Abwandlung der bekannten Bemerkung von Thomas Morus über die Menschen fressenden Schafe formuliert werden. Das gesamte kapitalistische Weltsystem befindet sich im Bann dieses letztendlich selbstzerstörerischen Prozesses, der keine Rücksicht auf Mensch und Natur nehmen kann und der bis vor kurzen noch als die selbstverständlichste, "natürliche" Sache der Welt begriffen wurde.

Kernkraft und Kapital

Doch inzwischen hat der durch das japanische "Nuklearbeben" ausgelöste Schock selbst die bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ansonsten herrschende Weltanschauung erschüttert, wonach die gegebene Gesellschaftsordnung als die "besten aller denkbaren Welten" zu gelten habe. Es lohnt sich, diese stellenweise doch radikale Gesellschaftskritik von Harald Welzer im konservativen Leitmedium der Bundesrepublik ausführlich zu zitieren:

Der GAU in Japan hat für den Augenblick auch die Gewissheit kontaminiert, in der besten aller denkbaren Welten zu leben … Das Setzen auf Kernkraft ist ja nur ein Symptom für den prinzipiell unstillbaren Energiehunger dieses Gesellschaftsmodells; die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko im vergangenen Jahr, heute schon vergessen, ein anderes; alle anderen Desaster, die das Prinzip der haltlosen Ressourcenübernutzung anrichtet, kann man gar nicht aufzählen. ... Jared Diamond hat in seinem Buch "Kollaps" gezeigt, dass Gesellschaften, die mit bedrohlichen Veränderungen in ihren Überlebensbedingungen konfrontiert sind, vor allem eins tun: Die Strategien intensivieren, mit denen sie zuvor, oft jahrhundertelang, erfolgreich waren. Wenn also die fruchtbaren Böden weniger werden, quetscht man mehr aus ihnen heraus und richtet sie desto schneller zugrunde. Wenn das Öl weniger wird, bohrt man in der Tiefsee und erhöht die Risiken, und wenn die Energie nicht reicht, baut man Atomkraftwerke in Erdbebengebiete.

Harald Welzer in der FAZ

Welzer schildert hier zwar sehr schön die destruktive Dynamik unseres Gesellschaftssystems, doch werden hierbei die Folgen der kapitalistischen Wirtschaftsweise zu den Ursachen der beklagten Fehlentwicklungen verklärt. Der "unstillbare Energiehunger" unseres Gesellschaftsmodells resultiert ja gerade aus dem Prozess der Kapitalakkumulation. Das "Prinzip der haltlosen Ressourcenverschwendung" ist nicht Ursache, sondern Folge des Wachstumszwangs, der dem oben dargelegten Kapitalprinzip logisch innewohnt. Obwohl Welzer dem Kapitalismus sogar "perfide" Eigenschaften zuspricht, bleibt der Begriff des Kapitals postmodern hohl. Für einen ersten zaghaften Schritt in Richtung radikaler Kapitalismuskritik ist dieser Text aber trotz der genannten Mängel nicht schlecht. Nur weiter so!

Wirklich problematisch wird der Text aber erst dann, wenn es darum geht, Schlussfolgerungen aus der schiefen Diagnose zu ziehen: Dann ist man sehr schnell dabei, auf bewährte Rezepte zu setzen und eine weitere Runde im "Gürtel-Enger-Schnallen" zu propagieren:

Der GAU zeigt: Ressourcen sind so endlich wie Gesellschaftsmodelle, die diese schlichte Tatsache ignorieren. Die Komfortzone ist ab heute geschlossen.

Harald Welzer

Bei der Ursachenanalyse ist auch der eingangs zitierte Chefredakteur des Handelsblatts bemüht, die Schuld auf möglichst alle Schultern zu verteilen:

Wir sind nicht das Opfer der Veränderung, wir sind ihre Quelle. Die Komplexität der heutigen Welt ist Menschenwerk. Uran als Brennstoff war kein Gotteseinfall. Die Produkte der Investmentbanker finden sich auch in unseren Depots.

Gabor Steingart

Ist es wirklich so einfach? Haben wir alle - vom Arbeitslosen, über den Investmentbanker bis zum Atommanager - Uran als eine Energiequelle erschlossen und spekulative "Finanzinstrumente" in unseren Depots geparkt? Sind wir gar alle Heuschrecken, wie einst eine Stern-Titelstory suggerierte? Offensichtlich dient diese Gleichmacherei, die immer in Katastrophen- und Krisenzeiten in den entsprechenden Kommentaren anklingt, der öffentlichen Exkulpierung der betreffenden Gruppen von Funktionsträgern, die mit ihren Handlungen zur Ausformung dieser Fehlentwicklungen beigetragen haben.

Dennoch verfehlt die in Krisenzeiten sehr beliebte Jagt auf Sündenböcke - ob nun Atomlobbyist oder Spekulant - den Kern des Problems. Obwohl die kapitalistische Gesellschaftsformation selbstverständlich "Menschenwerk" ist, handelt es sich hierbei nicht um einen bewusst gesteuerten Prozess. Der Kapitalismus ist von der Entfaltung einer blinden, kaum kontrollierbaren Dynamik gekennzeichnet, deren zerstörerische Potenzen zuletzt in der Weltwirtschaftskrise einer Naturgewalt gleich über die Gesellschaft hereinbrachen. Hier haben nun Kapital und Kernkraft sehr viel gemeinsam. Auf einer abstrakten Ebene gleichen sich Kernspaltung und Kapitalverwertung frappierend; beides sind letztendlich unkontrollierbare Prozesse, die – einmal in Gang gesetzt – nicht einfach gestoppt werden können.

Die "menschengemachte" Kapitaldynamik tritt den Menschen gesamtgesellschaftlich als eine "fremde" Macht gegenüber, die ihr Leben durch "Sachzwänge" den absurdesten Restriktionen unterwirft. Unsere Wirtschaftsweise kommt einem "äußeren" Verhängnis gleich, das über uns mittels eines "Finanzbebens" oder einer Weltwirtschaftskrise hereinbrechen kann. Wie diese gesamtgesellschaftliche Dynamik aus den "betriebswirtschaftlichen" Entscheidungen der einzelnen Marktsubjekte erwächst, wurde weiter oben im Text anhand der Erfordernisse der Just-in-Time-Produktion beispielhaft verdeutlicht.

Diese Eigendynamik des Kapitals resultiert aus den Aktionen der in Konkurrenz befindlichen Marktsubjekte, die für den anonymen Weltmarkt produzieren, der als einzige Vermittlungsebene der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion fungiert – und genau hier setzt sich das Kapitalprinzip auch gesamtgesellschaftlich durch, das gerade den Marktsubjekten zu Durchbruch verhilft, die das beste betriebswirtschaftliche Ergebnis erzielen. Aus dieser gesamtgesellschaftlichen Eigenbewegung des Kapitals, das einfach nach einer möglichst hohen Verwertungsrate strebt, resultieren die absurdesten Entwicklungen, denen wir uns konfrontiert sehen: Es ist schlichter Irrsinn, Güter massenhaft um den ganzen Erdball zu transportieren, weitere Kernkraftwerke in Erdbebengebieten zu errichten oder trotz zunehmenden Klimawandels immer mehr Autos zu fabrizieren. Und trotzdem werden all diese Entwicklungen auf globaler Ebene noch zunehmen, es werden mehr Ressourcen und Energie verbraten werden, weil aus Geld mehr Geld werden muss.

Das System ist die Katastrophe. Die gesamte menschliche Zivilisation ist zu einem Abfallprodukt der Kapitalverwertung verkommen, und die um sich greifenden Krisentendenzen deuten schlicht darauf hin, dass die Menschheit sich nicht mehr rentiert.