Das Universum als Nussschale

Stephen Hawking in Potsdam

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Die Veranstaltung "The Search for Quantum Gravity: Is There an Ultimate Truth in Physics?", organisiert vom Einstein-Forum und dem Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik als Abschluß der internationalen Konferenz STRINGS'99 am 24. Juli 1999, war ohne Zweifel ein Höhepunkt des wissenschaftlichen Lebens in der Region. Nachdem vor einigen Wochen schon der bekannte Physiker Roger Penrose einen gut besuchten Vortrag an der Humboldt-Universität gehalten hat, sprach jetzt sein langjähriger Gesprächspartner und Kontrahent Stephen Hawking über kosmologische Fragen und konnte sich über reges Interesse von Seiten der Öffentlichkeit freuen.

Hunderte von Menschen versuchten vergeblich, Einlass in das Gebäude zu erlangen. Eine Stunde vorher begann die Ausgabe des begrenzten Kartenkontingents. Offenbar hatten die Veranstalter sträflich das Quantum an Aufmerksamkeit unterschätzt, das einem Kultstar der Wissenschaft wie Stephen Hawking entgegengebracht wird. Der Audimax der Universität Potsdam, zugegeben idyllisch gelegen im Park Sanscoussi, hat die Ausmaße eines Tanzsaals, und die Videoübertragung fand in einem noch kleineren Raum statt. In den USA werden bei solchen Gelegenheiten Hallen angemietet (und dann allerdings auch saftige Eintrittspreise genommen). Viele bevölkerten infolgedessen den Rasen vor den Absperrungsgittern, wo sie einer Audioübertragung lauschten.

Stephen Hawking von der University of Cambridge hielt seine Präsentation unter dem Titel "The Universe in a Nutshell". Nachdem er in seinem zusammen mit Penrose veröffentlichten Buch "Raum und Zeit" (bei Rowohlt 1998) einige Spitzen gegen die Stringtheorie formuliert hat - so seine Frage, ob sie überhaupt eine "ernsthafte wissenschaftliche Theorie" sei, da sie bisher keine überprüfbaren Vorhersagen geleistet habe -, ist die Schlussfolgerung naheliegend, dass er eher eine Randfigur bei der Konferenz war. Ob das Feld der "Suche nach der Weltformel", wie der Spiegel in dieser Woche titelte, aber allein den Stringtheoretikern überlassen bleibt, mag dahingestellt sein. Dafür beherrschte Hawking das Bild in der Öffentlichkeit.

Universum ohne Grenzen

Die beiden anderen Vortragenden an diesem Nachmittag waren Bernard Schutz vom Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Golm) und Edward Witten vom Institute for Advanced Study (Princeton), einer der führenden Vertreter der Stringtheorie. Hawking hielt keinen Fachvortrag, sondern ließ Erkenntnisse Revue passieren, die zum Teil schon in seinem Bestseller "Eine kurze Geschichte der Zeit" (bei Rowohlt 1988) nachzulesen sind.

Der Titel "The Universe in a Nutshell" bezieht sich auf ein Zitat aus Shakespeares "Hamlet", in dem es sinngemäß darum geht, dass man auf eine Nussschale beschränkt sein und sich trotzdem als "König eines unendlichen Raumes" fühlen könne. Hawking faßte zusammen, dass bei dem Versuch, das Universum zu verstehen, enorme Fortschritte gemacht worden seien; noch gebe es zwar kein komplettes Bild, aber bis dahin sei es nicht mehr weit. Er wies auf die Bedeutung des Hubble-Teleskops hin, dass einen unschätzbaren Beitrag für die Kosmologie geleistet habe. Wie er in "Raum und Zeit" beschrieben hat, ist die Kosmologie auf immer bessere astronomische Instrumente angewiesen, die sie mit empirischen Daten versorgen. Die Entdeckung der Expansion des Universums durch Edwin Hubble in den zwanziger Jahren bezeichnete er als eine der großen intellektuellen Revolutionen dieses Jahrhunderts.

Das Universum gebe die Informationen über seinen Beginn nicht preis. Gab es überhaupt einen Beginn und warum? Hawking beschrieb Probleme der Einsteinschen Allgemeinen Relativitätstheorie und ging kurz auf die Leistungen der Quantenphysik ein. Einsteins berühmtes Diktum: "Gott würfelt nicht" wandelte Hawking so ab, dass nicht nur gewürfelt werde, sondern eine ganzes Spielcasino zur Verfügung stehe, dessen Regeln unbekannt seien. Die große Herausforderung der Physik sei weiterhin die Integration von Quantenmechanik und allgemeiner Relativitätstheorie. Bezug nahm er auch auf Richard Feynmans Idee der "vielfachen Geschichten" des Universums. In der Quantenmechanik erörtert Feynman die Möglichkeit, dass ein Partikel nicht "eine" Geschichte in der Raumzeit habe, sondern auf seinem Weg verschiedene Wahrscheinlichkeiten durchlaufe. Unter Umständen gebe es Geschichten des Universums, die kein intelligentes Leben hervorgebracht haben, meinte Hawking, wobei er kalauerte, dass der Mensch nicht unbedingt als intelligent anzusehen sei.

Das Universum sei in sich abgeschlossen, es gebe keinen Input von "außen". Es habe keine Grenzen in Raum und Zeit. Er verwies auf den Widerspruch, zuerst von dem Beginn des Universums gesprochen und dann die Idee von einem Universum ohne Grenzen vorgestellt zu haben. Er erklärte ihn damit, zwei verschiedene Zeiten des Universums zu unterscheiden: die imaginäre und die reale. Die reale Zeit sei die erlebbare. Sie wird in grafischen Darstellungen beispielsweise als horizontale Linie abgebildet, während die imaginäre Zeit die vertikale Dimension berühre. Ihr Konzept geht zurück auf die Vorstellung der imaginären Zahlen in der Mathematik. In dieser Zeit betrachtet, habe das Universum keinen Anfang und Ende, sei ein Universum ohne Grenzen. Man könne sie sich wie eine Sphäre vorstellen, die sich wie die Oberfläche des Globus spannt. Die Oberfläche der Erde habe auch keinen Anfang und Ende. Die Geometrie einer solchen modellhaften Abbildung des Universums hat im Unterschied zu der der Sphärenoberfläche allerdings vier Dimensionen und nicht zwei. Hier kommt sein Beispiel mit der Nussschale ins Spiel, das als Modell für diese Sphäre zu verstehen ist.

Die angekündigte Diskussion mit allen Teilnehmern und die Beantwortung von per Email eingeschickten Fragen fand leider nicht mehr statt.

Kultstar der Wissenschaft

Kaum jemand ist den intellektuellen Fragen der Stringtheorie gewachsen. Ihre Diskussion hat längst einen derartigen Abstraktionsgrad in der Mathematik erreicht, dass ihr Verständnis sich auf einige Hundert Personen auf der ganzen Welt begrenzen dürfte. Umso mehr wird die Bedeutung von Personen symbolisch aufgeladen, die den Eindruck erwecken, sie können diese mysteriösen Wissensgegenstände der Physik, etwa die Strings in ihren höheren Raumzeitdimensionen, dem Alltagsbewusstsein nahebringen. Hawking hat mit seinem Buch "Eine kurze Geschichte der Zeit" genau dies erreicht.

Doch die Aufmerksamkeit, die seiner Person entgegengebracht wird, nimmt mittlerweile irreale Züge an. "Größtes Genie der Menschheit in Berlin eingetroffen" war in der BZ Berlin zu lesen. Er hat eine einmalige Position im weltweiten Wissenschaftszirkus, die in der Vergangenheit mit der von Einstein vergleichbar war und die sich möglicherweise auch von seiner wissenschaftlichen Bedeutung gelöst hat. In lokalen Medien wurde zuvor für die Veranstaltung geworben. Das Ausmaß des Voyeurismus, mit dem sich Hawking konfrontiert sah, wird natürlich auch durch seine Behinderung gespeist. Eine dichte Traube von Leuten folgte Hawkings Rollstuhl, viele warteten vor der Absperrung, um einen Blick zu erhaschen. Die meisten waren allein gekommen, um seinen Vortrag zu hören.

Es war schon ein seltsam faszinierendes Gefühl, diese künstliche Stimme zu hören - sein Sprachsynthesizer habe einen "amerikanischen Akzent", wie er witzelte -, die mit bedeutungsvollen Pausen von den grundlegenden Dingen des Universums sprach. Der bisweilen launige Stil mag für deutsche Ohren etwas seltsam geklungen haben, aber sein Vortrag stand schon auf dem Programm von Veranstaltungen wie dem hundertjährigen Jubiläum der American Physical Society, wo es wohl nicht allzu ernst zuging und andere Beiträge sich um Star Trek-Physik und die Physik des Baseball drehten. Doch das tat der Hawking-Begeisterung, die sich in langem Applaus äußerte, keinen Abbruch. Die imaginäre Befriedigung lieferte Hawking allemal, einem bedeutenden Ereignis beigewohnt und einen kurzen Blick in die Mysterien der Wissenschaft geworfen zu haben.