Das Universum ordnen: "Mehr Infos = mehr Wissen = mehr Gewissen"

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Welche Bandbreite an Weltwissen Zahlen ausdrücken können und wie Wissenschaft für jeden zu vermitteln ist. Interview mit Rainer Winters.

Der Umweltjournalist und Autor Rainer Winters hat zwei Bücher geschrieben, die in der Form sehr ungewöhnlich sind, da sie aus Zahlen und Maßeinheiten bestehen. Im Titel dieser radikalen No-Nonsense-Prosa wird angekündigt, dass es um "10.000 wissenschaftliche Perspektiven" gehe.

Die ungewöhnlich rigide Form, von Kritikern als hochwissenschaftlich knapp gerühmt und das Versprechen auf wissenschaftliche Perspektiven waren Anlass, dem Autor, der auch für Telepolis Beiträge geschrieben hat, ein paar Fragen zu stellen.

12.000 Fakten

Sie hätten das Universum geordnet, heißt es in einer begeisterten Rezension Ihres Buches über den Raum. Um welche Erfahrung von der Welt geht es Ihnen?

Rainer Winters: Mir ging es in den beiden Bänden über Zeit und Raum um eine gebündelte Auswahl davon, was Natur- und Sozialwissenschaftler von der Welt wissen, und wie sie die Welt sehen. Mein Anteil dieser Erfahrung beläuft sich jedenfalls auf über 10.000 Stunden Recherchearbeit.

Dabei finde ich faszinierend, was man alles in unserer Welt als Raumzahl oder Zeitzahl ausdrücken kann.

Nehmen Sie das Beispiel der Zahl 29 Kilometer. 29 km ist die Grenzlänge zwischen dem Land Kuba und der US-amerikanischen Enklave Guantanamo Bay, die Länge aller Straßen in der britischen Kolonie Gibraltar (Stand 2007) und ebenso die Entfernung von der Berliner Innenstadt zum Konzentrationslager Sachsenhausen, in dem die Nazis zigtausende Menschen töteten.

Wie sehr haben wir Tausenden von Fakten, in beiden Büchern zusammengenommen, sollen es 10.000 sein, nötig? Werden wir nicht ohnehin schon mit vielen Fun Facts zerstreut?

Rainer Winters: Der Untertitel des Buches lautet 10.000 wissenschaftliche Perspektiven in zwei Bänden. Tatsächlich sind es ziemlich genau 12.000 Fakten, mit denen ich für wissenschaftliches Wissen begeistern möchte.

Nehmen Sie z. B. die Tatsache, dass der Meeresspiegel 2021 global im Schnitt um 3,0 mm stieg, was so viel ist wie die durchschnittliche Dicke unserer Großhirnrinde, die typische Dicke von Plastikabfallschichten an der Wasseroberfläche von Ozeanen oder die mittlere Dicke unserer Ozonschicht (bei 0 °C und 1 bar). Wenn wir wissen, was in der Natur alles 3 mm groß ist, können wir ein bewussterer Teil von ihr sein.

Mein Credo: Mehr Infos = mehr Wissen = mehr Gewissen.

"Dinge, die wir kennen, zeichnen wir größer"

Kritiker stellen heraus, wie sehr sie anhand der Verbindungen, die sie zwischen Maßeinheiten auftaten, ins Staunen gerieten. Von einem "Wunderwerk einer Zeitsammlung" ist zu lesen. Welche Rolle spielen da Weltanschauungen, zeigt sich da etwas Wichtiges, oder spielt da oft ein Zufall mit?

Rainer Winters: Wissenschaftler bewegen sich natürlich im Kontext ihrer eigenen Disziplin. So ist beispielsweise für Geologen der Arbeitsbereich von Pedologen, der lockere Erdboden oberhalb des Ausgangsgesteins, nur Dreck.

Mit unterschiedlichen Erfahrungen haben Menschen natürlich eine ganz eigene Sicht auf die Welt. Dinge, die wir kennen, zeichnen wir größer. Es ist ein wenig so wie in der Politik, wo manche Politiker nur die Fakten anführen, die sie selbst für wichtig halten. Andere wiederum sehen eher die Details, wohingegen wieder andere den Blick für das große Ganze haben.

Ich finde, die gefährlichsten aller Weltanschauungen sind von Leuten, die die Welt nicht angeschaut haben. Bei allem ist das Gute an der Wissenschaft an sich, dass sie per definitionem unabhängig von Weltanschauungen ist.

Wissenschaft für alle fassbar machen

Was hat sich für Ihre Arbeit durch die beiden Bücher und der Recherche dazu verändert? Ist Ihr Blick auf die Welt ein anderer?

Rainer Winters: Als jemand, der zwei Geheimsprachen gelernt hat, nämlich Chinesisch und Latein, beobachte ich, wie sich Menschen gerne von anderen abheben, indem sie Dinge mit einem latinisierten Namen bezeichnen, anstatt sie allgemein verständlich auf Deutsch zu sagen.

Nehmen Sie z. B. das Wort Bellizist anstatt Kriegstreiber. Ich finde, mit den beiden Büchern habe ich einen Weg gefunden, Wissenschaft für jedermann fassbar zu machen. Im Gegensatz zur Anwendung von Fremdwörtern ist jetzt neu, dass ich beim Übersetzen (der wissenschaftlichen Erkenntnisse in eine allgemeinverständliche Sprache) mehr Standardisierungen verwende.

Das Ziel ist aber dasselbe wie bei einem Verkaufsgespräch: Jemand dort abholen, wo er steht. Um dann mit einfachen Vergleichsbildern die Vorstellungskraft anzuregen.

Das Problem von Messungen

Wie sehr misstrauen Sie oder vertrauen Sie Messungen?

Rainer Winters: Was bei Messungen zu beachten ist, beschreibe ich in Band 1 über die Zeit. Normalerweise kann man nicht sehen, wie langsam das Gras wächst. Dinge, die lange andauern, halten wir für realer als Dinge, die nur kurz in unserem Bewusstsein auftauchen. Messungen müssen reproduzierbar sein, was sehr häufig nicht gegeben ist.

Wiederholte Messungen können außerdem allesamt falsche Ergebnisse liefern. Genauigkeit zeichnet sich durch präzise und zugleich richtige Messergebnisse aus. Wie nah die Messung beim wahren bzw. wirklichen Wert liegt, sagt uns die (Treff-) Genauigkeit.

Obwohl Beobachtungen immer zutreffen, kann man sich in der Wissenschaft der Wirklichkeit immer nur annähern. Selbst wenn wir uns die Methoden einer Studie anschauen, dann wissen wir noch lange nicht, ob die Messungen ordentlich notiert wurden.

Wichtig ist, dass sich aus einer Beobachtung noch kein Gesetz ableiten lässt. Die Vielzahl an Daten auf der Erde bringt es mit sich, dass wir in Zukunft sowieso immer stärker den Erklärenden glauben müssen, mehr als der Erklärung selbst. Nicht nur als Journalist lautet mein Motto: Die Dinge sagen, wie sie sind.