Die Macht der Maßeinheiten: Von Daumenregeln und Aggressionsdistanzen

(Bild: KI-generiert)

Von Elefantenangriffen bis Politik: Die Kunst der Distanzmessung in Natur und Kultur. Wie das Inch zum Maß politischer Macht wurde. Buchauszug

Wer nur lange genug im afrikanischen Busch unterwegs ist, wird mit dem Scheinangriff eines Elefanten oder Löwen konfrontiert. Nähert man sich beiden bis auf ein paar Meter, nehmen sie nicht selten einen Scheinangriff (mock attack) vor.

"Keinen Schritt weiter": Die Aggressionsdistanz

Ebenso wie bei Fluchtdistanzen unterscheiden sich die Aggressionsdistanzen je nach Tierart. Schleiereulen zum Beispiel reagieren mit Flucht ab einer Annäherung zwischen 8 Meter bis 20 Metern. Auch in der Politik spielen Drohgebärden eine wichtige Rolle. Dabei hat jede Kultur ihre ganz eigene Aggressionsdistanz.

Im deutschen Kultur- und Sprachraum signalisiert die drohende Person mit "Keinen Schritt weiter", ihr lieber keine 75 bis 80 Zentimeter zu nahe zu kommen, sonst könnte etwas passieren. Noch weniger tolerant ist der anglo-amerikanische Sprachraum.

"Nur einen Inch voran und Du hast ein Problem"

"Schreite nur einen Inch voran und Du hast ein Problem". So bemühten die USA das Inch, also 2,54 Zentimeter, als Aggressionsdistanz beim scheibchenweisen Hinarbeiten der Nato-Staaten auf ein Einlenken der Sowjetunion in der gesamtdeutschen Frage.

Bei der Vermessung des Raumes orientieren sich Kulturnationen gerne an den Proportionen des eigenen Körpers und der Umwelt.

So arbeiten Mediziner, Radiologen und selbst Whiskey ausschenkende Gastwirte mit dem Fingerbreit. Maschinenbauer, Tontechniker und Bekleidungsverkäufer tun es mit der Einheit Zoll, welche sich von einem kurzen Holzstück (mittelhochdeutsch. zol) ableitet.

Fuß, Zoll und Daumenbreit

Zu Zeiten der Römer maß der menschliche Fuß 29,6 Zentimeter. Ein Schritt (lat. gradus) entsprach zweieinhalb Fuß, eine Fingerbreite (lat. digitus) 1,85 cm und eine Uncia dem zwölften Teil (engl. inch) eines Fußes. Ihre Maßeinheiten hatten Römer und auch Griechen von den Ägyptern entlehnt, deren Einheiten wiederum auf die Mesopotamier zurückführbar sind.

Maßgleich mit den Begriffen Zoll und Daumenbreit, hat sich das 2,54 Zentimeter lange Inch bis heute gehalten. In Großbritannien und den USA ist das Inch ein wichtiges Standardmaß – gegen den erklärten Willen der in Paris ansässigen Organisation für das gesetzliche Messwesen (OIML). Zu verdanken ist dies zum Teil einem schottischen Professor des 19. Jahrhunderts.

Smyth: Argumente gegen das metrische System

Charles Piazzi Smyth sein Name, nutzte die Mathematik rund um die Pyramiden von Gizeh, um gegen das metrische System zu argumentieren. Ihm zufolge hatte das Inch bei den alten Ägyptern eine gewichtige Rolle inne – nämlich die Verknüpfung von Erde und Mensch mit ihren Pyramidenbauten.

Laut der ihm folgenden Berechnungen entspricht der Umfang der Cheops-Pyramide einem (Pyramiden-) Inch mal 364 Tage mal 100. Und tatsächlich ergibt der Betrag von 500 Millionen Pyramideninch recht genau den Durchmesser der Erde.

Smyths Schlussfolgerung: Wenn das Inch schon eine Grundeinheit des Pyramidenbaus ist, und die Briten es auch verwenden, so muss die Maßeinheit geradezu göttlich sein.

Wäre Smyth dem Inch damals ordentlich auf den Grund gegangen, so wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass die Maßeinheit ursprünglich ein Verhältnismaß zur Verbindung von menschlichem Fuß und Finger war.

In mehrfacher Hinsicht waren Smyths Schlussfolgerungen unsystematisch. Seine formulierte Gesetzmäßigkeit ruhte auf nicht wiederholbaren und reproduzierbaren Beobachtungen. Auf unscharfe Weise hatte Smyth aus einer Beobachtung ein Gesetz formuliert, welches er bei keiner anderen Pyramide anwenden konnte.

Obgleich sein Fehlschluss wesentlich zum Verlust seines Postens als Astronom im Dienste Ihrer Majestät Königin Victoria beitrug, lebt das Inch bis heute auf beeindruckende Weise fort.

Der Meter: Ein "Geistesprodukt atheistischer französischer Radikaler"

Der Meter war für Smyth übrigens ein mangelhaftes Geistesprodukt atheistischer französischer Radikaler. Dabei waren die Franzosen nach ihrer Revolution doch so froh gewesen, endlich ihre rund 250.000 Maßeinheiten los zu sein. Das Revolutionsmotto "Ein Gesetz, ein Gewicht und ein Maß" hatte zum kulturbildenden Einheitsmaß "Meter" geführt.

Unbeirrt der Einführung des Metermaßes behaupten sich Finger und Daumen als erstes Maß der Wahl. Im heutigen Sprachgebrauch wird der Daumen gerne mit Macht und Tatkraft verbunden. Im positiven Sinne hält man anderen den Daumen oder wird durch den eigenen geschickten Daumen aktiver Teil der neuzeitlichen "digitalen" Revolution.

Der Daumen nach unten oder den Daumen draufzuhalten, bedeutet dagegen die Eindämmung jener Tatkraft. An die deutsche Faustregel erinnernd, besagte die Daumenregel im alten englischen Gesetz, ein Mann dürfe seine Frau mit einem Stock schlagen, sofern dieser nicht dicker als sein Daumen sei.

Daumenregeln: Oft nichts Gutes

Wie die Geschichte zeigt, kommt mit Daumenregeln oft nichts Gutes – weder aus mitmenschlicher noch aus wissenschaftstheoretischer Sicht. Sie folgen auch nicht dem wissenschaftlichen Grundsatz, wiederholbare Ergebnisse zu liefern, um aus ihnen eine Lehre ziehen zu können. Daumenregeln fußen nicht auf nachmessbaren Größen.

So steht der Daumen auch für die sehr subjektive Vermessung der Welt nach der Formel "Pi mal Daumen". Kein Wunder, dass ein Daumenbreit gerne für politische Aussagen verwendet wird.

Bestes Beispiel dafür war das scheibchenweise Hinarbeiten der Nato-Staaten auf ein Einlenken der Sowjetunion in der gesamtdeutschen Frage. Der US-amerikanische Außenminister Baker hatte gegenüber dem sowjetischen Staatspräsidenten Gorbatschow betont, die Nato würde keinen Inch ostwärts expandieren.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.