Die Macht der Maßeinheiten: Von Daumenregeln und Aggressionsdistanzen

Seite 2: Geschichte wird von den Siegern geschrieben

Baker fühlte sich vom deutschen Außenminister Genscher inspiriert, der in einer Rede am Starnberger See und ein paar Tage später im prachtvollen Katharinen-Saal des Kremls gegenüber seinem sowjetischen Amtskollegen Schewardnadse in Aussicht stellte, die Nato würde auf die Ausdehnung ihres Territoriums nach Osten verzichten.

Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Während Russland die damalige Rhetorik noch heute als wichtigen Grund ihrer Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung auffasst, hatten die Regierungen der USA und Deutschlands die Protokolle über Genschers Aussagen gegenüber Schewardnadse jahrelang als geheime Verschlussakte verschwinden lassen.

1990 hatte das übergeordnete Ziel des Nato-Militärbündnisses unter Führung der USA gelautet, die Sowjetunion müsse ihre Truppen aus der DDR abziehen und die Wiedervereinigung Deutschlands billigen. Mit dem Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages Ende 1990 hatten Deutschland und die Nato ihr Ziel erreicht.

Im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine argumentiert Russland, dass die Nato nicht einen Inch, sondern inzwischen hunderte Kilometer ostwärts der westdeutschen Grenze expandierte. Mit dem Verlust der Bruderstaaten des Warschauer Paktes schrumpfte der russische Bannkreis im Westen geradezu auf die Breite eines Haares.

Jeden Inch verteidigen

Die Schriftstellerin Marie von Ebner Eschenbach hätte gemutmaßt, schrittweises Zurückweichen sei schlimmer als ein Sturz. Das Auftreten der Nato musste Russland so vorkommen wie ein Fußballspieler, der mangels Schiedsrichterpfiff dauerhaft im Abseits stehen darf.

In Umkehrung der Rhetorik kündigten die USA am 05. März 2022 an, die Nato sei bereit, jeden Inch ihres (neuen) Territoriums zu verteidigen. Die USA, die seit 1935 eine Pyramide (mit dem Auge der barmherzigen Wachsamkeit Gottes über die Menschheit) auf ihrer Ein-US-Dollar Note abbildet, mögen erwogen haben, mit dem Inch voran in den heiligen Krieg zu ziehen.

Im deutschen Sprachgebrauch hätte man vielleicht eher gesagt: "Keinen Schritt weiter".

So wie der Astronom Smyth ein starker Verfechter des britischen Israelismus' war, demzufolge die Briten und folglich viele US-Amerikaner direkte Nachkommen der antiken zehn verlorenen Völker Israels sind, basieren heute wesentliche Entscheidungen höchster Entscheidungsträger der US-Politik auf esoterisch-religiösen Überzeugungen.

Ein Daumenbreit Weltmacht

Pulitzer-Preisträger George Frost Kennan, ein glühender Vertreter der USA für die Eindämmung russischen Einflusses in der Welt, hatte es auf die pragmatische Formel gebracht: "Prestige nennt man die Daumenschrauben, die man auch einer Weltmacht anlegen kann."

In jenem Moment seiner Aussage wird Kennan kaum an den äquivalenten Gegenwert eines Daumenbreits von 2,54 Zentimetern gedacht haben.

Und sehr wahrscheinlich war ihm just ebenso wenig bewusst, dass auch der mittlere Durchmesser der Münzen "1 US Dollar" und "1 Quarter Dollar" bei 2,54 Zentimetern liegt. Unabhängig von der zukünftigen Beziehungsqualität der Rivalen USA und Russland werden die US-Dollarmünzen sehr wahrscheinlich noch lange im Verkehr bleiben - ebenso wie das Yard (2,54 cm x 12 x 3 = 91,44 cm) im anglo-amerikanischen Rugbysport und der Elfmeter im Fußballsport.

Hosenmaße werden weiterhin in Zoll angegeben, und elektromagnetische Wellenlängen in Metern. Menschliche Finger werden weiter unterschiedlich breit wachsen, so wie vermessene Politiker ihre Kulturen weiter anhand unterschiedlichster Daumenmaße prägen werden.

Der Text ist ein Auszug aus dem Buch "Das Zeit und Raum Buch – Band 2: Der Raum" von Rainer Winters. Die Zwischenüberschriften stammen von der Redaktion.

Die Bücher präsentieren "10.000 wissenschaftliche Perspektiven" in zwei Bänden. "Alles aufgezählt mit der gebotenen hochwissenschaftlichen Knappheit und Trockenheit, und dabei in der Lektüre assoziativ, spielerisch und oft absurd" (SZ).

Band 1 geht über: Die Zeit.

Beide Bände sind in allen Buchhandlungen erhältlich.

Rainer Winters ist Journalist, Umweltwissenschaftler und Whistleblowing-Experte. Zu Whistleblowing und politischen Themen hat er auch bei Telepolis veröffentlicht.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.