"Das Ziel ist die Wahabitisierung Tunesiens"

Laut Beobachter erlebt das Land eine schleichende Islamisierung

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Mit scharfen Worten macht der tunesische Rechts-und Politikwissenschaftler Hamadi Redissi auf die Lage in seinem Land aufmerksam. In einem Gastbeitrag der gestrigen gedruckten Ausgabe der SZ (noch nicht online) schreibt der Verfasser mehrerer Bücher und Essays, die sich ideenphilosophisch kritisch mit dem Islam und demokratischen Werten auseinandersetzen, davon, dass sich Tunesien auf dem Weg in eine Diktatur befände. Die säkularen Kräfte seien auf dem Rückzug, die Islamisten hätten gewonnen; die Sieger der Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung im Herbst letzten Jahres, allen voran die Ennahda, hätten eine "Höllenmaschine" in Bewegung gesetzt: "ein arrogantes politisches Hegemoniestreben, das mit einer schleichenden Islamisierung der Gesellschaft einhergeht."

Auch die jungen Salafisten seien "unsere Kinder", ließ Premierminister Hamadi Jebali verlauten, als handle es sich bei den Untaten um Streiche Halbwüchsiger. Als salafistische Aktivisten monatelang die humanwissenschaftliche Abteilung der Universität in Tunis blockierten, um die Zulassung von voll verschleierten Studentinnen zu erzwingen, erhielt die Universitätsleitung weder vom Erziehungs- noch vom Innenministerium Unterstützung in ihrer Absicht, das Hausrecht durchzusetzen.

NZZ

Der öffentliche Raum werde in Tunesien Schritt um Schritt islamisiert, konstatiert Redissi, der an der Universität Tunis lehrt und laut Angaben der Zeitung Präsident der tunesischen Beobachtungsstelle für den Übergang zur Demokratie ist.

Man kann es nicht anders sagen: Es ist vollbracht, die Islamisten haben gewonnen. Selbst die bislang moderaten Muslime lassen sich von der Intoleranz anstecken.

Redissi war Anfang des Jahres selbst Opfer einer Attacke von aufgebrachten Islamisten - in seinen Worten "Salafisten-Horden" -, deren öffentliche und von der Regierung, wie er unterstellt, geduldeten Aktionen gegen Kunst und Kultur ihm ein Indiz für die fortschreitende Islamisierung des Landes ist. Auch in seinem Fall, als er von Islamisten mit Schlägen traktiert wurde, griff die Polizei nicht ein. Redissi war als Unterstützer des Senders Nessma TV auf der Straße, als dem Senderchef der Prozess wegen Blasphemie gemacht wurde, weil er im vergangenen Jahr den Zeichentrickfilm Persepolis ausstrahlen ließ.

Schon dass Salafisten damals mit gewalttätigen Demonstrationen auf die Ausstrahlung reagiert haben (siehe Zeichentrickfilm erbost Salafisten und Salafisten gegen Persepolis) ist - nicht nur - für Redissi ein bedenkliches Zeichen, wie auch die ungenügende Distanzierung der Ennahda-Partei von den Motiven der Ausschreitungen, sondern vor allem das Ergebnis der Verhandlung: Nicht die Salafisten wurden bestraft, sondern der Senderchef: Geldstrafe wegen Ausstrahlung von Persepolis.

Was damals gemutmaßt wurde, dass es zwischen der Basis der Ennahda-Partei, die öffentlich Wert darauf legt, sich als moderat und demokratischen Werten verpflichtet darzustellen, und den Salafisten viele weltanschauliche Gemeinsamkeiten und Nähen gibt, wird von skeptischen Beobachtern auch bei anderen Protestaktionen unterstellt. Durchgeführt werden sie von selbsternannten Hütern des wahren Glaubens, dass dies auch von der Regierungspartei Ennahda einige Sympathie erfährt, zeigt dann die gesetzliche "Evaluierung" der Aktion.

So erregten Anfang Juni Ausschreitungen von Salafisten, die sich im Protest gegen eine Kunstaustellung in Tunis Straßenschlachten mit der Polizei lieferten, internationales Aufsehen - "Aus Sicht der tiefreligiösen Islamisten beleidigten Bilder ihre Religion". Die Ennahda-Partei reagierte mit der Erklärung, man werde ein Gesetz schaffen, dass "Angriffe auf die Heiligkeit des Islam" unter Strafe stelle.

Einige Künstler erhielten Morddrohungen. Doch was sagte die geistliche Obrigkeit dazu? Im Chor verurteilten der Mufti der Republik und der Minister für religiöse Angelegenheiten die Künstler. Der Präsident der angesehenen Zitouna-Moschee rief gar dazu auf, das Blut "der Ungläubigen" zu vergießen. (…) Und was macht die Regierung? Sie greift durch - aber nicht gegen die Extremisten. Sie geht gegen Laizisten vor, denen die Islamisten vorwerfen, die Bevölkerung zu provozieren.

Hamadi Redissi

Dass Künstler Redissis Wahrnehmung, die Ennahda versuche eine Diktatur, Recht geben, erstaunt da nicht. Der Blick in kritischere tunesische Publikationen zeigt aber auch, dass die Islamisierung des öffentlichen Raums, die Redissis behauptet, von vielen anderen auch außerhalb der Künstlerkreise geteilt wird.

Indizien gibt es genug, so konnte man schon Ende letzten Jahres auf dem Portal Nawaat, das während der Aufstände eine zentrale Anlaufstelle für Blogger und Bürgerreporter war, Berichte lesen, wonach in Schulen und Universitäten deutlicher auf "korrekte Kleiderordnung" geachtet würde, dass Versammlungen von Islamisten gestört würden. Aktuelle Artikel zur Situation von Journalisten weisen auf ähnliche Bevormundungen hin, die in Richtung Zensur gehen. Ob es um Radiosender geht:

"The fact is that before the revolution the enemy preventing us from working was Ben Ali and his family. Nowadays we no longer know exactly who it is: it’s ethics, religion, the people who stand in our way as defenders of their religion and choose to censor us…"

Oder bei Zeitungen und Zeitschriften - der Befund läuft darauf hinaus, dass es für unbequeme, kritische Journalisten schwieriger wird, wirtschaftlich und politisch, Verhaftungen und gegen sie gerichtete Aggressionen häufen sich, wie die Organisation Reporter ohne Grenzen berichtet. Besonders beunruhigend sei das ambivalente Verhalten der Justiz: Die Angreifer der Journalisten würden bald freigelassen, wohingegen die Journalisten selbst nicht so rasch entlassen würden. Gnadenlos verurteilt werden übrigens auch Karikaturisten.

Geht es nach Beobachtungen, die heute in der Schweizer Zeitung NZZ veröffentlicht werden, so hat es den Anschein, dass die Ennahda nun doch versucht, das Klima zu ändern. Man habe eine "andere Gangart" eingeschlagen, rund 160 Personen seien verhaftet worden, mit der Aussicht, dass ihnen der Prozess gemacht wird. Seither beobachte man ein Abflauen der "salafistischen Aktivitäten", möglicherweise, habe Ennahda-Chef Ghannouchi ein "Machtwort gesprochen". Die Ruhe, so die NZZ, wird von "säkular Orientierten", mit denen man gesprochen habe, allerdings eher als "Verschnaufpause" verstanden. Laut Redissi hat man es in Tunesien mit einer breiten, großen Welle zu tun, die sich so schnell nicht zurückziehen wird:

Das Moralverständnis wird durch eine neue, orientalisierte Lebenswelt öffentlich gemacht - mit Vollkörper-Schleier, Islamistenflaggen in den Straßen und von Ennahda organisierten Gruppenhochzeiten. Das Ziel, man kann es nicht anders sagen, ist die Wahabatisierung Tunesiens. Die Zerstörung mehrerer Schreine der den Islamisten verhassten Sufis belegen das.