Das dynamische Lokale

Head Canon: Medien im epikritischen Zeitalter. Teil 5

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Teil 4: New York Times lesen in Magdeburg: Leib, Stadt und Medien

V.1 Die Fremdheit des Eigenen

Räume sind für die Konstruktion kultureller Identität bedeutsam. Als Orte schaffen Räume Kontext für soziale Interaktion, bei der wir den jeweiligen körperlich-leiblichen Identitäten eines Menschen den Status einer Person zuweisen (oder auch aberkennen), im Sinne Jan Assmanns Verständnis "personal[er] Ich-Identität".1 Als Nicht-Orte, wie Augé sie versteht2, sind Räume immerhin noch als symbolische Repräsentationen am Aufbau von Identität beteiligt. Die von Augé angeführten Hinweisschilder entlang von Autobahnen, die auf Städte und Sehenswürdigkeiten hinweisen, die entlang dieser Autobahnen liegen, die man aber eher nicht besuchen wird3, sind ein Beispiel für "kulturelle Formationen"4 im Sinne Assmanns.

Eine dritte Kategorie neben Ort und Nicht-Ort spielt ebenfalls hinein: der abwesende Raum, der weit entfernte, gerade oder nicht mehr zugängliche Raum. Das klassische Beispiel lieferte Jan Assmann mit seiner kulturwissenschaftlichen Interpretation des biblischen Exodus.5 Ägypten einerseits, "das gelobte Land" andererseits sind während des Exodus abwesende Räume. Seine Identität gewinnt das Volk durch Bezugnahme auf diese abwesenden Räume ebenso wie in dem Bund mit einem ortlosen Gott.6 Vor diesem Hintergrund erhält ein jüngeres Beispiel eine merkwürdige Wendung.

In ihrem Buch über das Vergessen schreibt Aleida Assmann über eine Straßenbahnlinie durch Jerusalem, an der mehrere historische Stätten der Palästinenser liegen, die in Folge des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1948 von den dort lebenden Arabern 'verlassen' oder aus denen die Araber 'vertrieben' wurden (je nach Perspektive). Während dieses als "Nabka" (Unglück) oder "palästinensischer Exodus" bekannten Ereignisses wurden Erinnerungsorte unsichtbar, d.h. nunmehr verlassene oder verschwundene Orte konnten für die Palästinenser nach der Nabka keine Erinnerungsfunktion mehr erfüllen. Für die Israelis wiederum behinderten diese Orte nicht weiter den Aufbau eigener Erinnerung.7 Aleida Assmann konstatiert, dass es in der Region seitdem drei zentrale Narrative für den Aufbau kollektiver Identität gibt, dass aber beide Seiten (Palästinenser und Israelis) jeweils nur zwei dieser Narrative teilen. 8 Während für die Israelis der Holocaust und der Unabhängigkeitskrieg entscheidend seien, so seien für die Palästinenser der Unabhängigkeitskrieg und die Nabka von Bedeutung.9 Alle drei Ereignisse waren gekennzeichnet durch den Verlust und den Gewinn von durch Orte repräsentierten kulturellen Formationen.

Magdeburg Ende des 19. Jahrunderts. Bild: Library of Congress

Ein anderes Beispiel ist die Geschichte der Stadt Magdeburg, die von mehreren einschneidenden Umbrüchen geprägt war. Im Mai 1631, während des Dreißigjährigen Krieges, wurden bei einer Belagerung und später Plünderung durch kaiserliche Soldaten ca. 20.000 Einwohner getötet; weitere mussten die Stadt verlassen. 1639 lebten nicht einmal mehr 500 Menschen in der Stadt. Erst im 19. Jahrhundert hatte sich Magdeburg von diesem Niedergang erholt. Die zweite große Zerstörung erfolgte durch den britischen Luftangriff am 16. Januar 1945, bei der ca. 90% der Innenstadt zerstört wurden. In der DDR wurde die Stadt im Sinne sozialistischen Städtebaus wiederaufgebaut. Der dritte große Umbruch geschah ab 1990, bei dem (wie auch in anderen Städten Ostdeutschlands) viele DDR-Bauten rückgebaut oder durch neue Gebäude ersetzt wurden, und wo ältere Gebäude, die in der DDR verfallen waren, instandgesetzt wurden. Im Laufe dieser Umbrüche verwandelte sich das Stadtbild massiv, womit immer der Verlust bestehender kultureller Formationen, die Schaffung neuer kultureller Formationen und zuletzt die Rekonstruktion früherer kultureller Formationen einhergingen. So war der Breite Weg bis 1945 wegen vieler barocker Gebäude als "Prachtstraße" bekannt, bis die Gebäude als kulturelle Formationen (in ihrem Verweis nicht nur auf Baustile und Epochen, sondern auch auf Alltagskultur) zerstört wurden. Die Reste der Katharinenkirche im Nordabschnitt der Straße wurden in der DDR gesprengt, sodass jegliche kulturelle Formationen, die auf die Vorkriegszeit hindeuteten, verschwunden waren. Erst so konnte sich das von der DDR verfolgte Ideal sozialistischer Städteplanung entfalten, was nun andere kulturelle Formationen und Verweise schuf - das "Haus des Lehrers" (heute Katharinenturm) am früheren Ort der Katharinenkirche; sozialistischer Klassizismus und schmucklose Plattenbauten; weite Aufmarschplätze. Dass der Verlust kultureller Formationen auch den Verlust von Erinnerung und damit Identität bedeutete, wurde in Kauf genommen. Zwar wurde in den "16 Grundsätzen des Städtebaus" (1950) die "Berücksichtigung der historisch entstandenen Struktur"10 zugestanden, doch da Städte als "Ausdruck des politischen Lebens und nationalen Bewußtseins des Volkes"11 verstanden wurden, war die Schaffung neuer kultureller Formationen nur konsequent. Die neuen Formationen stellten die neue politische Situation dar12:

Auf den Plätzen im Stadtzentrum finden die politischen Demonstrationen, die Aufmärsche und die Volksfeiern an Festtagen statt. Das Zentrum der Stadt wird mit den wichtigsten und monumentalsten Gebäuden bebaut.

Architektur musste hier Verweis auf politische Werte sein ("monumentalsten Gebäuden") und den Ausdruck dieser Werte durch menschliches Handeln fördern ("Aufmärsche", "Volksfeiern"). Eine barocke, prachtvolle Einkaufsstraße hatte hier ebenso wenig Platz wie besondere Sorge um religiöse Bauwerke. Nach dem Ende der DDR wandelte sich das Bild erneut. Wieder wurden kulturelle Formationen ersetzt. Am früheren Aufmarschplatz entstanden Einkaufszentren. Industrie- und Hafenanlagen am Elbufer wichen grünen Promenaden. Historische Gebäude wurden restauriert. Nachbildungen zerstörter Formationen wurden gebaut, wie das Portal der Katharinenkirche. Diese Vorgänge sind Spuren der Suche nach Identität.

Der Punkt dieser Beispiele ist folgender: Ein Raum (eine Stadt, ein Land) erscheint zu einem Zeitpunkt 'so und nicht anders', weil er Ausdruck der momentanen (gewünschten und tatsächlichen) Kultur und Politik ist. Der Raum ist Sammelpunkt kultureller Formationen, die kanonische Funktion haben. Sie wirken wie gesetzt, fest, unveränderlich, und bis zu einem gewissen Maß bauen wir unser Alltagshandeln auf dieser Verbindlichkeit auf. Das täglich erlebte Lokale scheint einem möglichst statischem Ideal folgend.

Die Folge ist aber, dass unerwartete Abweichungen Irritation auslösen, vielleicht auch Widerwillen und Abwehr. Man wünscht den 'eigenen' Ort möglichst unverändert. Doch der Phänomenologe Bernhard Waldenfels weist in seinem Band "Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen" (2009) darauf hin, dass das Fremde immer schon im vertrauten Lokalen mitgedacht ist: "Der Raum, den wir bewohnen, ist kein pures Eigenheim."13 Sobald wir einen Ort als 'eigen', als 'unser', definieren, müssen wir davon ausgehen, dass das nur unsere Innenperspektive ist. Schon um diesen Ort zu beschreiben, muss es Fremde von außerhalb des Ortes geben, "sei es, daß sie eingelassen, abgewehrt oder ferngehalten werden."14 Zu ergänzen wäre, dass das nicht nur 'den Fremden' im Sinne des fremden Menschen von außerhalb betrifft, sondern dass Fremdheitswahrnehmung auch von innen heraus entstehen kann - neue Wertvorstellungen, die irritieren; neue Lebensmodelle, die abgelehnt werden; Menschen, die nicht von außen kommen, aber trotzdem 'fremde', d.h. ungewohnte, das Hergebrachte in Frage stellende, Vorstellungen entwickeln und damit womöglich selbst zu Fremden werden, usw.

Solche Veränderungen von Ort und Standpunkt führt oft zu Abwehr, denn die eigene Identität klammert sich an Orte und Werte. Doch "Abwehrmaßnahmen verhindern nicht, daß wir einander aus-gesetzt [sic!] sind, ob wir es wollen oder nicht."15 Man kann versuchen, Fremde durch Grenzen fernzuhalten und man kann fremde Wertvorstellungen oder neue Lebensmodelle zu verhindern versuchen, doch damit sind sie nicht aus der Welt, und nicht einmal aus dem Blickfeld. Darum schaffen Aktivitäten, mit denen Orte vor fremden Menschen und fremden Werten geschützt werden sollen, höchstens kurzfristig Erleichterung für jene Individuen, die die inhärente Fremdheit jedes 'Eigenen' nicht sehen, oder, wenn sie sie sehen, sie verleugnen. Dieser blinde Fleck - dieses Nichterkennen oder Nicht-wahrhaben-wollen, dass ein lebendiges Eigenes nur als Dynamik mit dem Fremden im eigenen Ort bzw. mit fremden Standpunkten möglich ist - ist eine der Ursachen für überzogenen Nationalismus, Rassismus und Freund-Feind-Denken.

V.2 Das Gefühl der Entwertung

Zu verlangen, dass Menschen, die vielfach mit Überleben in prekären Beschäftigungsverhältnissen ausgelastet sind und die sich im Alltag ggf. selbst als ausgegrenzt empfinden, die geschilderte Perspektive einnehmen oder gar teilen, ist unrealistisch. Es ist ein Luxus der "neuen akademischen Mittelklasse" (Andreas Reckwitz)16, sich über langfristige Grenzüberschreitung und so etwas wie eine positive Globalisierung Gedanken zu machen. Dass dabei die Verbindung verloren geht zu Menschen, die Reckwitz der "alten Mittelschicht" und der "Unterklasse" zuordnet, und die in Alltagswahrnehmungen Fremdheit als echte Bedrohung des eigenen Daseins empfinden, ist eine Gefahr für eine integrative Gesellschaft (egal, ob die Wahrnehmung von Bedrohung objektiv gerechtfertigt ist oder nicht - das Vorhandensein solcher Wahrnehmung muss man erstmal akzeptieren). Reckwitz hat diese Schere prägnant zusammengefasst17:

Die neue Mittelklasse […] entfaltet eine kulturorientierte kuratierte Lebensführung, in der sie in allen Bereichen - von der Gesundheit bis zum Kosmopolitismus, von der Bildung und Erziehung bis zum Wohnumfeld - am hohen (ethischen und ästhetischen) Wert arbeitet und als Trägerin eines wertvollen "guten Lebens" erscheint. Demgegenüber erfährt die neue Unterklasse eine Entwertung ihrer Arbeit, die mit einer Entwertung ihres gesamten Lebensstils einhergeht. Im Ergebnis scheint ein beträchtliches Segment der Gesellschaft von Fortschrittshoffnungen abgekoppelt.

Der zentrale Punkt hier ist die "Entwertung ihrer Arbeit" und die "Entwertung ihres gesamten Lebensstils" der "Unterklasse" bzw. entsprechend Abstiegsängste der 'alten' bürgerlichen Mittelschicht. Lange gültige Werte wie wirtschaftlicher Wohlstand und Anerkennung der eigenen Leistung haben sich in der neuen Mittelklasse mit dem aus der Romantik übernommenen Ziel individueller Selbstverwirklichung vereint18. Dadurch erhalten akademische Bildung und internationale Orientierung einen größeren Stellenwert für Anerkennung als bloßer wirtschaftlicher Erfolg, das Festhalten an überkommenen kulturellen Formationen oder an traditionellen Werten. So kann es zur paradoxen Situation kommen, dass ein zwar prekär beschäftigter, aber global orientierter Akademiker mehr Anerkennung erfährt als ein an traditionellen bürgerlichen Werten orientierter 'ehrlicher Arbeiter', der vielleicht wirtschaftlich wohlhabend ist, dem aber das Gefühl vermittelt wird, dass seine Leistungen, Ideale, Werte und Ansichten nicht mehr zeitgemäß sind.

Der (in dieser Essay-Reihe immer wieder angesprochene) stark kritische Umgang mit Massenmedien ist ein Reflex dieser Entwertung. Fast schon ein Klischee ist hier das Beispiel von US-Amerikanern, die sich nur auf Fox News informieren. Was dahinter steckt, zeigt die amerikanische Soziologin Arlie Russell Hochschild in ihrer qualitativen Studie "Fremd in ihrem Land" (2017).19 In einer Mischung aus teilnehmender Beobachtung und Interviews20 schloss sich Hochschild für mehrere Monate dem Leben von Tea-Party-Mitgliedern im US-Bundesstaat Louisiana an, um deren Sorgen, Ängste und Anliegen zu verstehen. Auch im Kontext des US-Wahlkampfes Trump gegen Clinton wollte die Autorin begreifen, warum sich die liberale Mittelschicht an Ost- und Westküste (zu der sich Hochschild selbst zählt) und die Menschen in republikanisch dominierten Bundesstaaten so sehr voneinander entfremdet haben, und das, obwohl insbesondere diese Staaten besonders von der Unterstützung durch Bundesmittel profitierten. Hochschild spricht hier vom "Großen Paradox"21. Sie meint damit die Tatsache, dass republikanisch dominierte Bundesstaaten hinsichtlich Wohlstand, Gesundheitszustand, Lebenserwartung, Schulbildung, Hochschulabschlüssen und industrieller Umweltverschmutzung im Vergleich zu nicht-republikanischen Staaten schlechter dastünden22, weshalb die republikanischen Staaten in hohem Maße durch Bundesmittel gestützt würden23, dass aber gerade dort diese Unterstützung als Einmischung abgelehnt werde.24 Hochschild macht deutlich, dass die Gründe für die Ablehnung staatlicher Unterstützung das damit einhergehende Gefühl der Entwertung der eigenen Leistung und der Bevormundung ist.

Hierzu berichtet Hochschild von einem Gespräch mit einer Tea-Party-Anhängerin ("eine belesene Frau"25) über deren Mediennutzung. Die Frau informierte sich vorwiegend über Fox News, schaute aber von Zeit zu Zeit auch ins Feuilleton der New York Times oder zappte bei CNN rein. "Ich schalte den Sender wegen der Nachrichten ein und bekomme Meinungen", so die Frau.26 Das ist eine Aussage, die sich so auch immer wieder in den Online-Kommentarspalten von Tagesschau, ZEIT oder SPIEGEL findet. Es wird nach objektiven Fakten verlangt, die unkommentiert in den Raum gestellt werden; die für das journalistische Gatekeeper-Paradigma typische Auswahl und die Einordnung in einen größeren Kontext werden abgelehnt, und es wird übersehen, dass selbstverständlich auch alternative Medien eine Auswahl und Einordnung vornehmen bzw. selbst als Gatekeeper fungieren (vgl. Teil 3 dieser Essay-Reihe).

Die von Hochschild interviewte Frau begründet ihre kritische Sicht auf liberale Medien mit einem Beispiel27:

Nehmen Sie nur [die Reporterin] Christiane Amanpour. Sie kniet neben einem kranken afrikanischen Kind […] und ihre Stimme sagt: 'Da stimmt etwas nicht. Das müssen wir in Ordnung bringen' […] Sie benutzt dieses Kind, um zu sagen: 'Tu was, Amerika.' Aber die Probleme dieses Kindes sind nicht unsere Schuld.

Hochschild fasst zusammen: "Die Frau wollte sich nicht sagen lassen, dass sie für das Schicksal des Kindes Mitgefühl empfinden […] sollte. Amanpour überschritt ihre Kompetenzen als Kommentatorin, indem sie unterstellte, was man zu empfinden habe."28 Es wäre nun ein Weg, einfach die Wahrnehmung der Frau (sozusagen stellvertretend für ähnliche Ansichten) als verzerrt oder falsch darzustellen. Und in der Tat bietet Hochschild im Anhang einen "Faktencheck zu gängigen Ansichten"29 an. Doch zunächst schlägt sie einen anderen Pfad ein. Um ihr Verständnis und das ihrer Leser zu schärfen, entwickelt sie im Verlauf ihrer Studie eine 'Wartenschlangen'-Metapher als Kern einer "Tiefengeschichte"30. Diese Geschichte ist zwar (wenig überraschend) US-zentriert, aber in wesentlichen Punkten doch geeignet, ähnliche Entwicklungen in anderen Ländern zu verstehen; auch die (im Vergleich eher nüchternen) Betrachtungen in Reckwitz' Arbeit werden so lebendiger.

V.3 In der Warteschlange

Hochschild zeigt in ihrer Studie, wie konservative Tea-Party-Anhänger zu ihrem Weltbild gekommen sind und macht dieses Weltbild nachempfindbar. In einem bemerkenswerten Kapitel hält sie der - sicherlich ebenfalls v.a. liberalen Leserschaft - einen ungewohnten Spiegel vor. In "Du"-Ansprachen versetzt sie die Leserinnen und Leser in die Rolle eines 'ehrlichen Arbeiters', der sich sein Leben lang gemüht hat und nun miterleben muss, wie andere Menschen, Tiere, die Umwelt, usw. bevorzugt werden31:

Schwarze, Frauen, Einwanderer, Braunpelikane - alle haben sich in der Schlange vorgedrängt. Dabei haben gerade Leute wie du dieses Land erst groß gemacht. Du hast ein mulmiges Gefühl. Es muss einfach mal gesagt werden: Die Vordrängler ärgern dich. Sie verstoßen gegen die Fairness-Regeln. […] Du bist ein mitfühlender Mensch. Aber jetzt verlangt man von dir, Mitleid für all diejenigen aufzubringen, die sich vorgedrängt haben. […] Du hast selbst genug durchgemacht, aber du beklagst dich nicht.

Hochschild hat diese Schilderungen nicht willkürlich geschrieben, sondern sie beruhen auf zahlreichen Interviews, die sie mit Tea-Party-Anhängern geführt hat. Dieselben Gesprächspartner haben ihr bestätigt, sich in der Tiefengeschichte recht genau wiederzufinden. Als nicht-amerikanischem Leser erscheint es mir wahrscheinlich, dass viele Teile dieser Tiefengeschichte auch geeignet sind, die Situation vieler Menschen in Deutschland zu beschreiben, die sich 'abgehängt' fühlen, d.h. diejenigen, die Andreas Reckwitz zur "alten Mittelschicht" und zur "Unterklasse" zählt.

Bild: Mikki Inkeroinen / CC-BY-SA-2.5

Zentrale Metapher in der Tiefengeschichte ist die Warteschlange vor einem Berg, an der man zuerst geduldig ansteht, bis man die Vordrängler bemerkt, die den Gipfel schneller erreichen. Diese Metapher beruht stark auf US-amerikanischen Vorstellungen des Vorankommens im Leben, traditioneller Fairness und Gleichberechtigung und einer Zurückhaltung des Staates, wenn es um die Unterstützung Benachteiligter geht. Immer wieder nutzt Hochschild Begriffe, die ein Feststecken und Zurückfallen in der Schlange beschreiben32:

mitten in dieser Schlange […] [d]er Blick zurück ist beängstigend, hinter dir kommen so viele […] Stillstand […] ewig in der Schlange warten […] rührt sich nicht vom Fleck […] rückwärts […] das Gefühl, festzustecken

In phänomenologischen Kategorien (vgl. Teil 4 dieser Essay-Reihe) kann diese Position zwischen unklarer Aufstiegshoffnung und drängender Abstiegsangst als engend bezeichnet werden. Der Blick geht nach vorn, doch das befreiende (weitende) Ziel (in der Metapher der Berggipfel) ist nicht erreichbar: "Du siehst, wie Leute sich vordrängen! Du hältst dich an die Regeln, sie nicht. Ihr Vordrängen fühlt sich an, als würdest du zurückgedrängt."33 Das frustriert: "Um dich gewürdigt zu fühlen, musst du das Gefühl haben, voranzukommen - und auch so gesehen zu werden […] Du möchtest gegen diese Abwärtskräfte angehen".34 Als Arlie Hochschild diese Geschichte ihren Tea-Party-Bekannten vorlegte, kommentierte eine von ihnen: "Nach einer Weile haben die Leute, die gewartet haben, genug und stellen sich in ihre eigene Schlange."35

Der Reiz von Arlie Hochschilds Warteschlangen-Metapher besteht darin, dass sie auf eindringliche Weise Verständnis für die Perspektive der Tea-Party-Anhänger vermittelt bzw. auch für verwandte politische Positionen außerhalb der USA. Dass die Ursachen für das Erstarken neuer Nationalismen in Europa ähnliche sind wie in Hochschilds Studie, zeigt Johannes Hilljes Forschungsbericht "Rückkehr zu den politisch Verlassenen".36 Hochschilds und Hilljes Arbeiten erlauben beide einen Perspektivwechsel. Sie zeigen, dass grundsätzliche Abneigung gegenüber dem Fremden oft nicht die Ursache für das Engagement in rechten Bewegungen oder das Wählen rechter Parteien ist, sondern das Gefühl des Abgehängt-seins37:

[D]ie Mehrheit der Gesprächspartner [nimmt] keine intrinsisch rassistische Strukturierung der Migrationsthematik [vor] […] aber [folgt] vorrangig einer vergleichenden Abwertungslogik: Weil sich gefühlt um die Fremden mehr gekümmert wird, fühlt man sich selbst abgewertet und wertet in der Folge die Fremden ab.

Genau dasselbe Muster hat Hochschild für die USA ermittelt. Ob Tea-Party-Anhänger in Louisiana oder AfD-Wähler in Gelsenkirchen-Ost, entscheidend ist, sich alleingelassen, mitunter gar gefangen zu fühlen. Hillje zitiert eine Befragte: "Die Busverbindungen sind sehr schlecht […] der Postkasten ist abmontiert worden […] im Winter wird nicht die Straße geräumt". 38 Die Entwertung des Lebens, die Reckwitz beschrieben hat, zeigt sich auch in solcher Form. Dabei hat mancher den Eindruck, dass andere Menschen bevorzugt werden: "Die Migranten werden bevorzugt - vor allem bei Wohnungen und Sozialleistungen". 39 So sieht man sich selbst in einer festgefahrenen Situation, in der nichts mehr geschieht: "es gibt vorgetäuschte Aktivitäten, die keine Verbesserungen schaffen".40 Anstatt dem gefühlten Stillstand durch verstärkte Dynamik zu begegnen, scheint Abgrenzung und damit Verfestigung des Konkurrenzgedankens eine naheliegendere Lösung zu sein.

V.4 Das dynamische Lokale als Situation

Ich habe oben in Bezugnahme auf Waldenfels behauptet, dass das Fremde im eigenen Ort und Standpunkt mitgedacht werden muss, sonst gibt es diesen Ort nicht. Ich habe dann bedauert, dass diese Erkenntnis meist hinter einem blinden Fleck verschwindet. Mit Reckwitz, Hochschild und Hillje haben wir Gründe dafür gehört, die auf eines hinauslaufen: Die 'normalen Menschen' haben andere Sorgen, als sich um global orientierte, grenzüberschreitende Gesellschaftsideen zu kümmern. Wo man seine Lebensleistung innergesellschaftlich entwertet und von außen bedroht sieht, ist man wenig daran interessiert, noch mehr Veränderung zuzulassen. Man will das Erreichte bewahren, es abgrenzen. Als System gedacht, verlegt sich das System auf Beobachtung der Systemgrenzen und auf Kontrolle, um Irritationen aus der Umwelt abzuwehren.

Die Alternative, nämlich eine Ausdifferenzierung des Systems, die konstruktiv mit den Irritationen aus der Umwelt umgeht, ist aufwändiger und birgt die Gefahr, dass das System sich deutlich verändert; sie wird daher oft vermieden. Doch ein System, das sich nur auf seine Grenze fokussiert, um den aktuellen Zustand zu bewahren, ohne sich an geänderte Umweltbedingungen 'anzupassen', ist irgendwann in seinem Bestand gefährdet. Wo ist der Mittelweg? Beziehungsweise, wieder in nicht-systemtheoretischen Worten: Wie ist ein dynamisches Lokales möglich, als optimistische, weltzugewandte Alternative zu einem auf Ausgrenzung fokussierten statischen Lokalen? Und dies, ohne zugleich eine Entwertung des Erreichten zu bedeuten?

Wir haben gehört, dass kulturelle Formationen Räume prägen, als konkrete Dinge und als symbolische Repräsentationen. Einem Ort wie einem Standpunkt kann man Kanones kultureller Formationen zusprechen: Die Sehenswürdigkeiten einer Stadt, die 'einfach ein Muss sind'. Bestimmte Objekte in einem Museum, die man 'gesehen haben muss'. Manche Bücher, die man kennen muss, um einen Standpunkt zu vertreten, denn 'sonst kann man nicht mitreden'. Eine Band, die man auf einem Festival gehört haben muss, denn 'sonst war man nicht da'.

Nun ist der Kanonbegriff selbst eine statische Vorstellung. Bestimmte kulturelle Formationen werden heraus- oder hervorgehoben und von anderen, weniger 'wertvollen' abgegrenzt. Ein Kanon wertet das, was nicht im Kanon ist, ab, selbst, wenn das nicht in der Absicht der Kuratoren eines Kanon lag. Ein Ort, der primär durch Kanonizität beschrieben wird, ist daher per se statisch, Alternativen sind nur in individuellen Abweichungen möglich. Ein weiteres Problem ist die Kulturabhängigkeit eines Kanon. Der selbe physische Ort kann durch unterschiedliche Kanones definiert sein, je nachdem, wer den Ort beobachtet oder sich dort aufhält. Auch kultur- und subkulturspezifische Verhaltensweisen beeinflussen den Kanon. In einem Aufsatz zu Problemen der Kanonisierung fragt Gisela Brinker-Gabler daher: "Welche Kultur soll fortgeführt werden, welche nicht?"41 Brinker-Gablers Aufsatz erschien 1998 und 'atmet' noch ganz den optimistischen Geist des scheinbaren Wegfalls aller Grenzen nach dem Ende des Kalten Krieges. Die Autorin diskutiert Möglichkeiten, wie nationale Kanones durch postnationale Alternativen ersetzt werden könnten. Obwohl Brinker-Gabler sich auf literarische Kanones bezieht, scheint mir ihr Ansatz auch für andere Arten von Kanones brauchbar, inklusive ortsbezogener Kanonizität.

Brinker-Gabler stellt zunächst fest, dass auch ein kulturübergreifend gedachter Kanon eine normative Instanz benötigt, dass aber gerade dies nur schwer zu realisieren wäre: "Mit dem Axiom 'multikulturelle Kultur' wird die Vorstellung von Hegemonie nicht mehr zugelassen"42 Sie diskutiert dann die Idee "einer Vielfalt verschiedener paralleler Traditionen"43. Dadurch ersetzt sie einerseits den Kanonbegriff durch den weniger strikten Traditionsbegriff (was sie nicht explizit sagt, was aber in Rückblick auf J. Assmanns Unterscheidung von Kanon und Tradition auffällt44). Andererseits ist so nicht mehr der eine Kanon oder die eine Tradition maßgeblich, sondern es gibt Raum für "bislang marginale und 'nichtkanonisierte' Texte und […] weitere Lesarten […] [sowie] die Überschreitung nationaler Grenzen"45.

Ersetzt man "Texte" durch kulturelle Formationen allgemein, wie sie z.B. in einer Stadt sichtbar sind, bedeutet dies zunächst, dass die dem Ort Stadt angelegte Dynamik herausgestellt wird. Wenn wir nochmal auf die Stadt Magdeburg zurückkommen, dann sind die relevanten kulturellen Formationen nicht mehr nur der gotische Dom, die Gründerzeitbauten um den Hasselbachplatz, die von Hundertwasser entworfene "Grüne Zitadelle", diverse Museen, Stadtviertel in Bauhaus-Tradition sowie historische Festungen (das ist der Kanon im klassischen Verständnis), sondern je nach Perspektive alles, dem man Bedeutung zuschreibt für die subjektive Wahrnehmung der Stadt als Ort (statt bloßer Raum oder Nicht-Ort im Sinne Augés). So ist man in der Lage zu sagen: 'Magdeburg ist für mich … vor dem Hintergrund …'. Mit so einem Ansatz erklärt sich übrigens auch, wie man ein Ortsbewusstsein für Städte entwickeln kann, an denen man selbst noch nie war, die man aber durch mediale Repräsentationen kultureller Formationen zu kennen glaubt. Ich war noch niemals in New York, aber wenn ich in einem Magdeburger Café die New York Times lese oder deren App durchscrolle, wenn ich in New York City spielende Romane lese, dort angesiedelte Filme und Fernsehserien schaue oder wenn ich stereoskopische 360°-Ansichten der Stadt unter einer VR-Brille betrachte, dann entwickle ich ein komplexes Gefüge von Repräsentationen, auf die ich mit dem Symbol "New York" zugreife. Diese Repräsentationen beruhen auf meinem subjektiven Kanon kultureller Formationen, die für mich in diesem Kontext relevant sind. Lücken in diesem Kanon, die nur durch echte Wahrnehmung zu füllen wären, werden behelfsweise durch Erfahrungen aus anderen Städten gefüllt: Ein Bild von New York erinnert mich an eine Straße in Amsterdam, wo ich mal war - schon assoziiere ich andere Wahrnehmungsitems damit und reichere die Repräsentation damit an. Beim Foto einer U-Bahn kommen mir 'typische' U-Bahn-Tunnelgerüche in den Sinn. Ein Video des East Rivers erinnert mich an Möwengeschrei. Und so weiter. Das Ergebnis dieses Zusammenspiels medial repräsentierter kultureller Formationen und eigener Erfahrungen ist mein Head Canon dieser Stadt. Das ist ein Ort, der zwar nicht der Wahrnehmung einer im echten New York befindlichen Person entsprechen kann, aber gleichwohl mehr ist als bloßer Raum.

Nun ist ein Problem dieses Ansatzes, dass man zwar anerkennt, dass es mehrere Traditionen gibt, dass dies aber nicht gleich Integration heißt. Das Magdeburg des Reiseführers, das Magdeburg des Hafenarbeiters im Industriehafen, das Magdeburg der Studentin auf dem Unicampus und das Magdeburg der rumänischen Einwandererfamilien in der Neustadt sind für sich durch kulturelle Formationen entstandene Bilder der Stadt, in einer Mischung aus Wahrnehmung und Erwartung. Solche Perspektiven können gegeneinander gestellt werden statt miteinander zu existieren, worauf Brinker-Gabler hinweist: "Andererseits kann eine solche parallele Konstruktion auch zu einer die Komplexität reduzierenden Fixierung führen, und zwar als Gegen- oder Alternativkanon."46 Dann ist man schnell dabei, Kanones und Traditionen untereinander ab- und aufzuwerten, oder nur den eigenen als zutreffend oder brauchbar anzuerkennen. Dann wäre nichts gewonnen. Brinker-Gabler macht daher einen anderen Vorschlag: Der "Kanon als Assemblage"47, als Zusammenspiel im Sinne der gleichnamigen Kunstform. Brinker-Gabler dazu48:

In einem Kanon als Assemblage sind die Texte nicht mehr Objekte, die 'gut' oder 'schlecht' sind. Sie werden in dieser Komposition, indem sie sich gegenseitig 'erhellen', zum lesbar wahren Ereignis, das aber nicht 'zeitenthoben' oder universal ist. […] Möglich wird eine kreative Neuinterpretation der Tradition in neuen Konstellationen.

In meiner bisherigen Analogie heißt dies, dass kulturelle Formationen des Ortes Stadt nicht als fixe definierende Elemente, sondern als flexibel zu interpretierende Konstellationen zu verstehen sind. Da diese Interpretationen situative sind und mit Wahrnehmung einhergehen, ist es sinnvoll, Brinker-Gablers Begriff Konstellation durch den neophänomenologischen Begriff der Situation zu ersetzen. Die Stadt, bzw. das dynamische Lokale allgemein, verstehe ich damit als Situation, die nicht nur durch die mit den körperlichen Sinnen wahrnehmbaren Einzelteile geprägt ist, sondern auch durch die Dynamik leiblicher Wahrnehmung (vgl. dazu den vorigen Teil 4 dieser Essay-Reihe). Das Lokale ist nicht mehr, was es je nach verfolgtem Kanon oder Tradition normativ sein soll ('ich will, dass in der Stadt … / dass … nicht …'), sondern das, was sich im Wechselspiel der verschiedenen Wahrnehmungen von Situationen dynamisch ergibt.

Tatsächlich ist das ohnehin so, aber so, wie leibliche Aspekte von Wahrnehmung insgesamt meist verdrängt werden, so wird auch das Lokale als etwas Festes, als Konstellation behandelt und übersehen, dass wir es mit wandelbaren Situationen zu tun haben. Indem man sich bewusst macht und akzeptiert, dass das Lokale immer dynamisch ist, dass man diese Dynamik wahrnehmen und danach z.B. auch als Ressource der Reflexion nutzen kann, wird die Auf- und Abwertung verschiedener Perspektiven vermieden. "Die Assemblage", so Brinker-Gabler, "ermöglicht den Wechsel der Positionen und andere Blicke".49 Dann ist ein Begegnen auf Augenhöhe möglich, und damit auch ganz pragmatisch der Ausgleich verschiedener Interessen im Alltag.

Dazu ist neben Wahrnehmung auch Handeln erforderlich. Während der Kanon unveränderlich ist, ist die Assemblage nicht nur in der Wahrnehmung, sondern auch in der Komposition dynamisch. Nochmals Brinker-Gabler50:

Postnationale 'Kanonizität' bewirkt die Transformation […] durch kontinuierliche Intervention […] es wird ein Prozeß der Rekomposition angestrebt, aus dem sich, so ist zu hoffen, Werte entwickeln, die eine komplexe kulturelle Demokratie ermöglichen.

Diese Hoffnung, daran sei erinnert, äußerte Brinker-Gabler im Jahr 1998, also vor zwanzig Jahren. Aus den oben genannten Gründen scheint es fast zu spät, das derzeit in Gegenrichtung (hin zu Abgrenzung, Nationalismus, usw.) ausschlagende Pendel noch aufzuhalten. Oder ist es noch möglich, dem skizzierten Ideal des dynamischen Lokalen zu folgen? Wenn überhaupt, dann wohl nur durch zeitgemäße Formen der Kommunikation, die den steten Wandel von Räumen und Orten einbeziehen. Anregungen dazu entwickelt der folgende sechste und letzte Teil dieser Essayreihe.