Das erfolgreichste Tier der Welt

Antarktischer Krill. Bild: Uwe Kils/CC BY-SA 3.0

Der Mensch hat den Antarktischen Krill auserkoren, ihm zu helfen. Selbst dessen zurückgezogenes Leben in einer der unwirtlichsten Gegenden der Welt kann ihn wohl nicht vor diesem Schicksal bewahren. Dabei hat er seine eigenen Sorgen

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Ende des 18. Jahrhunderts kam im Südlichen Ozean die Robbenjagd in Mode, die jedoch mit der starken Schrumpfung der Bestände ihr schnelles Ende fand. Sie wurde vom Walfang abgelöst, mit einem ähnlichen Ergebnis. Schließlich rückte eine eher unscheinbare Ersatzbeute in den Blickpunkt des Interesses: Antarktischer Krill. Ende der 1970er Jahre als Lösung des Ernährungsproblems einer wachsenden Erdbevölkerung ins Gespräch gebracht, hat ihm die Krone der Schöpfung unterdessen andere Formen der Nützlichkeit zugedacht: die garnelenartigen Kleinkrebse könnten dem Menschen etwa beim Kampf gegen den Klimawandel unterstützen, und die Einnahme des aus ihren Körpern gepressten Öls würde dabei für mehr Wellness sorgen.

Von Krill sind rund 85 Spezies beschrieben, die von den Polen bis in die tropischen Regionen vorkommen, jede an die vor Ort jeweils herrschenden Bedingungen angepasst. Die Schwimmkrebse zählen zu den häufigsten Tieren, die den Planeten bevölkern. Euphausia superba wiederum, der Antarktische Krill, ist die mengenmäßig wichtigste Art - oder, wie manchmal zu lesen ist, die weltweit erfolgreichste Tierart überhaupt. Sie kommt in den Gewässern rund um die Antarktis vor, vor allem in der Scotiasee, im Weddell-Meer und vor der Antarktischen Halbinsel.

Ausgewachsene Exemplare dieser Leuchtgarnelen-Art können sechs Zentimeter lang sein und mehr als ein Gramm wiegen. Im antarktischen Sommer entlässt jedes Weibchen bis zu zehntausend Eier in die oberen hundert Meter der Wassersäule. Aufgrund ihrer höheren Dichte sinken die Eier ab - 10 Tage lang, woraufhin in einer Tiefe von einem Kilometer und darunter die Larven schlüpfen. Diese streben schließlich der Oberfläche entgegen, wo sie sich zu erwachsenen Tieren entwickeln und nach zwei bis drei Jahren geschlechtsreif werden. Alle zwei bis drei Wochen streifen sie ihre Chitinpanzer ab. Die Nahrung besteht hauptsächlich aus Phytoplankton, das im Nährstoffreichtum der Auftriebszonen der antarktischen Gewässer gedeiht, aber auch aus Teilen des Zooplanktons. In der Not macht er auch vor Artgenossen nicht halt.

Der Antarktische Krill lebt vor allem unter dem Packeis. Dessen Unterseite dient als Kinderstube, und sie bietet die Bedingungen für das Wachstum von Algenrasen, die dem Krill als Nahrung dienen. Die Phasen seiner Entwicklung sind an die saisonale Dynamik der Eisgebiete gekoppelt.

Krill kann sich zu großen Schwärmen zusammenschließen, die Ausdehnungen von mehr als 100 Kilometern erreichen können - und sehr hohe Konzentrationen, von zwei und mehr Kilogramm pro Kubikmeter. Die Schwärme zeigen tägliche vertikale Bewegungsmuster: Während des Tages bleiben sie in der Tiefe, des Nachts kommen sie zur Nahrungsaufnahme an die Meeresoberfläche.

Biologen sehen im Antarktischen Krill eine Schlüsselart des antarktischen Ökosystems, die einen großen Einfluss auf das Nahrungsnetz und die biogeochemischen Kreisläufe hat. Krill ist der zentrale Umschlagplatz großer Teile der Primärproduktion: Er ernährt sich vom winzigen Phytoplankton und reicht dessen Nährstoffe und Energie in konzentrierter Form an weiter oben im Nahrungsnetz befindliche Lebewesen weiter. Krill ist die Nahrungsgrundlage einer Vielzahl mariner Lebewesen, wie Fische, Tintenfische, Vögel, Wale und Robben. Gerade viele Walarten sind auf das Vorhandensein dichter Krillschwärme angewiesen. Ohne sie würde das Filtern der Wassermassen nach Nahrung energetisch zu aufwendig sein.

Krill im Klimawandel

Ein Hauptantrieb des antarktischen Klimas ist die El Niño-Southern Oscillation (ENSO), die vor allem für ihren Einfluss auf das Klima des äquatornahen Pazifikraums bekannt ist. Für die Süd-Shetlandinseln beispielsweise haben Wissenschaftler gezeigt, dass ENSO die Produktivität des Gebiets innerhalb eines Jahres und zwischen den Jahren stark schwanken lassen kann.

Die durch ENSO hervorgerufenen Änderungen der Wassertemperatur verursachen unter anderem auch Schwankungen in der Phytoplankton-Produktion, der Hauptnahrung des Krills. Klimatische Effekte beeinflussen das Nahrungsnetz. Jedes trophische Level reagiert beispielsweise durch Veränderungen der Fress-, Fortpflanzungs- und Verhaltensgewohnheiten. Durch Überlagerung mit dem örtlichen Klima entstehen komplexe Muster, deren Deutung erst am Anfang steht.

Antarktika-Mosaik aus Satellitenfotos. Bild: Dave Pape/Nasa/gemeinfrei

Anfang der 1990er Jahre hatten Meereswissenschaftler einen stetigen Rückgang des Antarktischen Krills festgestellt - einige Schätzungen gehen von 80% seit den 1970er Jahren aus. Dieser Rückgang wird mit den steigenden Lufttemperaturen in der Antarktis und der damit einhergehenden Abnahme der Meereisbildung in Zusammenhang gebracht, wonach ein Rückgang des Umfangs der Eisbedeckung und ihrer Dauer auch den Lebensraum des Krills sowie seine Häufigkeit einschränken wird.

Doch zumindest seit Ausgang der 1970er Jahre ist die Eisbedeckung in der Antarktis je nach vorherrschender Jahreszeit relativ stabil geblieben. Gleichwohl sind starke örtliche Schwankungen bekannt, wie etwa auf der westlichen Antarktischen Halbinsel.

Angesichts des postulierten weltweiten Klimawandels rätseln Wissenschaftler seit Jahren, was genau das antarktische Eis vor dem Schicksal seines Gegenstücks auf der nördlichen Halbkugel bewahrt. Verschiedene Theorien sind in Umlauf. Eine mögliche Erklärung lieferten 2016 NASA-Wissenschaftler, nach denen geologische Faktoren wie die antarktische Topographie und das Tiefenprofil des Südlichen Ozeans Winde und Strömungen beeinflusst, die die Entwicklung des Antarktischen Eisschilds prägen.

Geoengineering: Krill als Pumpenwart

Dem Krill wird eine bedeutende Rolle als biologische Kohlenstoffpumpe zugesprochen - vielmehr seiner Fähigkeit zur Produktion von sogenanntem Meerschnee: Da seine Verdauung nicht sehr effizient ist, gelangen beträchtliche Teile unverdauter Algen über Kotfäden und Auswurf in die Tiefe, wo der darin enthaltene Kohlenstoff über 1000 Jahre zwischengeparkt wird. Doch noch ist recht wenig über diesen Teil des Kreislaufs bekannt.

Geo-Ingenieure trauen dem Krill unterdessen eine Schlüsselrolle beim Kampf gegen den Klimawandel zu. Sie wollen den Einöden der offenen Ozeane zu einem Produktivitätsschub verhelfen. Zuerst ließe sich der Krillbestand des Südlichen Ozeans durch Eisendüngung vervielfachen, mit der sich Algenblüten bei seiner bevorzugten Nahrung - dem Phytoplankton - provozieren ließen. Der so hinzugewonnen Krill wird anschließend püriert und den nährstoffarmen Gebieten der zentralen Ozeane als Nährstoffquelle zugeführt. Diese wiederum könnten dann mit Krillarten gemäßigterer Zonen bevölkert werden, die das neu entstehende Phytoplankton vor Ort abweiden und dann zum größten lebenden Kohlenstoffspeicher des Planeten würden. Getrockneter Krill könne außerdem zu Pyrolyseöl für Kraftwerke verarbeitet werden, mit deren Abgasen dann Algenteiche zur Kraftstoffproduktion aus Mikroalgen begast werden könnten.

Krill und Kohlendioxid: Leben im Südpolar-Siphon

Mehr Kohlendioxid im Meerwasser hat eine zunehmende Versauerung der Ozeane zur Folge. Krill reagiert auf eine Verschiebung dieses Gleichgewichts äußerst sensibel. Forscher der Australian Antarctic Division um So Kawaguchi hatten in ihrem Krill-Forschungsaquarium in Hobart auf Tasmanien verschiedene Bedingungen erprobt, die je nach Szenario einer weiteren Entwicklung der Kohlendioxidkonzentrationen in der Luft zu erwarten sind.

Sie hatten dementsprechend Kohlendioxid in das eisige Wasser ihrer Experimentaltanks gepumpt, Ergebnis: Erhöhte Kohlendioxidkonzentrationen im Wasser wirken sich nachteilig auf die Physiologie des Krills aus. Die zeichnet sich durch eine hohe Komplexität aus: Vom Moment des Schlüpfens bis zum Erwachsenwerden durchläuft das Tier zwölf Larvenstadien, die vom Kohlendioxid jeweils unterschiedlich stark beeinflusst werden können. Die Schlüpfrate bei den Eiern geht zurück, die Larven werden an ihrer Entwicklung gehindert. Besonders betroffen sind jedoch die Eier selber. Die Kohlendioxidkonzentrationen steigen mit größeren Tiefen an. Da die Eier absinken, müssen sie diese Zone passieren. Die höhere Acidität verhindert die Ausbildung von Schalen und Exoskeletten.

Sollten die Kohlendioxidkonzentrationen weiter ungebremst steigen, könnte die Antarktis für den Antarktischen Krill schon im nächsten Jahrhundert kein geeigneter Lebensraum mehr sein, befürchten die Meeresbiologen. Die Forscher sind beunruhigt, sie hätten gedacht, dass der Krill robuster sein würde.

Salpidae: Die Hoffnung auf der Ersatzbank

Andere Wissenschaftler haben sich schon einmal im Ökosystem des Südlichen Ozeans umgesehen und bereits ein anderes bedeutendes Mitglied ausgemacht, das aufgrund des Klimawandels künftig häufiger auftreten könnte und das zudem in der Lage sein soll, zumindest einen Teil der Arbeit des Krills als biologische Kohlenstoffpumpe zu übernehmen: die zur Klasse der Salpen zählenden Salpidae (hauptsächlich Salpa thompsoni), gallerartige Filtrierer mit Generationswechseln, die zwischen allein lebenden Tieren und langen Ketten miteinander verbundener Individuen oszillieren.

Seine Fortbewegung durch Wasserstrahlantrieb gilt als eine der effizientesten im Tierreich. Sie kommen in allen Weltmeeren vor, im Südlichen Ozean sind sie jedoch am häufigsten. Dort besetzen sie die weitläufigen unproduktiveren Regionen. Salpen bevorzugen vermutlich wärmere Bereiche des Meeres, die ein moderates Nahrungsangebot und eine geringere Bedeckung mit Meereis bieten.

Während die Krillpopulation in den antarktischen Gewässern seit 100 Jahren rückläufig ist, scheint die der Salpidae in ihren südlichsten Vorkommen im Wachsen begriffen zu sein. Ihr Erfolg ist zum Teil in ihrer Reaktionsfähigkeit auf Algenblüten begründet: dann nämlich klonen sie sich schnell, um das Phytoplankton abzuräumen. So führte vermutlich ein massenhaftes Auftreten von Salpa fusiformes 1920 zum Zusammenbruch der Heringsfischerei in der Nordsee - den Fischen war das Futter ausgegangen.

Salpenkette. Bild: Oregon Department of Fish & Wildlife/CC-BY-SA-2.0

Sie wachsen vermutlich schneller als jedes andere mehrzellige Tier, und sie sind gefräßig: steht das Phytoplankton dicht, können ihre tonnenförmigen Körper verstopfen und zu Boden sinken. Auf diese und die zusätzlich absinkenden Ausscheidungen der übrigen Salpidae, gepaart mit der Häufigkeit ihres Vorkommens, gründen einige Wissenschaftler ihre Hoffnung, dass diese Manteltiere die biologische Kohlenstoffpumpe im Südlichen Ozean am Laufen halten werden, dann, wenn der Antarktische Krill dazu nicht mehr in der Lage sein sollte.