"Das größte kriminologische Experiment der Geschichte"
Die Lockdowns zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie reduzierten anfangs drastisch die Kriminalität. US-Kriminologen fordern auf, die Gunst der Stunde zu nutzen, um kriminologische Theorien zu überprüfen
Amerikanische Kriminologen sehen die Covid-19-Pandemie und die politischen/gesellschaftlichen Reaktionen als das "größte kriminologische Experiment der Geschichte". Jeder ist Versuchsperson. Man hätte ja auch meinen können, es sei das größte wissenschaftliche Experiment mit Milliarden von Menschen, in dem Entscheidungen fortwährend empirisch auf ihre Folgen mit der Erhebung von Big Data geprüft werden. Auch politisch und wirtschaftlich können die Lockdowns als globales Großexperiment gesehen werden, um festzustellen, wie Menschen, Organisationen und Institutionen sich unter bestimmten Bedingungen verhalten (Covid-19 und das wissenschaftliche Experiment auf nationaler und globaler Ebene).
Die Kriminologen Marcus Felson und Ben Stickle sagen jedenfalls in ihrem Beitrag für das American Journal of Criminal Justice, der am 16. Juni veröffentlicht wurde, dass die Pandemie weltweit zu einem Rückgang der Kriminalität geführt zu haben scheint. Das dürfte zutreffen, kann sich aber schnell ändern bzw. hat sich wahrscheinlich schon mit den Lockerungen oder den Protesten und Unruhen in den USA geändert, andererseits sind vermutlich häusliche Gewalt und Online-Kriminalität gestiegen. Für den berichteten Rückgang der Kriminalität machen die Wissenschaftler die Lockdowns verantwortlich. Und weil diese Länder, Bundesländer und Gemeinden zu unterschiedlichen Zeiten und auf unterschiedliche Weise betroffen haben, habe sich "ein natürlich ereignendes, fast zufälliges Kontrollexperiment entwickelt, das wie niemals zuvor die Prüfung von Kriminalitätstheorien erlaubt". Das klingt ziemlich zynisch, was aber eine Eigenschaft der Wissenschaft ist. Oder benutzt die Politik die Wissenschaft?
Kriminologen werden aufgefordert, die Gunst der Stunde zu nutzen, um zu eruieren, warum, wo, wie und in welchem Ausmaß die Kriminalität zurückgegangen ist. Und sie sollten dafür so viele Daten wie möglich sammeln und auswerten, um die Kriminologie ebenso wie die Epidemiologen und Virologen, aber auch die Ökonomen, Psychologen und Soziologen zum Nutznießer der Pandemie zu machen. Wissenschaftlich gut sei, dass sich nur wenige Variablen, dies aber unter verschiedenen Bedingungen, verändert haben. Und weil die gesamte Gesellschaft betroffen ist, brauche es keine Kontrollgruppe, weil man nicht Variablen wie Alter, Geschlecht, sozialen Status etc. kontrollieren müsse.
Exzellente Bedingungen des Experiments auf globeler Ebene
Quasi über Nacht seien Länder weitgehend stillgelegt worden - mit Ausgangsverboten, Kontaktvermeidung, Schließung von Firmen und Organisationen, Telearbeit und Reduktion des Pendelns und Schließung von Geschäften und Restaurants sowie Verboten von Veranstaltungen. Die Anordnungen, Zuhause zu bleiben, hätten "die weitest reichende, bedeutsame und plötzliche Veränderung des Lebens von Milliarden von Menschen in der menschlichen Geschichte" herbeigeführt. Das hat nicht nur zu einer merklichen Beruhigung des seismischen Hintergrundrauschens auf der Erde durch die heruntergefahrenen menschlichen Aktivitäten auf der ganzen Welt geführt, sondern auch zu einem Rückgang an Verbrechen.
Das haben Studien zu Beginn der Lockdowns nachgewiesen. So ist in San Francisco die Kriminalität um 43 Prozent während der ersten 14 Tage nach der Anordnung des Lockdowns am 16. März zurückgegangen, in Oakland waren es 50 Prozent. Schaut man auf bestimmte Straftaten, so sind etwa Diebstähle in Los Angeles um 10 Prozent, in Geschäften um 64 Prozent weniger geworden. In Chicago ging die Kriminalität über Wochen um 35 Prozent zurück, in Restaurants um 70 Prozent. Aber es gebe erhebliche Unterschiede. So seien Diebstahlsvergehen in Austin, Los Angeles, Memphis und San Francisco weniger geworden, aber nicht in Louisville oder Boston. In Austin, Los Angeles und Louisville gab es weniger schwere Körperverletzungen, aber nicht in anderen Städten.
Ähnlich gab es auch in Deutschland weniger erfasste Straftaten und weniger Einbrüche, Diebstähle oder Gewaltverbrechen von Februar bis Mitte April als im Vorjahr. Es war schon von einer "Krise der Kriminalität" die Rede. In Bayern wurden bis Mitte April weniger Einbrüche, Ladendiebstähle, Körperverletzungen, Betrugsdelikte und Sexualstraftaten gemeldet. In Berlin wurden zwischen dem 14. März und dem 30. April über 20 Prozent weniger Straftaten registriert. Auch hier gab es große Unterschiede. Auto-Diebstähle brachen um 80 Prozent ein, Taschendiebstähle um 60 Prozent, Einbrüche um 50 und Raubüberfälle um 40 Prozent. Dagegen hat nach Angaben der Vereinten Nationen weltweit die Internetkriminalität zugenommen. In Schweden, das wegen der deutlich schwächeren Maßnahmen, die vorwiegend auf Empfehlungen fußten, als Vergleich dienen kann, fiel die Kriminalität nur geringer um 8,8 Prozent. Bei Raub und Drogenvergehen gab es keine Veränderungen, aber Wohnungseinbrüche gingen um 23 Prozent, Einbrüche in Geschäfte um 12,7 Prozent und Taschendiebstähle um 61 Prozent zurück.
Man könne lernen, wie Kriminalität reduziert werden kann
Was könnte das globale Experiment in einem Ausnahmezustand für die Kriminologie aufzeigen? Dass die Kriminalität zurückgeht, wenn die Gelegenheiten schwinden? Dass dann, wenn Ausgangsverbote verhängt werden, der öffentliche Raum sicherer wird und Einbrüche riskanter werden, wenn die Menschen sich Zuhause aufhalten oder Telearbeit machen? Dass häusliche Gewalt und Cyberkriminalität zunehmen? Und vielleicht, dass nach den Lockerungen ein Rebound-Effekt eintritt, zumal wenn viele Menschen wegen der Folgen der Lockdowns ihre Arbeit oder ihr Einkommen verloren haben?
Die Wissenschaftler sagen, die Hauptfrage sei, warum die Kriminalität zurückgegangen ist. Zusätzlich müsse man eruieren, was man daraus lernen kann, um in der Zukunft Kriminalität zu reduzieren. Manche Variablen hätten sich nicht geändert wie Armut oder Ungleichheit, aber die Gesellschaft sei desorganisierter geworden, soziale Einflüssen hätten abgenommen, Stress und abweichendes Verhalten habe durch die finanzielle und gesundheitliche Angst zugenommen, während die Strafverfolgung nachgelassen habe, Gefangene freigelassen wurden oder Gerichte nicht mehr arbeiteten.
Die Autoren lenken die Aufmerksamkeit auf vier Achsen: Die Verschiebung innerhalb der Kriminalität und deren Ziele. Wo es keine Massen mehr gibt, gibt es schlicht weniger Möglichkeiten des Taschendiebstahls, wenn die Geschäfte schließen, weniger Diebstahl, dafür könnten mehr Pakete geklaut werden, da Online-Bestellungen zunehmen. Dann die Verschiebungen der Zeitstrukturen des Alltagslebens und des kriminellen Verhaltens. Große Einsicht in Verhaltensänderungen würde die Analyse von Mustern im Vorlauf zum Lockdown, während des Lockdowns und bei der Lockerung bieten. Dazu kommt die Auswertung von Mobilitätsdaten durch Google oder Apple, die u.a. zeigen, wie viele Menschen den Aufforderungen folgen, Zuhause zu bleiben, und wie und wo sich die essentiellen Arbeiter und die Renitenten bewegen. Interessant sei auch, wo sich Kriminalität ereignet, um zu erkennen, wie man sie bekämpfen könnte. So gibt es während eines Lockdowns weniger Gelegenheiten des Diebstahls oder von Angriffen, aber im Internet steigen die Möglichkeiten mit der verstärkten Benutzung an.
Nach den Autoren könnten Wissenschaftler das "größte kriminologische Experiment der Geschichte" benutzen, um Bundesstaaten und Gemeinden zu vergleichen, die Gefangene frühzeitig entlassen, die den Zugang zu Alkohol eingeschränkt oder erleichtert oder die den Lockdown früher oder später begonnen haben. Untersuchen könne man Kriminalität im öffentliche Raum im Unterschied zu den Wohnräumen. Viele Variablen könnten nun operationalisiert werden, die früher außerhalb des Zugriffs der Wissenschaft lagen.
Über den Anstoß hinaus, nun die Pandemie zu nutzen, um Daten zu sammeln und auszuwerten, geben die Autoren aber keine Hinweise darauf, wie sich die daraus gewonnenen Erkenntnisse zur Reduktion der Kriminalität nutzen ließen. Sollte man zur Kriminalitätsbekämpfung Ausgeh- oder Reiseverbote verhängen? Ist Telearbeit, Online-Shopping oder die Virtualisierung des Alltagslebens ein Mittel, um Kriminalität zu senken oder um sie zu verschieben? Im Grunde geht es nur um vorhandene oder verschlossene Gelegenheiten. Aus den Verhaltensveränderungen während Lockdowns wird sich nicht ablesen lassen, warum überhaupt Straftaten begangen werden und welche gesellschaftlichen Veränderungen notwendig wären, um diese zu reduzieren. Das würde politisch wahrscheinlich bedeuten, Armut, Ungleichheit und Diskriminierung zu bekämpfen, also auch das kapitalistische System zu verändern.
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