Das längste Fernrohr des Sonnensystems
Die Untersuchung von Gravitationslinsen hat sich zu einem dynamischen Gebiet der Astronomie entwickelt
Am Beginn der modernen Astronomie steht das Teleskop. Als Galileo Galilei im Jahr 1609 dieses neu erfundene Beobachtungsinstrument erstmals auf den Himmel richtete, leitete er damit die bislang bedeutendste Umwälzung in der Geschichte der Himmelskunde ein. Seitdem sind die Fernrohre zum unerlässlichen Grundwerkzeug der Sternenforscher geworden, deren Linsen und Spiegel im Lauf der Jahrhunderte ständig verbessert worden sind. Dass die Wissenschaftler aber eines Tages die Sterne selbst als Teleskope nutzen würden, hat wohl auch Galilei nicht geahnt.
Ein internationales Astronomenteam hat genau das jetzt getan und dadurch in 13,4 Milliarden Lichtjahren Entfernung eine extrem kleine Galaxie entdeckt. Zwar setzten die Forscher um Richard Ellis vom California Institute of Technology bei ihrer Suche nach sehr weit entfernten Objekten die leistungsfähigsten, derzeit verfügbaren Geräte ein: das Hubble Weltraumteleskop und die beiden, mit Zehn-Meter-Spiegel ausgestatteten Keck Teleskope auf Hawaii. Die nur etwa 500 Lichtjahre durchmessende Galaxie wäre ihnen aber trotzdem entgangen, wenn ihr Licht nicht durch die Schwerkraft eines dazwischen liegenden Galaxienhaufen um mehr als das 30-fache verstärkt würde.
"Wir sind sehr begeistert", sagt Teammitglied Konrad Kuijken vom niederländischen Kapteyn-Institut. "Wir glauben, dass es sich um einen der Bausteine handelt, die sich später in der Entwicklung des Universums zu größeren Galaxien zusammenfügen. Mit dieser Entdeckung könnten wir am Ende Zeugen der Umstände werden, unter denen die erste Sternengeneration entstand."
Die Vermutung, dass Licht und andere elektromagnetische Strahlung durch Gravitationsfelder abgelenkt wird, hat erstmals Albert Einstein um 1915 im Rahmen seiner Allgemeinen Relativitätstheorie geäußert. Eine totale Sonnenfinsternis am 29. Mai 1919 bot die Gelegenheit, die Vorhersage zu überprüfen, da während der Verdunkelung auch Sterne in unmittelbarer Sonnennähe beobachtet werden konnten. Tatsächlich erschienen deren Positionen um genau die von Einstein vorhergesagten Werte verschoben. 17 Jahre später wagte Einstein erneut eine Prognose: Wenn sich zwischen einem weit entfernten kosmischen Objekt und dem Beobachter ein massereiches Gebilde befinde, könnte das Bild des entfernten Objekts durch die Schwerkraft zu einem Ring verzerrt werden. Er selbst war allerdings skeptisch, ob jemals ein solcher, mittlerweile nach ihm benannter Einstein-Ring beobachtet werden würde. Der schweizer Astronom Fritz Zwicky ergänzte die Vorhersage durch den Hinweis, dass auch Doppel- und Mehrfachbilder ferner Objekte möglich seien.
Diesmal dauerte es etwas länger, bis auch diese Theorien bestätigt wurden: Im Jahr 1979, rechtzeitig zu Einsteins hundertstem Geburtstag, entdeckten US-Astronomen zwei dicht beieinander liegende Quasare mit nahezu identischen Spektren. Der Verdacht, dass es sich um zwei Bilder desselben Objekts handeln könnte, wurde wenig später dadurch erhärtet, dass dazwischen eine vergleichsweise nahe Galaxie gefunden wurde, die offenbar als Gravitationslinse wirkt. Neun Jahre danach, im Jahr 1988, wurde bei Beobachtungen im Radiowellenbereich dann auch der erste Einstein-Ring identifiziert.
Mittlerweile haben sich Gravitationslinsen zu einem dynamischen Forschungsgebiet entwickelt. Mehrere Astronomenteams in aller Welt durchsuchen den Himmel nach verdächtigen Verzerrungen, die auf die Existenz einer Linse hinweisen. Dabei werden drei Kategorien unterschieden: starke, schwache und Mikrolinsen.
Starke Gravitationslinsen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die entfernten Objekte tatsächlich mehrfach abbilden. Das ermöglicht Untersuchungen, die bereits vor der Entdeckung der ersten Linsen in den sechziger Jahren von Sjur Refsdal an der Hamburger Sternwarte konzipiert worden sind: Refsdal schlug vor, sich den Umstand zunutze zu machen, dass die verschiedenen Bilder des gelinsten Objekts unterschiedliche lange Wege zurücklegen, bis sie auf der Erde ankommen. Wenn es gelingt, diese Laufzeitdifferenz zu bestimmen, so kann darüber die Gesamtlaufzeit und damit die Entfernung bestimmt werden. Eine solche direkte Entfernungsmessung ist wiederum wichtig für die Bestimmung der sogenannten Hubble-Konstante, die anzeigt, wie schnell das Universum expandiert. Allerdings erfordert dieses Verfahren sehr genaue Computermodelle, die die Massenverteilung in den Linsen simulieren, so dass deren Gravitationswirkung auf die Lichtsignale nachvollzogen werden kann. Das ist schwierig, da es sich bei starken Gravitationslinsen zumeist um große, unregelmäßig geformte Galaxienhaufen handelt. Auch das Licht der jetzt entdeckten Galaxie wurde durch einen aus mehreren tausend Galaxien bestehenden, etwa zwei Milliarden Lichtjahren entfernten Haufen (Abell 2218) abgelenkt und in zwei Bilder aufgeteilt.
Erst im August berichtete jedoch ein internationales Wissenschaftlerteam von der Entdeckung einer Linse, die ein sechsfaches Bild einer weit entfernten Galaxie produziert, selbst aber nur aus drei Galaxien besteht. Das erleichterte die Simulation im Computer. "Wir glauben, dass wir damit ein hervorragendes Werkzeug schaffen werden für das Studium erheblich kompakterer Galaxienhaufen und der Wechselwirkung der einzelnen Galaxien mit der sie umgebenden dunklen Materie", sagt Teammitglied Martin Norbury vom Jodrell Bank Observatory in Großbritannien.
Für die Suche nach dunkler Materie sind Gravitationslinsen besonders prädestiniert, da sie sich ausschließlich durch ihre Schwerkraft bemerkbar machen. Das gilt auch für die schwachen Gravitationslinsen, die sich von den starken dadurch unterscheiden, dass sie keine mehrfachen Bilder hervorrufen, sondern lediglich Verzerrungen des Hintergrunds. Amerikanischen Wissenschaftlern ist es jetzt gelungen, solche Verzerrungen mit Hilfe eines Computerprogramms aufzuspüren und durch deren genaue Analyse einen dicht gepackten Haufen von mindestens 15 Galaxien zu lokalisieren. Die Entfernungsabschätzung dieses als Linse wirkenden Galaxienhaufens konnte später durch traditionelle optische Methoden genau bestätigt werden.
"Wir haben gezeigt, dass wir die Entfernung des Haufens durch den Grad der Verzerrung im Verhältnis zur Entfernung der Hintergrundgalaxien messen können", sagt Teammitglied David Wittman von den Lucent Technologies' Bell Labs in Murray Hill, New Jersey. "Wir können also den Haufen im dreidimensionalen Raum genau lokalisieren, ohne sein Licht untersuchen zu müssen. Das ist wichtig, weil der größte Teil der Masse im Universum dunkel ist."
Damit ist der Weg frei für ein größeres Forschungsprojekt, bei dem der gesamte Himmel mit einem Acht-Meter-Spiegelteleskop alle paar Nächte komplett fotografiert und systematisch nach schwachen Gravitationslinsen durchsucht werden soll. Schließlich gibt es noch die Mikrolinsen, die sich nur durch Veränderungen in der Helligkeit von dahinter liegenden Objekten bemerkbar machen. Es handelt sich dabei um kleine Sterne oder große Planeten, die die Leuchtkraft der hinter ihnen liegenden Objekte vorübergehend verstärken, wenn sie vor ihnen vorbei wandern. Solche "Mikrolinsen-Ereignisse" haben erst vor kurzem Hinweise auf Planeten gegeben, die sich möglicherweise frei, an keinen bestimmten Stern gebunden, in Sternhaufen bewegen.
Die Herausforderung beim Studium von Gravitationslinsen besteht unter anderem darin, die Bilder zu entzerren und dadurch etwas über die Struktur und Massenverteilung der als Linse wirkenden Objekte zu erfahren. Im Unterschied zu den präzise geschliffenen, optischen Linsen in den Teleskopen der Astronomen, sind die bislang bekannten Gravitationslinsen extrem unregelmäßig geformt. Es ist ein wenig so, als würde man den Himmel durch eine zufällig gefundene Glasscherbe betrachten und daraus Rückschlüsse sowohl auf die Scherbe als auch auf die abgebildeten Objekte ziehen. Wie aber wäre es, wenn Form und Masse der Gravitationslinse genau bekannt wären? Könnten wir etwa die Schwerkraft der Sonne gezielt für astronomische Beobachtungen nutzen?
Theoretisch ist das möglich – und verspricht fantastische Resultate: Denn die Vergrößerung eines Teleskops hängt in erster Linie von der Brennweite des Objektivs, also der vorderen Linse (oder des Spiegels), ab. Je weiter Objektiv und Okular auseinander liegen, desto stärker die Vergrößerung. Nun liegt der Brennpunkt der solaren Gravitationslinse in einer Entfernung von etwa 550 Astronomischen Einheiten (AE). Das entspricht dem 550-fachen Abstand der Erde von der Sonne, ungefähr 82,5 Milliarden Kilometer. Eine Sonde, die hier postiert würde, könnte als das Okular eines gigantischen Teleskops fungieren. "Das Blickfeld wäre zwar sehr schmal", vermutet Gregory Matloff, Professor für Astronomie an der New York University. "Dafür würde die Vergrößerung bei einem Faktor von etwa 100 Millionen liegen."
Eine solche Mission liegt derzeit noch außerhalb der raumfahrttechnischen Möglichkeiten. Die beiden am weitesten entfernten Sonden, zu denen noch Kontakt besteht, Voyager 1 und 2, befinden sich in einem Abstand von 82 und 66 AE von der Sonne und entfernen sich mit einer Geschwindigkeit von 3,6 und 3,3 AE pro Jahr. Wenn sie den Fokusbereich der solaren Gravitationslinse erreichen, werden ihre Batterien längst verbraucht sein. Doch in diesem Jahrhundert könnte die Nutzung der Sonne als Teleskop sicherlich realisierbar sein. Was zukünftige Generationen von Astronomen damit entdecken werden, bleibt vorläufig der Fantasie überlassen.
"Gravitationslinsen", spekulierte der 1996 verstorbene Wissenschaftspublizist und Astronom Carl Sagen, "sind möglicherweise ein allgemein angewandtes Verfahren, mit dem fremde Zivilisationen die Regionen erforschen, die außerhalb der Planeten ihres Sonnensystems liegen."