Das neue Byzanz

Steht das amerikanische Imperium vor einem 'Clash of Civilizations' der unerwarteten Art?

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Um das transatlantische Verhältnis steht es schlecht – so schlecht, dass die Auguren hüben wie drüben des Atlantiks sich genötigt fühlen, vor einer wachsenden Entfremdung, Kluft oder gar Spaltung des Westens in zwei rivalisierende Lager, Blöcke oder gar Mächte zu warnen. Der britische Journalist Nicholas Fraser tut das; der amerikanische Shooting Star, Jedediah Purdy, der gegenwärtig auf Promotiontour in Deutschland weilt, auch; und Francis Fukuyama (im Original hier) sieht die westlichen Werte und Institutionen, die nach dem "Ende der Geschichte" nicht nur die Amerikas sein sollten, gar angeschlagen: "Zwischen der europäischen Wahrnehmung der Welt und jener der Amerikaner hat sich ein riesiger Graben aufgetan. Das Gefühl für die gemeinsamen Werte schwindet."

Stark/schwach – der neue Leitcode

Samos wird ein Sandhaufen sein
und Delos verschwinden,
Rom wird sein eine Gasse –
denn alle Orakel erfüllen sich.

Sibyllinische Weisheit

Jüngst ist Robert Kagan in seiner brillanten und viel beachteten Analyse des transatlantischen Bündnisses noch weiter vorgeprescht. Der Falke und monatliche Kolumnist der Washington Post glaubt, dass die "transatlantische Spaltung" längst eingetreten ist: die USA und Europa besäßen gar keine Gemeinsamkeiten mehr.

Einen kohärenten "Okzidentalismus", wie ihn Ian Buruma und Avishai Margalit vor einem halben Jahr mit hohem intellektuellen Aufwand entwickelt haben, gäbe es mithin überhaupt nicht. Längst wohnten "die USA und Europa auf unterschiedlichen Planeten". Anders als Fukuyama, Purdy oder soeben Claus Leggewie oder Etienne Balibar (FR. vom 23.11.02) lokalisiert er die Ursache für den "transatlantischen Graben" aber nicht in unterschiedlichen nationalen oder kulturellen Charakteren oder Lebensformen, sondern in einem "Machtgefälle", das durch die tragischen und blutigen Erfahrungen Europas im Zweiten Weltkrieg hervorgerufen wurde und schließlich zum machtpolitischen Platz- und Perspektivenwechsel im Weltsystem geführt hat.

Früher, als Europas Nationen noch groß und stark waren, hätten diese ihre Politiken an macht- und geopolitischen Codes ausgerichtet. Heute, da sie militärisch schwach sind, wollen sie von solchen Vorgaben der Politik nichts mehr wissen. Statt sich den realen Gefahren und Bedrohungen (Proliferation, Terrorismus, Schurkenstaaten ...) der Globalisierung zu stellen und sich "präemptiv" davor zu wappnen, vertrauten sie lieber auf die universellen Kräfte der Moral, der Wirtschaft und der Kommunikation, darauf, dass ein Geflecht aus allgemeinen Regeln, Geschäften und Kooperationen sie vorm Einbruch der Realpolitik schützen möge.

Die USA hätten diese Strategie solange verfolgt, wie sie politisch schwach waren. Auch ihre Führer glaubten lange Zeit an die Frieden stiftende Funktion von Handel und Verkehr, daran, dass die Strahlkraft von Ideen, Werten und Wohlstand jeden politischen Hader, Zank oder Zwist abfedern und internationale Gesetze, Abmachungen und Prinzipien schließlich über die rohen Mächte der Gewalt, des Hasses und des Todes obsiegen würden. Seitdem die USA aber stark sind und sich anderen Nationen in allen Belangen überlegen wissen, verhielten sie sich wie ehemals die europäischen Nationen. Sie orientierten ihr Handeln an den Codes der Machtpolitik und verfolgten kühl und entschlossen ihre nationalen Ziele, Interessen und Strategien, ohne auf die Bedenken, Empfindlichkeiten oder Eitelkeiten von Verbündeten Rücksichten zu nehmen oder von einem Rivalen, Gegner oder Bündnis irgendwie gebremst oder gehindert werden zu können.

Die kommende Supermacht

Angesichts dieses machtpolitischen Klartextes wirkt jemand, der die Heraufkunft eines neuen Rivalen ankündigt und dem "neuen Rom" auch noch das baldige Ende seiner imperialen Ära prophezeit äußerst ungewöhnlich und befremdlich.

Der sich nach dem linken Krisentheoretiker und Geopolitiker Immanuel Wallerstein noch zu solchen mahnenden und Aufmerksamkeit heischenden Tönen an die Adresse seines Landes versteigt, heißt Charles A. Kapchun, der in der Amtszeit Bill Clintons als außenpolitischer Berater tätig war und jetzt internationale Politik an der Georgetown Universität von Washington, D.C., lehrt. Verblüffend an seiner Wortmeldung ist, dass er als kommenden Rivalen nicht, wie gemeinhin erwartet wird, die Volksrepublik China auserkoren hat, sondern den alten Kontinent. Europa wird seiner Meinung nach schon sehr bald in der Lage sein, ein ernstzunehmender Rivale des amerikanischen Imperiums zu werden.

Pax Americana is over. […] Will the United States learn to fade quietly, or will U.S. conservatives resist and thereby transform a gradual decline into a rapid and dangerous fall?

Immanuel Wallerstein

Die Zahlen und Argumente, die er für seine These beibringt, wirken auf den ersten Blick durchaus überzeugend:

  1. die Bevölkerungszahl Europas sei größer als die der USA
  2. Europas Wirtschaftskraft habe inzwischen annähernd die der USA erreicht
  3. der Euro habe mit dem Dollar gleichgezogen und bilde für internationale Anleger bereits eine echte Alternative zum Dollar
  4. das europäische Zusammengehörigkeitsgefühl sei im Wachsen begriffen; es werde einen gewaltigen Schub erhalten, wenn Europas Führer sich zu einer politischen Verfassung, einer straffen Entscheidungsstruktur und dem Aufbau einer gemeinsamen Streitmacht durchgerungen haben
  5. durch die Osterweiterung werde Europa zu einer "beachtlichen Gegenmacht" und ein Gegenmodell oder gar "Gegengift" zur USA darstellen.

Sollte ihre räumliche "Ausdehnung" nach Osten gar ein wirtschaftlicher und politischer Erfolg werden, könnte die EU die globale Vorherrschaft der USA attackieren, eine Schlüsselposition im Kampf um den "geopolitischen Pivot" einnehmen und mit ihr um die Aufteilung und Pfründe dieser Welt zu ringen. Anders als die USA sitze die EU am "Herzland" des Planeten näher dran (Wachsende Räume).

Neben dem räumlichen Vorteil, der geographischen Nähe und der kurzen Distanzen, könnte die EU aber auch ihre geschichtlichen Erfahrungen in die Waagschale werfen und ihre traditionell engen Bande und guten Beziehungen mit den slawischen Völkern gegen die USA ausspielen. Befehlsgewalt (imperium) und Schiedsrichterrolle über Eurasien würden dann von Moskau nicht nach Washington, sondern nach Brüssel wandern, an ein prosperierendes Europa, das sein Heil und seine Zukunft dann vielleicht wieder eher im Osten als im Westen suchen wird.

Reibungsflächen und Konfliktlinien

Diese neue transatlantische Rivalität, die zwischen den USA und Europa ausgebrochen ist, seitdem die Bush-Administration die "Achse des Bösen" entdeckt hat, den Krieg zum Feind tragen und Regimewechsel in aller Welt nach Gutsherrenart organisieren will, spüre man auf diversen Feldern.

Nachdem die USA ihre diplomatischen Bemühungen im Mittleren Osten oder auf dem Balkan eingestellt hätten, habe sich die EU still und heimlich aufgemacht, in diesen Regionen eigene geopolitische Interessen wahrzunehmen. Darüber hinaus hätten führende europäische Unternehmen angefangen, bekannte US-Firmen aufzukaufen (Bertelmann Random House, Daimler Benz Chrysler, Deutsche Telekom Voice Stream ...). Andere wiederum seien dabei, Schlüsselpositionen in bedeutenden technologischen Feldern (Nokia) zu besetzen oder sie amerikanischen Firmen streitig zu machen (Airbus kontra Boeing). Und mit der Entscheidung für ein eigenes Satellitennetzwerk (Galileo) schicke Europa sich an, sich unabhängiger von amerikanischer Hochtechnologie zu machen und ein Alternativmodell zum amerikanischen GPS-System aufzubauen.

Schließlich lasse Europa in wichtigen Fragen "seine Muskeln spielen". Es polemisiere gegen den US-Unilateralismus, kritisiere lautstark die Aufkündigung, den Rückzug oder den Ausstieg aus internationalen Vereinbarungen (Kyoto-Protokolle, ABM-Vertrag, Biowaffenkonvention, Internationaler Strafgerichtshof ...) und feilsche mit der Weltmacht um eine adäquatere Irak-Resolution.

All diese Streitpunkte, und nicht zuletzt die jüngsten Aussagen führender Europäer (Prodi, Persson), wonach man sich mit den USA auf Augenhöhe bewege und künftig auch "kein Satellit" (Joschka Fischer) mehr sein wolle, demonstriere, dass "der Westen" an einem kritischen Punkt seiner Entwicklung angelangt sei. So wie die Vereinigten Staaten sich vor Jahren aus dem britischen Empire gelöst hätten und darauf zur mächtigsten Nation aller Zeiten wurden, so könnte Europa nun aus dem westlichen Verbund ausscheren und sein Heil in einer von der amerikanischen Schutzmacht losgelösten Zukunft suchen.

Wenn die Hauptstadt der Welt untergeht und anfängt eine Gasse zu sein [...], wer zweifelte dann noch daran, dass nun das Ende für die Menschheit und die ganze Welt gekommen ist?

Lactantius

Eine solche transatlantische Drift wirft natürlich mehrere Fragen auf:

  1. Wird Europa sich überhaupt zu so einem Schritt entschließen? Wird es die alte Welt wagen, sein ganzes Potenzial abzurufen und zum Gegenspieler der USA aufzusteigen? Wenn ja, wann wird der Zeitpunkt dafür gekommen sein?
  2. Wird der Westen danach wirklich in zwei gänzlich unterschiedliche politische Kulturen auseinander brechen?
  3. Wird eine solche multilaterale Weltordnung, die erneut von um Macht und Einfluss, um Reputation und Prestige rivalisierender Großmächten geprägt sein wird, für die Völker, Staaten und Nationen dieser Welt dann wirklich sicherer, angenehmer oder verträglicher sein als eine, die von einer einzigen Supermacht dominiert wird?

Ein zweites Byzanz

Den Unmut und die Unlust, den die EU gegenüber den USA äußert, scheinen die Führer des "neuen Rom" aber kaum zu beeindrucken (Das Neue Rom). Sie verhalten sich, wie es sich für den Mastermind und absoluten Herrn gehört. Nämlich weitgehend ignorant, abschätzig und blind gegenüber Drohgebärden, die politische Zwerge, "Schwächlinge" oder Knechte aussenden.

Kein Wunder, dass US-Politiker die EU immer noch entweder als bloßen Handelsraum oder als bunte Ansammlung von Nörglern betrachteten, die sich ständig und lauthals über Amerikas Alleingänge beklagten. Sie sind sich sicher, dass selbst dann, wenn die Europäer sich ihrer wahren Wirtschaftskraft und politischen Stärke bewusst würden, ihre militärische Budgets aufbesserten und zu einer neuen Supermacht avancieren sollten, die geopolitischen Auswirkungen eines solchen Prozesses minimal sein werden. Zumal die Verbundenheit zwischen den beiden Kontinenten, wie empirische Untersuchungen gezeigt haben, wegen gemeinsam geteilter Werte stärker seien. Ein Clash des Westens in zwei feindliche Hälften sei darum undenkbar und nicht zu befürchten.

Des Senats entledigt, nunmehr mittels eines einfachen Stabs von Funktionären regierend, hört der Kaiser auf, Chef oder Herdenführer zu sein: er übernimmt eine der Rollen, die sich dem wahren Monarchen anbieten: Vater, Priester usf. Und eben darum wird er Christ.

Paul Veyne, Der Eisberg der Geschichte

Genau das könnte sich laut Kupchan aber als Trugschluss und frommer Wunsch erweisen. Auch Amerika habe ein Jahrhundert und einen blutigen Bürgerkrieg gebraucht, bis aus einer losen Konföderation eine mächtige Nation hervorging, die mit einer Zunge sprach. Warum sollte sich diese Geschichte in Europa nicht wiederholen und aus einem Verbund unterschiedlicher Interessen, Traditionen und Charaktere eine neue machtvolle Union werden, die auf andere Kontinente, Völker oder Staaten vorbildlicht wirkt und ihnen darum seine Verhaltensstile, Ideologien und Interessen aufzwingen kann?

Käme es dazu, so könnte sich eine Entwicklung anbahnen, die mit dem Schicksal des Imperium Romanums im 4. Jahrhundert nach Christus vergleichbar wäre. Auch da spaltete sich bekanntlich ein Teil des Reiches, das sich später Byzanz nannte, von der Kapitale ab. Woraufhin bald darauf das einstige Weltreich in zwei Teile zerfiel, in ein West- und Ostrom, die trotz oder gerade wegen ihres gemeinsamen Erbes später zu erbitterten Rivalen wurden.

Die gegenwärtige geopolitischen Lage mit der des Römischen Reichs der post-diokletianischen Ära zu vergleichen, hat natürlich etwas ebenso Pikantes und Provokatives wie Faszinierendes zugleich. Zumal auch Diokletian wegen anhaltender Kämpfe mit den germanischen Barbaren und zur Sicherung der Nordgrenzen den Senat entmachtete, vom Prinzipat aufs Dominat umschaltete und die Legislative durch das imperium eines väterlichen Kaisers ersetzte, der sein Volk als seine Kinder betrachtete, die via Erziehung auf den richtigen Pfad der Tugend gebracht werden müssen.

Schon finden sich hierzulande Korrespondenten, die die "fürsorgliche" Politik des George Walker Bushs als "misunderestimated" bewerten und Bush junior zum Sympathieträger, väterlichen Freund und Vater des Sieges hochschreiben.

Indes erinnern etliche der Strategien und Verhaltensweisen des "neuen Rom" an die des "alten". Auch das Imperium Romanum betrieb keinen Imperialismus, sondern leistete sich laut Paul Veyne eine "archaische Form des Isolationismus", die nach Fareed Zakaria, nur eine Zwillingsform des amerikanischen "Unilateralismus" darstellt. In seiner Antrittsvorlesung am Collège de France beschrieb der französische Historiker Paul Veyne seinerzeit diesen "Isolationismus" Roms so:

"Rom [...] verneint die Pluralität der Nationen, es verhält sich [...], als ob es der einzige Staat im wahrsten Sinne des Wortes sei; es sucht im Gleichgewicht mit anderen [...] keine gemeinsame Halb-Sicherheit, [...] sondern es will in Frieden leben, indem es sich ein für allemal eine vollständige und endgültige Sicherheit verschafft. Was wäre das Ideal einer solchen Ambition? Dieses: den ganzen menschlichen Horizont zu erobern, bis zu seinen Grenzen, bis zum Meer oder den Barbaren, um endlich alleine auf der Welt zu sein, wenn alles erobert ist."

Die transatlantischen Zwistigkeiten mit der weltpolitischen Lage des poströmischen Reiches zu konfrontieren, birgt aber noch aus einem weiteren Grund Sprengstoff in sich. Schließlich überlebte Byzanz die Zentrale noch um mehr als tausend Jahre. Erst wegen, durch und nach seinem Abtrünnigsein erlebte das neue byzantinische Reich seine große Blütezeit. Am Bosporus entwickelte sich nicht nur eine eigene Sprache mit einer eigenständigen Kultur und einer mächtigen Religion, dem neuen Reich gelang auch, was dem alten misslang, nämlich ein Mediensystem aufzubauen, das Zeit und Raum gewinnende Medien, Speicher- und Übertragungsmedien, ausbalancierte und dadurch die Stabilität des Reiches Jahrhunderte lang festigte (Techniken der Machtl).

Während es fortan eine herausragende Stellung in der mittelalterlichen Weltordnung einnahm, wurde das alte Imperium schon bald darauf – die Vorboten des elften September lassen grüßen – von Vandalen- und Barbarenstürmen blutig heimgesucht, ausgeplündert und schließlich total zerstört.

Zusammenprall der Kulturen

Könnte es also sein, dass "die ideologische Bruchlinie zur Frage der Globalisierung womöglich nicht mehr zwischen dem Westen und 'den Anderen', sondern zwischen den USA und 'den Anderen' verläuft", wie Fukuyama oder C. Kennedy und M. Bouton mutmaßen? Droht dem Westen gar ein neuer "Clash of Civilizations", einer, der eher zwischen alter und neuer Welt, Europa und Amerika stattfinden wird, als zwischen Abendland und Islam, wie Kupchan meint?

They agree on little and understand one another less and less.

Robert Kagan

Auch der größte Skeptiker wird zugeben, dass die Zeichen und Signale einer heimlichen kulturellen und politischen Absetzbewegung Europas von den USA sich mehren. In eminent wichtigen Fragen und Feldern der Politik, der Wirtschaft oder des Rechts folgen die USA und Europa inzwischen unterschiedlichen sozialen Modellen und Werten, Prinzipien und Interessen.

Treten Amerikaner für individuelle Freiheit, für Out-of-Joint-Kapitalismus und Machtpolitik ein, plädieren Europäer für wohlfahrtsstaatliche Programme, staatlichen Dirigismus und internationale Kooperation. Pflegen Amerikaner ein simples, zweiwertiges Schwarz-Weiß-Denken (gut/böse; für uns/gegen uns), bevorzugen Europäer mehrwertige und komplexere Weltsichten. Glauben sich Amerikaner im permanenten Verteidigungszustand (Schusswaffenbesitz) und votieren darum mehrheitlich für ein punitives Strafsystem (Todesstrafe), rücken Europäer eher den sozialpädagogischen Gedanken des Rechts in den Mittelpunkt.

Öffnen die USA ihre Grenzen für Einwanderer aus aller Herren Länder, verbarrikadieren sich die Europäer zunehmend hinter ihrer selbstgebauten Festung. Agieren die USA global, betreiben die Europäer lieber Nabelschau. Fühlen sich die Amerikaner durch die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen in ihrer Sicherheit bedroht, wollen die Europäer den Ball in solchen Fragen möglichst flach halten. Stellen sich die USA den Gesetzen des Dschungels, wähnen sich die Europäer bereits im kantischen Paradies des "Ewigen Friedens". Halten die Amerikaner Krieg für ein legitimes Mittel zur Durchsetzung nationaler Interessen, verschanzen sich die Europäer hinter verbindlichen Regelsystemen und vertrauen im Konfliktfall auf die Kraft des Arguments, des Dialogs und Konsenses.

Für ein neues transatlantisches Projekt

So dramatisch und schlimm wie Kagan, Kupchan und andere Kritiker die transatlantischen Beziehungen beurteilen, sehen Ronald D. Asmus und Kenneth M. Pollack, zwei ehemalige Clinton-Berater, die Lage nicht.

Zwar werde derzeit viel Porzellan zerschlagen. Doch überwögen im allgemeinen Americabashing und Eurotrashing die gemeinsamen strategischen Interessen klar die kulturellen Differenzen. Und diese ergäben sich aus den globalen Gefahren, denen sich der Westen seit dem elften September ausgesetzt sieht. Auch Europa sei vom Terror bedroht. Schließlich könnten atomar bestückte Mittelstreckenraketen aus dem Nahen Osten auch Europa erreichen. Und auch ein Anschlag mit biologischen, chemischen oder anderen schmutzigen Waffen in der einen oder anderen europäischen Kapitale durch islamistische Terrorzellen sei jederzeit möglich.

Vor allem diese Kombination von Massenvernichtungswaffen und antiwestlichen Affekten mache ein Umdenken der "Ziele des transatlantischen Projekts" notwendig, das aber auf den Spielregeln der USA aufgebaut und den Prämissen ihrer geostrategischen Interessen zugeschnitten ist. Der "neue Konsensus", der darin angemahnt wird, ist einer, der allenfalls Zustimmung und Mitmachen, aber weder eine Beschränkung noch einen Widerspruch duldet. Und die Angst, die dabei geschürt wird, ist eher von der Marke diffus und dumpf. Schon wird mit ihr Politik in den westlichen Ländern gemacht: nach innen, um schärfere Gesetze und Lauschangriffe durchzusetzen; nach außen, um die Bevölkerung zu einen und auf den gemeinsamen Feind einzuschwören.

Wir haben so viele Gemeinsamkeiten und so wichtige Fragen zu regeln, dass das immer im Vordergrund stehen muss.

Gerhard Schröder zu Präsident Bush auf dem Nato-Gipfel in Prag

Inzwischen hat diese Paranoia auch Europa erreicht. Während der Spiegel von der Verhinderung eines Gasanschlages auf die Tube berichtet, der hessische Ministerpräsident Vorsorgemaßnahmen gegen einen Angriff mit Pockenviren ergreifen will, und Bild vor möglichen islamistischen Attacken auf Ostseehäfen oder Angriffen al-Qaidas auf den Papst warnt, fordern Kommentatoren der Welt, der FAZ und konservative Politiker eine neue Sicherheitsdoktrin, die den amerikanischen Planspielen und Krisenszenarios angepasst wird.

Den Feind verorten Asmus und Pollack geopolitisch in einer Region, die "von Marrakesch bis nach Bangla Desh" reicht. Nach dem Attentat von Kuta-Beach muss sie wohl bis nach Indonesien ausgeweitet werden. Dieses "geopolitische Pulverfass" werde von Staaten, Regierungen und Völkern bewirtschaftet, die ins Mittelalter (Theokratie) zurück wollen, den Westen insgesamt für korrupt und dekadent halten und vom abgrundtiefen Hass auf seinen Way of Life (Freizügigkeit, Massenkonsum, Popkultur ...) geprägt sind. Eine Maginot-Linie gegen diesen omnipotenten Feind gibt es nicht.

Damit wird unter der Hand nicht nur Huntingtons Kulturkreislehre neu aufgewärmt, dadurch wird auch eine Fläche kriminalisiert, die größer als die Afrikas ist und mehr als ein Sechstel der Menschheit beherbergt. Durch militärische Gewalt (Hard Power) allein, dessen sind sich Asmus und Pollack sicher, kann eine Umerziehung zu Freihandel, Demokratie und westlichen Wertvorstellungen nicht gelingen. Ihr muss eine politische Perspektive (Soft Power) zur Seite treten, eine, die die "fortschrittlichen Kräfte" in dieser Region unterstützt, dort Formen der Zivilgesellschaft schafft und diese Staaten nach und nach in offene Gesellschaften verwandelt.

Asmus und Pollack liefern auch gleich einen Masterplan, wie diese "postkoloniale mission civilisatrice" (D. Rorty) gelingen könnte. Ihn sollte sich sowohl die EU als auch die rot-grüne Koalition in Berlin ganz genau anschauen, damit sie wissen, was fortan noch alles auf sie zukommen wird:

  1. Der Wiederaufbau (nation-building) in Afghanistan darf nicht scheitern. Bliebe dort Chaos zurück, dürfte der Wille zu ähnlichen Aktionen in der Region wie im Westen erlahmen.
  2. Der israelisch-palästinensische Konflikt muss gelöst werden. Europa und die USA müssen ihre Differenzen in dieser Frage beilegen.
  3. Saddam muss weg. Die Gründe dafür kann man Pollacks jüngstem Buch entnehmen. Er steht allen Verbesserungen in dieser Region im Weg. Dazu bedarf es einer Invasion Amerikas und Europas. Der Wiederaufbau wird allerdings sehr teuer.
  4. Ein Regimewechsel im Iran muss baldmöglichst her.
  5. Regimewechsel müssen auch in Ägypten und Saudi-Arabien herbeigeführt werden.

Immerhin ist das so ähnlich erfreulich klar und deutlich formuliert wie die Geopolitik Zbig Brzezinskis (Wo ist Europa?). Im Unterschied zu ihren scharfzüngigeren Kollegen sind sich Asmus und Pollack aber bewusst, dass diese neue Mission, die vermutlich das ganze 21. Jahrhundert in Anspruch nehmen wird, auch für das neue Rom zu gewaltig ist, um sie im Alleingang zu stemmen. Dafür braucht es schon eine "große Allianz", die in dieser Frage militärisch, politisch und wirtschaftlich an einem Strang zieht.

Was hier als Neuer Bund zwischen neuer und alter Welt angedacht wird, hat in Wirklichkeit aber nichts mit der Ebenbürtigkeit von Partnern zu tun. Vielmehr handelt es sich um eine dieser typisch paranoiden Bedrohungsanalysen, die vom Feldherrnhügel des Imperium Americanum entworfen werden und dem allgemeinen Sicherheits- und Verfolgungswahn eines Großteils der Amerikaner Rechnung tragen.

Feiglinge, Umfaller, Schaumschläger, Schröder ...

Auf dem Prager Nato-Gipfel hat Bush den Europäern wieder einmal gezeigt, wo der "Bartl den Most" holt. Wortlos und ohne Widerrede haben sie alle Vorhaben der USA akzeptiert und die Bush-Doktrin der vorbeugenden Krisenentsorgung wortlos und ohne Widerrede zu der ihren gemacht.

Auf Geheiß ihres Zuchtmeisters wird eine Nato Response Force aus dem Boden gestampft. Ihr kann sich das neue Rom jetzt von Fall zu Fall bedienen, ganz wie es ihm beliebt. Der eigene Plan, eine sechzigtausend Mann starke EU-Eingreiftruppe aufzustellen, dürfte damit schon wegen der maroden Staatsfinanzen erst einmal auf die lange Bank geschoben werden. Sollte sie kommen, dann wird sie wohl hauptsächlich beim Katastrophenschutz und/oder übewältigung Verwendung finden. Ferner stellte die Nato den USA in Sachen Irak einen Persilschein aus. Vorbehaltlos stellte man sich hinter die UN-Resolution. Schließlich scheint es so, als ob man den Willen der USA, die Türkei in die EU aufzunehmen, wohlwollend prüfen und forcieren wird. Da kann die CSU noch so viele Gegenerklärungen auf Parteitagen abgeben.

Damit sind wir wieder am Anfang. Statt sich ihrer Interessen und politischen Ziele bewusst zu werden und sich gegen den Willen des neuen Leviathan zu behaupten, erwiesen sich die aufmüpfigen Europäer als Papiertiger. Kupchan überschätzt einfach den europäischen Einigungs-, Großmacht- und Selbstbehauptungswillen. Außer zeitweiligen Zwergenaufständen und einer latenten Politik des Ressentiments bleibt, da hat Kagan recht, vom Glanz eines künftigen Byzanz nicht viel übrig. Kommt es hart auf hart, dann nehmen sie sich eher die Vielstimmig- und Unfähigkeit der African Organisation of States zum Vorbild als den amerikanischen Unilateralismus.

Wir haben nicht vor, die Bewegungsfreiheit unserer Freunde einzuschränken.

Gerhard Schröder nach dem Prager Nato-Gipfel

In Prag ist Europa wieder auf seine Normalgröße zurechtgestutzt worden, auf seine Rolle des Außenpostens, Brückenkopfs und Steigbügelhalters des US-Imperiums (Europa - mon amour). Joschka Fischer, den Dick Rorty kürzlich anstelle des Isolationisten Bush zum künftigen "Führer des Westens" auf den Schild hob, hat sich in Prag aber auffällig weggeduckt.

Auch der "charismatische Internationalist", der "eine gewaltige Initiative zur Rettung und Befreiung der armen Länder anführen" soll, um in failed states zwecks Wiederherstellung "irgendeiner Art von Ordnung" das Leben tausender junger Männer und Frauen zu opfern, gab wie in New York ein trauriges Bild ab. "Eine groteske Überschätzung des Politikers Fischer – und ein unfreiwilliger Beweis diagnostischer Schwäche" eines Weltphilosophen, wie der Freitag zu Recht feststellen zu müssen glaubte. Wie man hört, hat es der "Führer" einer künftigen Weltregierung vorgezogen, mit seiner Busenfreundin Madelaine Albright in Prag zum Essen zu gehen und das Nachtleben zu genießen.

In Prag wurde aber auch klar: Uno, Nato und andere Organisationen und Bündnisse werden nur oder erst dann tatsächlich gebraucht, wenn die amerikanische Kriegsmaschine abzieht, der Pulverdampf sich verzogen hat und es darum geht, verbrannte Erde wieder fruchtbar zu machen. So wie es aussieht, wird sich Schröder-Deutschland zwar nicht direkt an Kampfhandlungen beteiligen. Geht es aber darum, den Irak vom Mittelalter in die Moderne zurückzuholen, wird sich die Bundesrepublik wieder nach vorne drängeln (müssen). Dann werden sich Schröder, Fischer & Co wieder aus ihrer Deckung wagen und sich als Friedensapostel profilieren. Vorsorglich schickte man, um sich bei den Bush-Kriegern wieder lieb Kind zu machen, den bekennenden Harley Davidson Fan Struck an den Potomac, der dort auch gleich ratzfatz seinem überraschten Amtskollegen Rumsfeld versprach, in Afghanistan die Führungsrolle der Wiederaufbautruppe zu übernehmen. Wie sich die Rollen doch ähneln. Vor 1989 zückte man noch bloß das Scheckbuch, heute entsendet man Truppen und Personal zum nation-building.

Bald werden die Deutschen wohl nicht nur auf dem Balkan, am Persischen Golf, am Horn von Afrika und in Zentralasien für die Weltmacht patrouillieren und Wache halten, sondern auch irgendwo zwischen Euphrat und Tigris. "Von Bagdad nach Stambul" wäre dann tatsächlich nicht mehr eine Fiktion Karl Mays, sondern Realität. Vielleicht gelingt es ja der Bundeswehr dann, wie weiland Kara Ben Nemsi, den "Schut" Osama bin Laden für die Amis zu fangen.