Das vermeintliche Ende des Internetbooms
10 Gründe, um am Ende des schlimmsten Internetjahres zufrieden zu sein
Wahrscheinlich blicken viele von Ihnen auf 2000 als auf ein schlechtes Jahr für das Internet zurück. Die meisten Technologiewerte sind zusammen mit dem NASDAQ gefallen - von über 5000 auf jetzt unter 2500. Auch wenn es einmal den Eindruck gegeben hat, dass das Word Wide Web alles besitzen würde und nur die dot.com-Namen ausgingen, surfen wir heute durch eine wahrhaftige Geisterstadt von "server unknown"-Mitteilungen, wo es früher E-Commerce-Händler gegeben hatte.
Erst vor ein einigen Monaten noch war die Kenntnis, wie man mit einem Macintosh umgeht, mehr als ausreichend, um jedem über 18-Jährigen einen gut bezahlten Job (mit Optionen) in Silicon Alley zum Schreiben von HTML-Code zu verschaffen. Heute sind die Optionen nichts mehr wert und die Jobs gibt es nicht mehr.
Wie also könnte das folgende optimistische Feiern der Gesundheit des Internet angesichts dieses Scheiterns etwas anderes als eine zynische Schadenfreude sein? Deswegen, liebe Leserin und lieber Leser, und das kommt vom tiefsten Grund meiner feiernden Seele, weil es jetzt wieder glückliche Tage gibt.
Ich zähle jetzt meine persönliche Liste der Gründe auf, warum man die anscheinend verheerenden Ereignisse feiern kann, die das in Wirklichkeit letzte Jahr des 20. Jahrhunderts charakterisiert haben. Mögen sie Ihnen soviel Freude bereiten wie mir.
1. Die Dot-com-Millionäre antworten wieder auf unsere Anrufe
Ich habe mit Verwunderung (und vielleicht mit leichtem Neid) bemerkt, wie viele meiner Freunde während der letzten drei Jahre mehr Geld (auf dem Papier) verdient haben, als sie dies sonst während ihres ganzen Lebens getan hätten. Aber mit diesen explodierenden Gehaltsaufwertungen von jungen CEOs gingen Verantwortlichkeiten und Sorgen einher, die es wesentlich weniger vergnüglich machten, mit ihnen zusammen zu sein, wenn sie überhaupt die Zeit hatten, nicht nur bei Geschäftsparties andere Leute zu treffen. Das aus all dem entstehende neurotische Verhalten wurde sogar in den Psychologiezeitschriften unter verschiedenen Bezeichnungen wie "Neu erworbener Reichtum" aufgeführt. Jetzt haben dieselben jungen leitenden Angestellten nicht nur dünnere Brieftaschen, sondern sie sind auch leichteren Herzens. Sie mögen ärmer sein, aber sie sind glücklicher - und es macht wieder mehr Vergnügen, mit ihnen zusammen zu sein.
2. Ponzie hat die Stadt verlassen
Die einzige Internetinvestitions-Geschichte, die mehr Aufsehen erregte als die Hausse in den späten 90er Jahren, war das Platzen der Internetblase im Jahr 2000. Jeder hatte, manchmal schmerzvoll, gelernt, dass die Verbindung eines Unternehmens mit dem Internet nicht unendlich große Gewinnerwartungen rechtfertigen kann. Nur weil ein Netzwerk theoretisch sich unbegrenzt erweitern kann, heißt das noch nicht, dass auch jeder Knoten in ihm immerzu wachsen kann. Und überhaupt: das Internet ist eine Kommunikationsinfrastruktur und kein geheimnisvolles Treibmittel, um Schneeballsysteme aufzubauen, die nicht rationaler sind, als sie dies jemals waren.
3. Talent siegt
Denken Sie an die Zeit zurück, als Programme wie Photoshop, Director oder Dreamwaver zuerst auf den Markt kamen. Viele hatten Angst, dass wirkliche Künstler ihr Können nicht mehr von dem der vielen untalentierten Menschen abheben können werden, die jetzt in ein paar Minuten ein richtiges Bild oder eine Website fabrizieren konnten. Dasselbe traf für die Menschen zu, die alles Mögliche von Geschäftsplänen bis hin zu E-Commerce-Maschinen schufen. Aber nachdem wir uns jetzt an die glatten "professionellen" Produkte eines jeden durchschnittlichen Computers gewöhnt haben, ist unsere Aufmerksamkeit auf die Inhalte in ihnen zurück gekehrt. Und wer ein wirkliches Talent besitzt, steigt jetzt wieder zur Oberfläche auf.
4. Die Wiederkehr des Amateurs
Auf der anderen Seite richtet sich die Aufmerksamkeit, nachdem das Internet sowohl seine professionelle "Online-Magazin"-Phase als auch seinen E-Commerce-Boom durchlaufen hat, wieder auf die Herstellung wirklicher Werkzeuge, die wirkliche Menschen zum Miteinanderkommunizieren brauchen können. Apples bislang nicht gewürdigter neuer Trend richtet sich auf eine benutzerfreundliche Videoproduktion. Die vielversprechendsten neuen Web-Unternehmen werden durch Sites wie www.blogger.com veranschaulicht, wo die Nutzer ihre eigenen Zeitungen selbst veröffentlichen können und die Möglichkeit haben, ihre Sites für die öffentliche Diskussion zu öffnen. Der Weihnachtstrend in diesem Jahr richtete sich auf digitale Kameras und Tonaufnahmegeräte, die es den Menschen ermöglichen, wieder ihre eigenen Medieninhalte zu machen. DIY (Do it yourselve) ist wieder da, und es sieht so aus, als würde dies zur beständigsten Grundlage der Internetunternehmen werden.
5. Die Wiederkehr des Internet der Menschen
Eine wachsende Konzentration auf Inhalte, die von den Nutzern geschaffen werden, hat den dezentralisierten, von unten nach oben ausgerichteten Ethos des Internet wieder mit sich gebracht. Wir nähern uns schnell einer Zeit, in der die Menschen weniger über das aufgeregt sein werden, was sie online "gefunden" haben, als über das, was sie selbst ins Internet gestellt haben. Das wird wiederum das Gefühl der wirklichen Menschen stärken, den interaktiven Raum zu besitzen.
6. Wohnkosten
Die gefährlich boomenden Immobilienmärkte an Orten wie New York oder San Francisco gehen endlich wieder mit den Preisen herunter. Während die dot.coms weiter Angestellte entlassen und kleine Gewinnspannen die Hochflieger wieder auf den Boden zurückholen, können jetzt die Menschen, die (wie ich im letzten Jahr) wegen der hohen Preise umziehen mussten, einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen.
7. Gute Investitionen
Es hat vielleicht niemals eine bessere Zeit für kluge Investoren gegeben, um Käufe von Technologiewerten zu betätigen. Panikverkäufe haben vielen guten Unternehmen ihre wirklichen Bewertungen gekostet und viele neue Unternehmen daran gehindert, das von ihnen benötigte Kapital zu finden. Jetzt gibt es wieder einen Markt für Käufer.
8. Der Technofetischismus nimmt ab
Er wird ersetzt durch einen eigenständigen Trend zu Face-to-Face-Begegnungen. Keinen Palm oder kein Handy mit sich herum zu tragen, ist zu einem Statussymbol geworden, da die Menschen ihre Freiheit von der digitalen Sklaverei demonstrieren wollen. Als Folge werden die sozialen Kontakte weniger oft gestört, und jeder verdaut besser und hat angenehmere Liebesaffären.
9. Die Technik wird billiger
Um neue Märkte bei den Privatkunden zu erschließen, werden Computerhersteller und Serviceprovider wahrscheinlich noch billigere Alternativen zu den aufgeblähten Wintel-Maschinen der 90er Jahre entwickeln. Man denke an Spielekonsolen, Set-top-Boxen, erweiterte Palm-Geräte, Internetanwendungen und internetfähige Handys.
10. Einen saubereren Vogelkäfig
Man muss den Wirtschaftsteil der Zeitung nicht mehr lesen.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Florian Rötzer
Copyright by Douglas Rushkoff
Distributed by New York Times Special Features