Das virtuelle Kraftwerk

Eine Lösung für künftige und - angesichts der wiederholten Stromausfälle der letzten Monate - heutige Energieprobleme: intelligentes, dezentrales Energiemanagement

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Stromausfälle in Nordamerika und Europa: Wenn die Verbraucher nur wüssten, dass der Strom knapp wird, würden sie lieber unnötige Geräte ausschalten, bevor der Strom gänzlich ausfällt. Wenn sie dazu Signale bekommen könnten, könnte man dieses System auch dazu nutzen, den Strombedarf bei Spitzenlasten - etwa gegen Mittag - auf sogenannte Schwachlastzeiten - z.B. nachts - zu verschieben. Die Grundlast würde steigen, die Spitzlasten - und die Strompreise - fallen. Allein durch die Vernetzung von Stromverbrauchern und -erzeugern müssten keine neuen Kapazitäten gebaut werden. Ein virtuelles Kraftwerk würde ein reelles ersetzen.

Ein Argument gegen Wind- und Sonnenenergie liegt darin begründet, dass diese Energien nicht dann zur Verfügung stehen, wenn man sie braucht, sondern eben nur, wenn die Sonne scheint oder der Wind weht. Wenn man liest, dass der Fotovoltaikmarkt 2002 um 50% gewachsen ist, könnte man meinen, das Problem sei groß. Doch heute decken Fotovoltaik, Wind und Biomasse zusammen lediglich rund 4,5% des Strombedarfs in Deutschland, so dass das Problem bundesweit keineswegs akut ist. Anders sieht es jedoch bereits in Dänemark und Teilen Norddeutschlands aus, wo die Windenergie jetzt schon ein Fünftel des Stromangebots ausmacht.

Was aber wäre, wenn erneuerbare Energien (wie Umweltminister Jürgen Trittin fordert) im Jahre 2020 20% des deutschen Strombedarfs decken sollen? Oder gar 50% bis 2050? Angeblich müsse man dann die Kapazitäten der Atom- und Kohlekraftwerke trotz des Ausbaus an Wind- und Sonnenenergie steigern, um den Bedarf bei Windstille und grauem Himmel zu decken. Erwin Teufel, Ministerpräsident von Baden-Württemberg und Gegner der gegenwärtigen Förderung der Windenergie, formuliert das Problem klipp und klar:

Zur Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit [wird] eine so genannte Regelreserve benötigt. Dies bedeutet in der Praxis aber nichts anderes als herkömmliche Kraftwerke, die bei Windmangel den benötigten Strom produzieren. Diese Reserve muss, vor allem wenn die im Raum stehenden Ausbaupläne im Bereich der Windenergienutzung realisiert werden sollten, zunehmend durch im Mittellastbereich arbeitende Kraftwerke oder gar Grundlastkraftwerke übernommen werden. Nur so können Netzüberlastungen oder -zusammenbrüche vermieden werden. Diese Kraftwerke müssten jedoch sehr häufig "angedrosselt", das heißt: mit reduzierter Leistung, laufen. Das bedeutet aber wiederum, dass sie nicht den optimalen Wirkungsgraderreichen.

Erfordern ausgerechnet erneuerbare Energien mehr konventionelle Kraftwerke? Andererseits sind erneuerbare Energien keineswegs schuld an den Stromausfällen der letzten Monate in Nordamerika und Europa. Unsere zentral ausgelegten, hauptsächlich auf Atomstrom, fossilen Energieträgern, und Großwasserkraftwerken basierenden Stromnetze sind jetzt schon anfällig.

Veränderter Strompreis im Minutentakt

Stellen Sie sich vor, Ihr Kühlschrank hat ein kleines Display und ist mit dem Internet verbunden. Doch Sie können damit nicht etwa eine Flasche Milch nachbestellen. Nein, in der nahen Zukunft sollen Sie ja sportlich genug bleiben, um selbst einkaufen zu gehen. Bei diesem Kühlschrank handelt es sich um eine Maßnahme zur Reduzierung von Lastspitzen.

Das Display zeigt an, wie viel Strom gerade im öffentlichen Netz vorhanden ist bzw. wie stark die Kapazitäten der Großkraftwerke ausgelastet sind oder ob gerade mehr Strom von Wind- und Sonnekraftwerken momentan erzeugt als verbraucht wird. Das klingt alles sehr kompliziert, ließe sich aber in einem Display in der Größe einer Armbanduhr unterbringen, das den aktuellen Preis pro Kilowattstunden in Cent anzeigt. Wenn genügend Strom im Netz bzw. Kapazitäten auf der Erzeugerseite vorhanden sind, sinkt der Preis; wenn der Strom knapp wird, stiegt er. Im Minutentakt.

Sie können ihren Kühlschrank so einstellen, dass er bei einem bestimmten Preis automatisch abschaltet, sofern gewisse Temperaturen nicht überschritten werden. Dafür legt er gnadenlos zu, wenn der Strom billig ist. Das Gleiche gilt für Ihre Waschmaschine und andere Haushaltsgeräte.

Ein Spotmarkt für alle

"Alles Zukunftsmusik, dass es quasi so zugeht, wie auf dem Aktienmarkt", meint Dr. Sanjev Jagtiani, Ingenieur bei Santiani Engineering & Consulting. Im Moment werden Strompreise in Tagesabständen verhandelt, doch das Ganze werde dynamischer werden, eventuell im Stundentakt, da Großkraftwerke nicht in wenigen Minuten hoch und heruntergefahren werden können. Dass Einwegsignale im Minutentakt an die Haushalte geschickt werden können, damit Kühlschranke und Waschmaschinen nur dann einschalten, wenn überschüssiger, billiger Strom vorhanden ist, ist heute schon technisch machbar, aber das Projekt bedarf der Zusammenarbeit zwischen Geräteherstellern, Stromanbietern und privaten Haushalten. Jagtiani erklärt dazu:

Es ist bisher noch keiner auf die Idee gekommen, und es lohnt sich momentan noch nicht, weil eben die Preise für den ganzen Tag festegelegt und für den Endverbraucher zeitlich nicht variabel sind. Ich warte eigentlich auch nur drauf, dass ein gewiefter Stromanbieter kommt und sagt: Passt mal auf, liebe Privathaushalte, ich rechne Euch den Strom jetzt nach der Uhrzeit ab. So könnte man versuchen, Überkapazitäten und Lastspitzen abzubauen.

In der Tat ist die Technik dafür schon da, wird aber nur für eher spielerische Zwecke verwendet. Das Ambient Orb aus den USA beispielweise ist ein Ei, das Signale empfängt und seine Farbe entsprechend dem Inhalt der Signale ändert. Ab Werk ist das Orb auf aktuelle Dow-Jones-Zahlen programmiert, aber es kann genauso anzeigen, ob die Temperatur in New York City steigt oder sinkt. Variierende Strompreise im Minutentakt sollten auch so machbar sein.

Eine vergleichbare Technik ist das "Autonomous Local Area Distributed Network" (Aladn). Doch Aladn wird in den USA nicht etwa als Energiesparmaßnahme verstanden, obwohl es die Funktion durchaus übernehmen könnte, sondern zum Energieverschwenden: "Ein Hausbesitzer braucht nur sein Passwort einzugeben, um die Heizung in seiner eingeschneiten Wintervilla anzuschalten, bevor er von zu Hause losfährt", lautet eine Anwendung bei Home Toys.

Auch Gerätehersteller könnten entsprechend ausgerüstete Kühlschränke und Waschmaschinen jetzt schon liefern. Zu den 77 Mitgliedern der 1999 ins Leben gerufenen Open Service Gateway Initiative zählen Firmen wie Ericsson, IBM, Philips, Sun und Whirlpool. Die Initiative verwendet vorhandene Service-Gateway-Technologien, um intelligente Endgeräte zu vernetzen. Diese Geräte könnten sich automatisch nach Kilowatt-Preis ein- und abschalten, wenn es solche Signale nur gäbe... Gäbe es schon: Das Stichwort lautet Europäische Funk-Rundsteuerung (EFR). Mit dieser Technik senden Energieversorger per ISDN Befehle an die EFR-Zentrale, welche die Befehle nach Dringlichkeit sortiert und an die zwei EFR-Sender weiterleitet: einen zwischen Berlin und Magdeburg und einen bei Frankfurt/Main, die zusammen das ganze Bundesgebiet und Teile des Auslands decken. Städte wie Dresden und Berlin schalten jetzt schon ihre Straßenbeleuchtung damit ein und aus. Mit dieser Technik werden in Augsburg am Ort des wöchentlichen Skatertreffens die Straßenlaternen gezielt per Laptop hell gemacht - mehr als ein herkömmlicher Rechner ist für die Kontrolle nicht erforderlich. Per EFR werden in Sindelfingen Heizungen kontrolliert ein- und ausgeschaltet, um Spitzenlasten z.B. Morgens zu glätten, wenn alle aufstehen und die Heizung aufdrehen wollen. Und wie der Name schon sagt, soll das System europaweit eingeführt werden.

Empowerment

Sie sind, liebe Telepolis-Leser, in diesem Szenario jedoch nicht nur Stromabnehmer, sondern auch selbst Kleinkraftwerkbetreiber, denn Sie besitzen nicht nur eine Fotovoltaikanlage auf dem Dach (eine 4-kW-Anlage aus schönen Solardachziegeln, nachdem der Nachbar mit seiner 3,8-kW-Anlage sich als der Größte in der Nachbarschaft wähnte) und Anteile an einem lokalen Windpark, sondern auch eine Brennstoffzelle im Auto. Und Ihre Heizung - falls Sie noch kein Passivhaus (Das 1,1-Liter-Haus) bezogen haben und deshalb immer noch eine solche vorsintflutliche Technik brauchen - ist natürlich ein kleines Blockheizkraftwerk im Keller, das eigentlich Strom produziert und nur nebenbei genug Wärme für die Heizung.

Und das bedeutet, dass Sie nicht nur Stromverbraucher abschalten, sondern auch selbst mehr Strom erzeugen und ins Netz speisen können, wenn der Preis steigt. Da 70 Millionen Deutsche (nicht mehr 80, denn die Deutschen sterben bekanntlich aus) dasselbe tun, sind Preisschwankungen gar nicht so groß. Ihr Kühlschrank läuft also trotzdem regelmäßig.

So zumindest die Theorie. Aber die Erfahrung zeigt, dass die Industrie die Kontrolle ungern aus der Hand gibt. Just im Juni 2003 wurde die Klage der Netzbetreiber, die den von dezentralen Windkraftanlagen erzeugten Strom abnehmen müssen und dies für unzulässig erklärt haben wollten, vom Verfassungsgericht abgewiesen. Selbst die Geräte der Open Service Gateway Initiative müssten nicht zu einem "empowerment" der Verbraucher führen, wie ein Forscher 2001 klarmachte:

Folgt man diesen Visionen, so könnte das etwa eine Waschmaschine sein, die der Benutzer künftig bei seinem Energieerzeuger least oder mietet. Dank Vernetzung können die Geräte dann pro Waschgang tarifiert werden. Warum solche Geräte nicht einfach verkauft werden sollen, bleibt das Geheimnis des Forschers. Aber falls Sie die Vorstellung eines Spotmarkts, in dem private Endverbraucher und große Energieversorger als Gleichgestellte auftreten, für ein Hirngespinst eines Telepolis-Autors halten, sollten Sie zuerst schauen, was Siemens dazu zu sagen hat. Dagegen schneiden wir bescheiden ab.

Erste Erfolgsmeldungen auf der Angebotseite

Während auf der Stromnachfrageseite noch einiges getan werden muss, passiert bereits auf der Erzeugerseite viel. In der Stadt Werl in Nordrhein-Westfalen wird im Projekt Konwerl 2010 ein Verbundnetz aus Minikraftwerken seit einem Jahr mit der Technik von Siemens erprobt, und in Friesoythe (Niedersachen) wird auch getestet, wie sich Lastspitzen durch intelligente Steuerung vermeiden lassen. Das Siemens-System erlaubt den Austausch von Daten im Minutentakt via Standleitungen oder ISDN-Verbindungen, aber Einweg-Funkverbindungen wären auch denkbar. Die Einsatzplanung erfolgt auf der Basis von Wetterprognosen und Stromverbrauchsmustern im Viertelstundentakt.

Dies sind Beispiele für ein Dezentrales Energiemanagementsystem (DEMS). In solchen Systemen werden unterschiedliche Großkraftwerke - eine Gas-und-Dampf-Turbine, ein Kohlkraftwerk, eine Müllverbrennungsanlage, usw. - ferngesteuert, um die maximale Effizienz zu gewährleisten, und mit sogenannten dezentralen Mikrokraftwerken - also PV auf Hausdächern, Mini-Blockheizkraftwerken in Kellern, usw. - kombiniert.

Schließlich läuft seit September 2002 ein größeres Projekt unter dem Namen EDIson (Energieverteilungsnetze mit dezentralen, innovativen Energiewandler-, Speicher- und Kommunikationssystemen). Eine Besonderheit des Projekts: Es werden Brennstoffzellen anstelle von Blockheizkraftwerke verwendet, d.h. die Brennstoffzellen produzieren Strom und Wärme. Brennstoffzellen sind besonders vielversprechend, weil sie Strom speichern können - zugegebenermaßen mit Energienverlusten bei der Konvertierung, aber immerhin.

Auch auf der Hannover Messe 2003 wurden sieben Brennstoffzellen europaweit vernetzt. Ein vergleichbares Projekt ist Dispower, eine Zusammenarbeit zwischen dem Institut für Solare Energieversorgungstechnik und dem Fraunhofer Institut für Solare Energie Systeme.

Im nächsten Beitrag zu diesem Thema spricht Telepolis mit dem Vize-Koordinator von Dispower, der unter anderem die Frage beantwortet, ob es zu gewaltigen Rückkopplungen in Virtuellen Kraftwerken kommen kann.

Craig Morris übersetzt im Bereich Energie und Technik bei Petite Planète