Dauerkrise als Mittel der Transformation: Agambens gefährliche Gedanken

Seite 2: Die Krise als Herrschaftsinstrument

"Souverän ist", darin folgt Agamben in Homo Sacer II (2004) der Definition des Staatsrechtlers und Nazi-Sympathisanten Carl Schmitt, "wer über den Ausnahmezustand herrscht".

Mit einem wesentlichen Unterschied, wie Politikwissenschaftler Schönherr-Mann gegenüber Telepolis präzisiert:

Während Schmitt glaubt, der Ausnahmezustand sei an den Rechtszustand rückgekoppelt, ist für Agamben der Ausnahmezustand strukturell unabhängig vom Rechtszustand.

Hier folgt er [seiner größten Inspiration, dem Philosophen] Walter Benjamin: Jede politische Macht beruht auf rechtlich nicht regelbarer Gewalt, nicht nur in Krisenzeiten, nicht nur im Totalitarismus, der dazu aber den Weg bereitet.

Hans-Martin Schönherr-Mann

In Krisenzeiten fällt das Rechtsgebäude sozusagen auf sein Fundament zurück: die reine Gewalt, Macht. Der Ausnahmezustand, schreibt Agamben, liege damit an der gefährlichen "Schwelle der Unbestimmtheit zwischen Demokratie und Absolutismus". Die Naziherrschaft seit der Reichstagsbrandverordnung sei schließlich ein einziger, 12-jähriger Ausnahmezustand gewesen:

In diesem Sinne lässt sich der moderne Totalitarismus als die Etablierung eines legalen Bürgerkriegs mittels des Ausnahmezustands definieren, der die physische Eliminierung nicht nur der politischen Gegner, sondern ganzer Kategorien von Bürgern ermöglicht, die aus irgendeinem Grund nicht in das politische System integriert werden können.

Giorgio Agamben: Homo Sacer II – Ausnahmezustand

Im modernen Staat, sagt Agamben, wird der Ausnahmezustand von der provisorischen Maßnahme zum permanenten Regierungsparadigma. 2013 führt er in einem Interview mit der FAZ aus:

Heute ist die Krise zum Herrschaftsinstrument geworden. Sie dient dazu, politische und ökonomische Entscheidungen zu legitimieren, die faktisch die Bürger enteignen und ihnen jede Entscheidungsmöglichkeit nehmen. […] Die europäischen Bürger müssen sich klarmachen, dass diese unendliche Krise – genau wie der Ausnahmezustand – mit der Demokratie inkompatibel ist. Giorgio Agamben

Die Sicherheitslogik und der Schutz des "nackten Lebens" werden zum neuen Glaubensbekenntnis. Eines, welches sich laut Agamben im US-amerikanischen "security state" und seinem "war on terror" widerspiegelt, und das dem autoritären Staat mit verfassungsrechtlich bedenklichen Ausnahmeregelungen wie dem berüchtigten Patriot Act einen fruchtbaren Boden bereitet. 2014 schreibt Agamben in der Monatszeitung Le Monde diplomatique:

Im Sicherheitsparadigma bietet jeder Konflikt, jeder mehr oder weniger gewaltsame Versuch, die Macht zu stürzen, dem Staat Gelegenheit, die Folgen in Bahnen zu lenken, die seinen Interessen dienlich sind.

Giorgio Agamben

Einleuchtend und vielleicht müßig zu erwähnen, dass entsprechendes Interesse besteht, einen solchen gewaltsamen Versuch (medial) zu inszenieren – zumal, wenn er als symbolische Bedrohung dargestellt werden kann.

Erlaubte NS-Vergleiche

Für seine Ansichten wurde Agamben wahrlich gefeiert, eignete sich die Theorie um den Homo Sacer doch nicht nur als Erklärung für die früher einmal opportune Kritik am US-amerikanischen Gefangenenlager Guantánamo, sondern etwa auch im Zuge der Flüchtlingskrise und der Schicksale vertriebener Menschen.

Vergleiche mit dem Dritten Reich, wie sie zu Agambens Jugend beim Protest gegen die Bonner Notstandsgesetze bis in die Kreise eines Jürgen Habermas hinein gezogen wurden, waren auch dem italienischen "Meisterdenker" erlaubt: Die Logik (!) von Auschwitz (ein wesentlicher Unterschied zur Gleichsetzung der historischen Ereignisse) sah Agamben in Guantánamo ebenso am Werk wie bei Flüchtlingsbewegungen. Gecancelt wurde er deshalb nicht, vielmehr: gefeiert.

Und dann kam Corona.

Aber wie hat sich Giorgio Agamben eigentlich geäußert, dass sich Kollegen und langjährige Kooperationspartner so entschieden von ihm distanzierten? Und wer hat eigentlich seine Prinzipien verraten – Agamben oder sie? Mehr dazu in Teil 2.