Dauerkrise als Mittel der Transformation: Agambens gefährliche Gedanken
Der italienische Intellektuelle wurde in der Corona-Krise gecancelt – doch seine Zeitdiagnose um Biopolitik und Ausnahmezustand ist noch immer alarmierend (Teil 1).
Die Corona-Pandemie ist vorbei, spricht Christian Drosten. Meint er aber gar nicht, weiß Karl Lauterbach (SPD). Endemische Phase und Bevölkerungsimmunität ja – aber nein: Deshalb muss man ja nicht gleich die Maßnahmen abschaffen.
Deren Befürwortern ist ein Licht aufgegangen: Auch bekannte Erreger wie die Grippe können tödlich sein und Krankenhäuser überlasten. Eigentlich ist das mindestens seit 2018 bekannt. Nur wollen einige 2022 den "Werkzeugkasten" des Ausnahmezustands deshalb nicht mehr in die Abstellkammer verbannen – da können die Experten noch so sehr toben, das sei verfassungswidrig.
Gänzlich unbehelligt davon werden in der Meinungsspalte der Süddeutschen (nach "Mehr Diktatur wagen") erneut delegitimierungsverdächtige Ansichten verbreitet: Man könnte den Maßnahmen ja einfach andere Namen geben, "Corona taugt dazu momentan nur noch bedingt". Ähnliche Ansichten findet man auch in der Frankfurter Allgemeinen (FAZ). Die Skeptiker unter uns dürfte das kaum wundern.
Schließlich hatte Lauterbach doch schon im März 2021 angekündigt, dass wir "in eine Phase hinein" kommen, in der "der Ausnahmezustand die Normalität sein wird" – eine Aussage, die auch der bemühteste Faktencheck nicht mehr zurechtbiegen konnte. Wer den Kontext nicht kennt: Es ging um den Klimawandel.
Mit seiner Prognose dürfte Lauterbach ausnahmsweise einmal Recht behalten: Für die Zeit nach Corona und Ukraine, in der das Klima wieder die Hauptrolle spielen wird, kann man sich entgegen der Prognosen warm anziehen, denn dann werden womöglich weitere Grenzüberschreitungen im Notstand zum Normalfall: Nicht nur Kontaktverbote, digitale Zugangskontrollen oder genbasierte Immuntherapien – von geldpolitischen Notfallprogrammen ganz zu schweigen.
Und, nicht vergessen: Im Unterschied zur neuartigen Erregerbekämpfung hat das Bundesverfassungsgericht künftigen "gravierenden Freiheitseinbußen zum Schutz des Klimas" bereits seinen Segen erteilt.
Ob "Zeitenwende" oder "neue Normalität": Wer will noch bestreiten, dass wir in einer Epoche leben, in welcher der Ausnahmezustand zum Instrument politischer Grenzüberschreitungen oder gar permanent geworden ist? Sondervermögen, Fracking-Gas, Schuldenunion – das alles erschiene ohne ihn undenkbar.
Genau diesem Prinzip hat sich auch der Philosoph Giorgio Agamben gewidmet. Dafür wurde er gefeiert, "gerade in linken Kreisen", schrieb die Zeit im Februar – bis zur Corona-Krise.
Gesunde, zugerichtete Untertanen
Wer beim Namen Agamben Nachholbedarf verspürt: Der 80-jährige Italiener gilt als einer der einflussreichsten Intellektuellen unserer Zeit. Sein Hauptwerk von 1995, Homo Sacer – Die souveräne Macht und das nackte Leben, das mittlerweile acht Fortsetzungen (in vier Kapiteln) zählt, gehört unzweifelhaft zum Kanon der politischen Theorie. Wer Agambens Schicksal in der Corona-Krise nachvollziehen will, sollte seine Theorie kennen – zumindest in groben Zügen.
Kurz gesagt: Agamben ergründet das Wesen der Politik – mit dem Ziel, nicht nur den Werdegang des totalitären Staats in Gestalt von Nationalsozialismus und Faschismus nachzuzeichnen, sondern daran anschließend auch den der modernen Demokratie.
Politik versteht er als eine Ordnung der (sozialen) Welt unter Gesichtspunkten von Macht. Beherrscht wird diese Ordnung vom Souverän – in Monarchien: vom Adel, in Demokratien: von Regierungen und Parlamenten. Ihre (sprachliche) Ausdrucksform findet sie, sagt der studierte Jurist Agamben, im Recht.
Nun verhält es sich mit dieser rechtlichen "Sprache des Staates" ähnlich wie mit der menschlichen Sprache, sagt Agamben – die rechtlichen Begriffe ordnen die Wirklichkeit nicht nur, sie formen sie, erzeugen sie – und "normalisieren" sie:
Das Recht besitzt normativen Charakter […], insofern es vor allem den Bereich der eigenen Referenz im wirklichen Leben schaffen und diese Referenz normalisieren muss.
Giorgio Agamben: Homo Sacer I – Die souveräne Macht und das nackte Leben
Die Rechtsordnung konstituiert sich nicht nur über diese Angleichung im Innern, sondern auch durch eine Abgrenzung von außen. Um das zu verdeutlichen, bedient sich Agamben der Figur des Homo Sacer (sacer trägt im Lateinischen die Doppelbedeutung "heilig" und "verflucht/verstoßen").
Dieser Rechtsstatus wurde im alten Rom Eidesbrechern verliehen: Sie durften getötet, aber nicht geopfert werden, waren also sowohl aus dem göttlichen wie auch aus dem weltlichen Recht verbannt. Der Homo Sacer (gleichwohl: als Staatsfeind) ist für Agamben das Spiegelbild der Macht des Souveräns, über die Rechtssubjekte zu verfügen und – in letzter Konsequenz – (politisch) wertes von unwertem Leben zu scheiden.
Eine zentrale Rolle in der Philosophie Giorgio Agambens spielt der Begriff des "nackten Lebens". Hans-Martin Schönherr-Mann, Professor für politische Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, erklärt ihn im Gespräch mit Telepolis folgendermaßen:
In der Antike war das nackte Leben aus der Politik ausgeschlossen, in der Moderne avanciert es zur Orientierung der Politik, die jegliche Anwendung von Gewalt rechtfertigt und sich dabei auf die Humanwissenschaften, Medizin und Biologie stützt.
Seit der frühen Neuzeit züchtet und lenkt der Staat die Menschen körperlich so, dass sich die staatliche Macht erweitert. So wird das nackte Leben zentrales Objekt der Politik und nicht mehr der Staatsbürger mit politischen Rechten.
Hans-Martin Schönherr Mann
Das Normalisierungsbestreben richtet sich fortan also nicht mehr nur auf den Rechtsbegriff, sondern auf den menschlichen Körper. Der Staat will "gesunde, gelehrige und zugerichtete Untertanen", sagt Agamben.
Er folgt dem französischen Philosophen Michel Foucault in der Ansicht, dass diese "Biopolitik" das Zeitalter des modernen Staats einläutet: Das Zeitalter des Sozialdarwinismus, der Eugenik, der Bevölkerungskontrolle, der Bewegungsdaten. Das der Nazis und Faschisten.
Die Krise als Herrschaftsinstrument
"Souverän ist", darin folgt Agamben in Homo Sacer II (2004) der Definition des Staatsrechtlers und Nazi-Sympathisanten Carl Schmitt, "wer über den Ausnahmezustand herrscht".
Mit einem wesentlichen Unterschied, wie Politikwissenschaftler Schönherr-Mann gegenüber Telepolis präzisiert:
Während Schmitt glaubt, der Ausnahmezustand sei an den Rechtszustand rückgekoppelt, ist für Agamben der Ausnahmezustand strukturell unabhängig vom Rechtszustand.
Hier folgt er [seiner größten Inspiration, dem Philosophen] Walter Benjamin: Jede politische Macht beruht auf rechtlich nicht regelbarer Gewalt, nicht nur in Krisenzeiten, nicht nur im Totalitarismus, der dazu aber den Weg bereitet.
Hans-Martin Schönherr-Mann
In Krisenzeiten fällt das Rechtsgebäude sozusagen auf sein Fundament zurück: die reine Gewalt, Macht. Der Ausnahmezustand, schreibt Agamben, liege damit an der gefährlichen "Schwelle der Unbestimmtheit zwischen Demokratie und Absolutismus". Die Naziherrschaft seit der Reichstagsbrandverordnung sei schließlich ein einziger, 12-jähriger Ausnahmezustand gewesen:
In diesem Sinne lässt sich der moderne Totalitarismus als die Etablierung eines legalen Bürgerkriegs mittels des Ausnahmezustands definieren, der die physische Eliminierung nicht nur der politischen Gegner, sondern ganzer Kategorien von Bürgern ermöglicht, die aus irgendeinem Grund nicht in das politische System integriert werden können.
Giorgio Agamben: Homo Sacer II – Ausnahmezustand
Im modernen Staat, sagt Agamben, wird der Ausnahmezustand von der provisorischen Maßnahme zum permanenten Regierungsparadigma. 2013 führt er in einem Interview mit der FAZ aus:
Heute ist die Krise zum Herrschaftsinstrument geworden. Sie dient dazu, politische und ökonomische Entscheidungen zu legitimieren, die faktisch die Bürger enteignen und ihnen jede Entscheidungsmöglichkeit nehmen. […] Die europäischen Bürger müssen sich klarmachen, dass diese unendliche Krise – genau wie der Ausnahmezustand – mit der Demokratie inkompatibel ist. Giorgio Agamben
Die Sicherheitslogik und der Schutz des "nackten Lebens" werden zum neuen Glaubensbekenntnis. Eines, welches sich laut Agamben im US-amerikanischen "security state" und seinem "war on terror" widerspiegelt, und das dem autoritären Staat mit verfassungsrechtlich bedenklichen Ausnahmeregelungen wie dem berüchtigten Patriot Act einen fruchtbaren Boden bereitet. 2014 schreibt Agamben in der Monatszeitung Le Monde diplomatique:
Im Sicherheitsparadigma bietet jeder Konflikt, jeder mehr oder weniger gewaltsame Versuch, die Macht zu stürzen, dem Staat Gelegenheit, die Folgen in Bahnen zu lenken, die seinen Interessen dienlich sind.
Giorgio Agamben
Einleuchtend und vielleicht müßig zu erwähnen, dass entsprechendes Interesse besteht, einen solchen gewaltsamen Versuch (medial) zu inszenieren – zumal, wenn er als symbolische Bedrohung dargestellt werden kann.
Erlaubte NS-Vergleiche
Für seine Ansichten wurde Agamben wahrlich gefeiert, eignete sich die Theorie um den Homo Sacer doch nicht nur als Erklärung für die früher einmal opportune Kritik am US-amerikanischen Gefangenenlager Guantánamo, sondern etwa auch im Zuge der Flüchtlingskrise und der Schicksale vertriebener Menschen.
Vergleiche mit dem Dritten Reich, wie sie zu Agambens Jugend beim Protest gegen die Bonner Notstandsgesetze bis in die Kreise eines Jürgen Habermas hinein gezogen wurden, waren auch dem italienischen "Meisterdenker" erlaubt: Die Logik (!) von Auschwitz (ein wesentlicher Unterschied zur Gleichsetzung der historischen Ereignisse) sah Agamben in Guantánamo ebenso am Werk wie bei Flüchtlingsbewegungen. Gecancelt wurde er deshalb nicht, vielmehr: gefeiert.
Und dann kam Corona.
Aber wie hat sich Giorgio Agamben eigentlich geäußert, dass sich Kollegen und langjährige Kooperationspartner so entschieden von ihm distanzierten? Und wer hat eigentlich seine Prinzipien verraten – Agamben oder sie? Mehr dazu in Teil 2.