Dem intellektuellen Zentrum Russlands droht der Garaus
Die geplante Reform der Russischen Akademie der Wissenschaften werde zum Ende der Grundlagenforschung in Russland führen, sagen Kritiker
So viele hochgebildete Russen auf einem Platz sieht man in Moskau selten. Professoren mit schlohweißem Haar und junge wissenschaftliche Mitarbeiter in roten Protest-T-Shirts versammelten sich am Sonnabend auf dem Suworowskaja-Platz nördlich des Stadtzentrums. Gekommen waren um die tausend Öl- und Nuklear-Forscher, Vogelkundler, Afrikanisten und Tolstoi-Experten. Sie alle gehören als Mitarbeiter verschiedener Moskauer Institute zur Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN.)
Die 1724 in St. Petersburg gegründete Akademie hat heute 55.000 Mitarbeiter und verfügt über 500 wissenschaftliche Einrichtungen in ganz Russland. Doch von ihren kärglichen Gehältern in Höhe von 500 Euro können die Akademie-Mitarbeiter nicht leben und müssen sich mit anderen Tätigkeiten, wie Nachhilfe oder Forschungsaufträgen aus dem Ausland, etwas dazu verdienen. Doch die Zweit- und Dritt-Jobs nehmen den Forschern nichts von ihrem Selbstbewusstsein. Sie sehen sich als das intellektuelle Zentrum Russlands, dem jetzt die Existenzgrundlage entzogen werden soll.
Physik-Nobelpreisträger Alfjorow kritisiert die Reform
Die Stimmung auf dem Suworoskaja-Platz war trotz Regenwetters aufgewühlt. Denn nach Meinung der Protestierenden führt die von der Duma bereits in zweiter Lesung verabschiedete Gesetz zur Reform der Akademie der Wissenschaften letztendlich zum Ende der Grundlagenforschung in Russland. "Die Akademie braucht eine Reform, aber keine Zerstörung", erklärte Anfang August der Physiker, Nobelpreis-Träger und KPRF-Abgeordnete Schores Alfjorow, dessen Fraktion die Abstimmung in der Duma im Juli boykottierte. Die Kreml-nahe Partei Einiges Russland verteidigt das von ihr vorgelegte Gesetz als Maßnahme zur Effektivierung der Akademie.
Eine Effizienzsteigerung verspricht sich die Regierung von der Zusammenlegung von drei wissenschaftlichen Akademien, der Russischen Akademie der Wissenschaften, gegründet 1724, 55.000 wissenschaftliche Mitarbeiter), der Akademie für landwirtschaftliche Wissenschaften, gegründet 1929, 25.000 wissenschaftliche Mitarbeiter) und der Russischen Akademie für medizinische Wissenschaften RAMN (gegründet 1944). Wie aber konkret eine Effizienzsteigerung herbeigeführt werden soll und welche Institute - wie ursprünglich geplant - zusammengelegt werden sollen, ist bisher unklar.
Konkrete Vorwürfe, wo die drei Akademien bisher Mittel verschwenden oder nicht effektiv einsetzen, gibt es bisher nicht. Der Afrikanist Aleksandr Aleksejewitsch erklärte in einem Interview, dass die Leitung des Moskauer Afrika-Instituts im Gegenteil bemüht ist, durch Räume-Vermietung selbst Geld zu erwirtschaften, um die bescheidenen Gehälter der Mitarbeiter aufzubessern.
Besonders empört sind die Kritiker der geplanten Akademie-Reform über eine neue Behörde (genannt "Föderale Agentur"), welche das gesamte Eigentum und die Finanzen der Akademie der Wissenschaften drei Jahre lang kontrollieren soll. In dieser neuen Behörde säßen Beamte, die von Wissenschaft wenig verstehen, meint der Afrikanist Aleksandr Aleksejewitsch.
"Wenn die von der Regierung geplante neue Kontrollbehörde kommt, dann kann ich mein Forschungsprojekt zu Alexej Tolstoi nicht durchführen", sagte Anna Akimowa, Wissenschaftlerin am Moskauer Institut für Welt-Literatur, gegenüber Telepolis.
Anna plant die wissenschaftliche Neubearbeitung des Tolstoi-Romans "Peter der Erste". In der aktuellen Ausgabe des Romans gäbe es viele Fehler, so die Expertin. Doch sie wisse jetzt schon, was die Beamten der geplanten Kontrollbehörde zu ihrem Forschungsvorhaben sagen würden. "Sie werden sagen, die gebundene Ausgabe von "Peter der Große" gibt es schon. Beenden Sie ihre Arbeit."
"Akademie-Mitglieder müssen in Zukunft Anträge für Raumnutzung stellen"
Wenn das Gesetz zur Reform der Akademie von der Duma verabschiedet wird, dann, so Ilja Borisow vom Institut für Petrochemie-Synthese, würden die Konten der Akademie für drei Jahre eingefroren und die wissenschaftlichen Mitarbeiter müssten, um ihre Labore zu benutzen, "Anträge stellen, bei Leuten, die wir nicht kennen. Das heißt wir werden drei Jahre nicht arbeiten können und nicht wissen was danach kommt."
Ilja Borisow ist selbst zum Protest entschlossen, zweifelt aber, ob es gelingen wird, noch mehr Wissenschaftler zu mobilisieren. "Viele meiner Kollegen sind apathisch", sagt der junge Wissenschaftler. "Viele sagen, dann mache ich eben eine andere Arbeit oder suche mir eine neue Arbeit im Ausland."
Der 34 Jahre alte Physiker Sergej Sibirjakow hielt auf der Protestkundgebung ein Transparent, auf dem gegen die Zusammenlegung der Moskauer Kernforschungsinstitute protestiert wird. Durch die Zusammenlegung der Institute wolle man Kosten sparen, so der Wissenschaftler, der schon in der Schweiz beim Cern gearbeitet hat. Sergej meint, über die 1.000 Euro, die er zurzeit verdient, könne er nicht klagen. Aber durch die Budget-Kürzungen könnten die wissenschaftlichen Mitarbeiter im Kernforschungsbereich in Zukunft nur noch mit einem Grundgehalt von 160 Euro rechnen. Den Rest des Einkommens müsste sich die Wissenschaftler dann durch Lehr- oder Forschungsaufträge selbst organisieren. Doch die Regierung beschränke die Möglichkeiten von Wissenschaftlern, an inländischen Universitäten zu unterrichten, aus Kostengründen immer mehr. Sergej hat zwei Kinder im Alter von drei und zwölf Jahren. Weil auch seine Frau arbeitet, kommt die Familie bisher noch mit dem Geld aus, sagt der Wissenschaftler.
Teure Grundstücke der Akademie werden möglicherweise verkauft
Die Russische Akademie der Wissenschaften besitzt viele teure Grundstücke und historisch wertvolle Immobilien in den Stadtzentren Russlands. In Moskau ist bereits die Umsiedlung einzelner Institute an den Moskauer Stadtrand im Gespräch. Kritiker befürchten, dass es unweigerlich wieder zu Korruption kommen werde, wenn die neue Kontrollbehörde wertvolle Grundstücke verkaufen sollte. Erinnert wird an den Riesenskandal um die Immobilienverkäufe des Verteidigungsministeriums, weshalb jetzt sogar gegen den ehemaligen Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow ermittelt wird.
Igor Michailow, Mitarbeiter des Instituts für Philosophie und Mitorganisator der Protestkundgebung, meinte gegenüber Telepolis: "Wir können nicht ausschließen, dass unsere Aktionen schärfer werden und dass es Streiks geben wird. Aber vielleicht findet die Macht ja einen Ausweg aus der für sie unangenehmen Situation."