Demokratie-Dilemma: Die "Letzte Generation" und das (un-)gesunde Volksempfinden

Seite 2: Demokratie heißt nicht, dass die Mehrheit immer Recht hat

Das kann und sollte zwar zum Nachdenken darüber führen, ob die Aktionsform weiterhin Sinn macht – schließlich ist sie für die Beteiligten selbst besonders strapaziös: Sie riskieren dabei sowohl körperliche Verletzungen durch rabiate Autofahrer als auch mehrwöchige Gefängnisaufenthalte in Form von Präventivhaft. All das machen Menschen, die zum Teil sogar ihre Berufswahl im Vertrauen auf die Energiewende getroffen haben – einer der zuletzt Inhaftierten ist beispielsweise Umweltingenieur – nicht zum Spaß.

Die Mehrheit muss das nicht verstehen. Eine demokratische Gesinnung bedeutet aber nicht, die Mehrheit nie denkfaul finden zu dürfen oder gar zu behaupten, dass sie immer Recht hat. Und Demokratie bedeutet erst recht nicht, dass die Minderheit Ruhe geben muss. Schon gar nicht, wenn es ums langfristige Überleben der menschlichen Zivilisation geht. Brutale Zivilisationsbrüche der Vergangenheit wurden in Deutschland leider von Mehrheiten geduldet und mitgetragen, sei es aus Überzeugung, Verdrängung oder Feigheit.

Wären Deutsche 1914 von einem Meinungsforschungsinstitut gefragt worden, ob es eine gute Idee ist, für Kaiser und Vaterland in den Krieg zu ziehen – oder 1935, was sie denn so vom Weltjudentum halten – würde sich die Mehrheit heute wohl mehr oder weniger schamhaft von den damaligen Mehrheitsmeinungen distanzieren.

Wer heute angesichts der knapper werdenden Zeit für effektive Maßnahmen zur Begrenzung der Klimakatastrophe "falsche Methoden" kritisiert, ohne grundsätzlich die Gefahr zu leugnen – was ja auch nur eine Minderheit tut – sollte dann schon eine bessere Idee haben, wie der politischen Klasse sonst ein angemessener Umgang mit der Gefahr abgetrotzt werden soll. Hinweise wie "demokratische Mühlen mahlen eben langsam" sind dieser Gefahr nicht angemessen.

Der vom mehrheitlich geduldeten Wirtschaftssystem befeuerte "menschengemachte" Klimawandel trifft Natur und Menschen stärker als prognostiziert – und seine Folgen dürften früher eintreten. Das war die Kernbotschaft des in diesem Jahr vorgelegten Sachstandsberichts des Weltklimarats (IPCC), der die Staatengemeinschaft aufgefordert hat, umgehend zu handeln, um den Ausstoß von klimaschädlichen Treibhausgasen zu senken. "Das Zeitfenster beginnt sich zu schließen", warnte ein Mitautor des Reports Anfang des Jahres. Bis zu 3,6 Milliarden Menschen leben schon jetzt in Gebieten, die durch den Klimawandel besonders gefährdet sind.

Seit Jahrzehnten wissen wir, dass wir unseren CO2 Ausstoß drastisch vermindern müssen, damit die Erhitzung nicht unkontrolliert voranschreitet. Genauso lange warnen Forschende vor den katastrophalen Folgen des klimapolitischen Versagens von Regierungen weltweit. Je dramatischer die Lage wird, desto drängender werden die Warnungen.

Die UN sieht keinen glaubhaften Kurs mehr, um die 1,5-Grad-Grenze noch einzuhalten. Mit ihrem Überschreiten wird das Auslösen von Klimakipppunkten wahrscheinlich, deren selbstverstärkende Effekte durch den Menschen nicht kontrollierbar sind.


Aimée van Baalen, Sprecherin der Letzten Generation

Selbst in Berlin und Brandenburg ist wegen zunehmender Trockenheit in naher Zukunft die Trinkwasserversorgung nicht mehr gesichert. Nachgedacht wird über Lösungen mit entsalztem Meerwasser aus der Ostsee. Ärmere Länder können sich solche Anpassungsmaßnahmen in absehbarer Zeit nicht leisten.

Bei der diesjährigen UN-Klimakonferenz wurde aber aus der Sicht von Forschenden nur ein Minimalkonsens erzielt. Der fossile Kapitalismus könnte mit einem "Weiter so" auch ohne einen dritten Weltkrieg zum Ende aller Annehmlichkeiten der menschlichen Zivilisation führen.

Die Methoden der "Letzten Generation" mögen trotz alledem schwer vermittelbar sein. Aber: Niemand weiß es leider wirklich besser. Niemand hat eine Idee, welche erfolgversprechenden Handlungsoptionen es unter dem beschriebenen Zeitdruck noch für Menschen gibt, die nicht an den Schalthebeln der Macht sitzen, solange Massenorganisationen wie die Gewerkschaften sich streng an die Vorschriften halten und beispielsweise die Illegalisierung politischer Streiks in Deutschland akzeptieren.

Notwendigkeit von Überzeugungsarbeit begriffen

Zumindest versuchen die vermeintlichen "Klima-Chaoten" ihre Aktionen für die breite Masse verständlich und ohne individuelle Schuldzuweisungen zu erklären. Sie sehen zwar das Demokratie-Dilemma, dass diejenigen, die den Hauptteil der Rechnung bezahlen sollen, hier gar nicht mit am Tisch sitzen und nicht abstimmen dürfen, weil sie zu jung sind oder in den falschen Ländern leben. Aber sie haben begriffen, dass sie trotzdem versuchen müssen, hierzulande Mehrheiten aus allen Generationen für ihr Anliegen zu gewinnen.

Das ist neben ihrer Gewaltfreiheit und den im Grunde bescheidenen Forderungen nach sozialverträglichem Klimaschutz – etwa nach einem Neun-Euro-Monatsticket und einem allgemeinen Tempolimit auf Autobahnen sowie einem Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung – ein weiterer Punkt, der Vergleiche mit der RAF und deren für "Normalos" kaum lesbaren Bekennerschreiben völlig indiskutabel macht.

Im Grunde fordern sie nur konkrete Schritte zur Einlösung internationaler Abkommen sowie des Versprechens im deutschen Grundgesetz, dass der Staat auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen schütze.

Das ist diesem Staat allerdings schon zu viel: Am Dienstag wurden bundesweit mehrere Wohnungen von Mitgliedern der Gruppe durchsucht. Neben "Störung öffentlicher Betriebe" wird ihnen laut der Staatsanwaltschaft Neuruppin "Bildung und Unterstützung krimineller Vereinigungen" vorgeworfen. Einige sitzen in Bayern bereits wieder in Präventivhaft.

Ein "Nein" zu "falschen Methoden" ist noch kein "Ja" zur herrschenden Politik

Aber so eindeutig, wie das "gesunde Volksempfinden" gegen ihre Methoden spricht, spricht es nicht für die Politik der Bundesregierung: Die Mehrheit der Anhänger aller Parteien außer der AfD ist sich laut einer aktuellen Umfrage von Infratest dimap einig, dass die derzeitigen Aktivitäten im Klimaschutz nicht ausreichen.

Nur finden es die meisten zugleich übertrieben, deshalb gleich den Straßenverkehr zu blockieren, nur weil sich das Zeitfenster schließt – und haben selbst auch keine bessere Idee.