Demokratie leben! - nur: welche genau?
Seite 2: Ist die un-aggressive Verfolgung eigener Ziele per se demokratieschädlich
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Hier muss zum einen jeweils eine Grenze gezogen werden zwischen der bekämpften "gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit" und der grundgesetzlich garantierten Meinungsfreiheit. Meinungsfreiheit schließt ja auch negative oder kritische Äußerungen ein sowie sogar Vor-Urteile und Stereotype - die übrigens jeder Mensch in Form von Weltbildern im Kopf trägt.
Wenn also "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" sich zusätzlich zu "Diskriminierung, Ausgrenzung oder sogar Gewalt" bereits "unauffällig, z.B. nur in Meinungen" ausdrückt, die Gruppen "abwerten", bleibt zu klären: Wer entscheidet, welche Meinungen "abwertend" und unakzeptabel sind? Das erledigt hier teilweise das oben erwähnte Glossar der Website. Ihm entnehmen wir: Die "Ansicht, dass der Islam rückwärtsgewandt und gegen Modernisierung und Veränderung sei, insbesondere gegen eine Öffnung hin zu westlichen Strukturen und Werten" und auch eine "politische Ideologie" nicht lediglich eine Religion sei, ist Beleg einer "islamfeindlichen Einstellung". "Des Weiteren können Diskriminierungen von Muslimen im Bildungsbereich, im Arbeitsleben oder bei der Wohnungssuche als Phänomene von Islamophobie genannt werden."
Zum anderen wäre interessant zu wissen, wie das Programm mit realen Konflikten wie divergierenden Werten und Interessen sozialer Gruppen umgeht. "Chauvinismus", heißt es im Glossar, äußere "sich u.a. in der Auffassung, dass die eigenen Interessen gegenüber anderen Gruppen stärker durchgesetzt werden sollten ... Innerhalb einer Gesellschaft spricht man zudem von sozialem Chauvinismus, wenn eine Gruppe die eigene Überlegenheit gegenüber anderen Teilen der Gesellschaft beansprucht. Das äußert sich z. B. in der Ansicht, dass zuerst Deutsche in Deutschland Arbeitsplätze haben sollten. Andere Formen von Chauvinismus finden sich u. a. in Bezug auf Religion oder Sprache."
Ist die (bitte: un-aggressive) Verfolgung eigener Ziele per se demokratieschädlich und identisch mit "Überlegenheits"-Gefühlen? Wohl jede soziale Gruppe ist zu einem Gutteil selbstbezogen und setzt zunächst einmal auf eigene Anliegen. So fordern die Migrantenorganisationen in ihrem "Impulspapier zur Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft" von 2016 ja auch diverse Verbesserungen für sich. ("Wir werden all jenen vehement entgegentreten, die unsere selbstverständliche Zugehörigkeit zur Einwanderungsgesellschaft und unseren Teilhabeanspruch infrage stellen.") Das bedeutet: Der Anspruch auf Teilhabe einer Gruppe kann zu Diskussionen über eine Umverteilung von begrenzten Ressourcen wie Jobs, Wohnungen oder eine Veränderung der gängigen Kultur und Lebensweisen führen. Wie sagt doch Staatsministerin Aydan Özoğuz: Unser Zusammenleben in einer vielfältiger werdenden Gesellschaft müsse "täglich neu ausgehandelt werden".
Vorbehalte haben auch mit persönlichen und sozialen Verhältnissen zu tun
Aushandeln produziert aber Verlierer und beeinflusst den sozialen Zusammenhalt. "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit", lesen wir denn auch bei "Demokratie leben!", und das ist interessant, trete "verstärkt" bei Personen auf, "deren menschliche Grundbedürfnisse nach Sicherheit, Integration und Anerkennung nicht erfüllt sind".
"Angst vor Arbeitslosigkeit, schlechte soziale Absicherung, instabile emotionale Situationen, negative Zukunftserwartungen oder gefühlte politische Machtlosigkeit" bestärkten "Menschenfeindlichkeit". Hier wird ein wichtiger Zusammenhang hergestellt zwischen Vorbehalten gegenüber Mitmenschen und der persönlichen Lebenslage sowie gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Dieser Zusammenhang könnte zu dem logischen Schluss verleiten: Programme wie das des BMFSFJ, die vor allem Einstellungen beeinflussen und Verhalten ändern möchten, versprechen dann den größten Erfolg, wenn sie auch sozialökonomische und politische Rahmenbedingungen, Meinungsverschiedenheiten und Interessenskonflikte zwischen Teilen der Bevölkerung im Blick haben. Denn (negative) Einstellungen entstehen nicht im luftleeren Raum, sie haben Ursachen, denen man nachspüren muss. Es reicht leider nicht immer ganz, "Seid nett zueinander und engagiert Euch" zu sagen.