Demokratie vs. Autokratie: Letztes Aufbäumen des Westens um globale Dominanz

Seite 2: Demokratie undemokratisch schützen

Eine anschauliche Anwendung dieses Prinzips ist in Gaza zu sehen, wo Israel – nach westlicher Darstellung – Gräueltaten begehen muss, um sich zu verteidigen und "die einzige Demokratie im Nahen Osten" vor der Bedrohung durch arabisch-islamische autokratische Akteure zu retten: Hamas, Hisbollah und Iran.

Es versteht sich von selbst, dass eine Bedrohung, wenn sie nicht eintritt, erfunden werden muss, da sonst das gesamte intellektuelle Konstrukt der westlichen Identität zusammenbrechen könnte.

In den letzten zwei Jahrzehnten haben die westlichen politischen Eliten und ihre zahlreichen Sprachrohre in den Mainstream-Medien eine beachtliche Fähigkeit entwickelt, eine breite Palette von Bedrohungen zu erfinden und zu propagieren.

Interne Bedrohungen

Diese Frage wird auch in einem kürzlich erschienenen Aufsatz von Hal Brands in Foreign Affairs mit dem Titel "The Age of Amorality: Can America Save the Liberal Order Through Illiberal Means?" ("Das Zeitalter der Amoralität: Können die USA die liberale Ordnung mit illiberalen Mitteln retten?").

Brands behauptet, dass "der einzige Weg, eine Welt zu erschaffen, die Freiheit garantieren kann, darin besteht, imperfekte Partner zu umwerben und sich an unschönen Aktionen zu beteiligen".

Sein Essay offenbart binäres Denken und einen typisch westlichen Nullsummen-Ansatz, indem er den Wettbewerb der USA mit China und Russland als "die jüngste Runde in einem langen Kampf darüber, ob die Welt von liberalen Demokratien oder ihren autokratischen Feinden gestaltet wird", beschreibt.

Er vergisst, dass der Krieg in der Ukraine auch das Ergebnis von zwei Jahrzehnten Warnungen Moskaus sein könnte, dass der Beitritt der Ukraine zur Nato eine rote Linie für die Sicherheit Russlands darstelle, ähnlich wie es die sowjetischen Atomraketen, die Anfang der 1960er-Jahre auf Kuba stationiert wurden, für die Sicherheit der USA waren.

Sicherheit nur für uns

Oder dass der Hamas-Anschlag vom 7. Oktober auf mehr als ein halbes Jahrhundert brutaler Besatzung palästinensischen Landes folgte, die Israel dank des politischen Schutzschildes Washingtons, der Straffreiheit verschaffte, durchführte, die in der jüngeren Geschichte keinem anderen Land gewährt wurde.

In Bezug auf China erwähnt Brands auch nicht die Tatsache, dass die Spannungen in der Taiwan-Frage damit zusammenhängen könnten, dass die USA allmählich von ihrer Ein-China-Politik abrücken, die in den 1970er-Jahren eingeführt wurde und seitdem ein Eckpfeiler der ostasiatischen Stabilität war.

Während die USA die Sicherheitsbedenken ihrer Verbündeten als wichtig erachten, werden die anderer Akteure wie Russland, Iran und China in der Regel außer Acht gelassen, ebenso wie historische Missstände, etwa die der unter israelischer Besatzung lebenden Palästinenser. Wenn die Beweggründe und Sicherheitsbedenken der "Anderen" bewusst ignoriert werden, ist es unmöglich, so zu tun, als ob Frieden oder Stabilität herrschen würden.

Ablenkungsmanöver

Besessen von externen Bedrohungen, ob real oder imaginär, werden westliche Demokratien daran gehindert, sich mit ihren eigenen, sehr realen Bedrohungen im Inland zu befassen.

Der Diskurs "Autokratien gegen Demokratien" ist ein Ablenkungsmanöver, das die Aufmerksamkeit der westlichen Öffentlichkeit von der internen Polarisierung, der Krise der repräsentativen Demokratie, der weit verbreiteten Ungleichheit und vielen anderen wichtigen Themen ablenken soll.

Die USA und ihre Verbündeten können nicht akzeptieren, dass die jahrhundertelange Vorherrschaft des Westens in der Welt schwindet, da sich das Kräfteverhältnis zugunsten des sogenannten Globalen Südens verschiebt. Der westliche Exzeptionalismus kann keine Arrangements zur Teilung der Macht oder echte Multipolarität hinnehmen. Die einzige Option, die bleibt, ist die Freund-Feind-Darstellung.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem Magazin Brave New Europe. Hier finden Sie das englische Original. Übersetzung: David Goeßmann.

Marco Carnelos ist ein ehemaliger italienischer Diplomat. Er war in Somalia, Australien und bei den Vereinten Nationen tätig. Zwischen 1995 und 2011 war er im außenpolitischen Stab dreier italienischer Ministerpräsidenten tätig. In jüngster Zeit war er Koordinator des Friedensprozesses im Nahen Osten und Sondergesandter der italienischen Regierung für Syrien sowie bis November 2017 italienischer Botschafter im Irak.