Demokratie vs./ Freihandel
Seite 2: Ein salomonisches Urteil
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- Ein salomonisches Urteil
- Ernsthafte Sorgen um demokratische Legitimation
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Was die erste Frage angeht, teilt auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 15. März (Randnummer 190) die allgemeine Einschätzung, dass es hier auf Artikel 218 Absatz 9 des "Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union" (AEUV) hinauslaufe.
Zugleich erscheint es dem Gericht aber "zweifelhaft" (ebenfalls Rn. 190), dass die dort vorgesehenen Verfahrensregeln ausreichen, um die demokratische Legitimation und Kontrolle von Beschlüssen der Ceta-Ausschüsse so zu gewährleisten, dass sie dem im Grundgesetz durch die Ewigkeitsgarantie des Artikels 79 Absatz 3 geschützten Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) genügen.
Sein aktuelles Ceta-Urteil hat damit zwei ganz verschiedene Seiten: Einerseits haben die Verfassungsbeschwerden und die Organstreitklage keinen Erfolg. Andererseits begründet das Gericht dies vor allem mit vorübergehenden Sonderfaktoren, um zugleich durchblicken zu lassen, dass sein Urteil ansonsten anders ausfiele.
Ein salomonisches Urteil also, denn eigentlich hatte alle Welt erwartet, dass nach den beiden ersten Ceta-Urteilen vom 12. Oktober und 7. Dezember 2016 (zu Anträgen auf einstweilige Anordnung) endlich die materiellen Streitpunkte entschieden würden. Doch der zweite Senat vermied dies erneut: Zum einen könne gegen den eigentlichen Ceta-Vertrag bzw. die Zustimmung der Bundesregierung dazu noch nicht geklagt werden4.
Und zum anderen sei die Klage gegen die am 28. Oktober 2016 erteilte Zustimmung der Bundesregierung zur "vorläufigen Anwendung" des Ceta zwar zulässig. Die strittige Frage der "Weiterübertragung von Hoheitsrechten auf das Gerichts- und das Ausschusssystem" brauche aber trotzdem nicht entschieden zu werden, da jene vorläufige Anwendung durch rechtsverbindliche Erklärungen von EU-Kommission, Rat und Mitgliedstaaten5 so eingeschränkt sei, dass es, bei Beachtung dieser Einschränkungen, zu keiner Weiterübertragung auf Ausschüsse und das Investitionsgericht kommen könne.
Als unmittelbare Folge des Urteils kann somit die am 1. September 2017 begonnene "vorläufige Anwendung" des Ceta erst einmal fortgesetzt werden. Das heißt: Obwohl die Parlamente mancher EU-Mitgliedstaaten – darunter auch Bundestag und Bundesrat – Ceta erst noch zustimmen müssten, damit es endgültig in Kraft treten kann, können all jene Ceta-Bestimmungen, die ganz sicher keine Kompetenzen der EU-Mitgliedstaaten im Gegensatz zur EU selbst berühren, auch weiterhin bis auf Weiteres schon umgesetzt werden.
Diese Möglichkeit eröffnet das europäische Recht (Art. 218 Abs. 5 AEUV) in Verbindung mit der Wiener Konvention über das Recht der Verträge (Art. 25 WVK) und dem Ceta-Vertrag selbst (Art. 30.7 Ceta). Ob ihre Nutzung im vorliegenden Fall – angesichts keineswegs gesicherter demokratischer Mehrheiten in allen Mitgliedstaaten – nicht mindestens illegitim sei, ist allerdings umstritten.
Doch wie dem auch sei. Das Bundesverfassungsgericht lässt jedenfalls deutlich erkennen, dass es das Ausschuss- und Gerichtssystem ohne die für die "vorläufige Anwendung" vereinbarten Einschränkungen wohl nicht zu akzeptieren bereit wäre. Sobald also Bundestag und Bundesrat ein deutsches "Zustimmungsgesetz" zum Ceta beschlössen und/oder die Bundesregierung im Rat für den endgültigen "Abschluss" des Ceta votierte, wären neue Klagen nicht nur möglich6, sondern auch aussichtsreich.
Dies darf man auch daraus schließen, dass am Ende des Urteils7 ausdrücklich mit der Möglichkeit gerechnet wird, dass es schon während der "vorläufigen Anwendung", nämlich gerade bei Nichtbeachtung der dafür vereinbarten Einschränkungen, zu Verletzungen des Grundgesetzes kommen könnte. In einem solchen Fall aber müsse die Bundesregierung die vorläufige Anwendung des Abkommens beenden8.
Es geht nicht nur um Rest-Kompetenzen der Mitgliedstaaten
Tatsächlich geht es hier um keine Kleinigkeiten, denn in Bezug auf die EU prüft das Bundesverfassungsgericht ohnehin nur sehr Grundlegendes: Hält die EU ihre Kompetenzgrenzen ein, das heißt, übt sie nur die Kompetenzen aus, die ihr von den Mitgliedstaaten auch übertragen wurden ("Ultra-vires-Kontrolle")? Und: Bleibt die "Verfassungsidentität" des Grundgesetzes – die auch das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) umfasst – gemäß der "Ewigkeitsgarantie" des Art. 79 Abs. 3 GG gewahrt oder wird sie über die EU ausgehebelt ("Identitätskontrolle")?
In Bezug auf Ceta steht die eine wie die andere Frage zur Debatte, doch brisant ist vor allem die zweite. Sorgte sich das Bundesverfassungsgericht nämlich bloß um die Respektierung der den EU-Mitgliedstaaten und damit auch Deutschland verbliebenen und zugleich für die Handelspolitik relevanten Kompetenzen beschränkt, wäre die einzige wirklich bedeutende Frage, ob das Gericht zu einer Ablehnung des Investitionsschiedsgerichts gelangen wird und inwiefern das entsprechende Konsequenzen in Bezug Investitionsschutzverträge der EU mit anderen Ländern als Kanada hätte.
Ansonsten jedoch ginge der Streit allenfalls um Bereiche wie die Anerkennung von Berufsqualifikationen, die internationalen Seeverkehrsdienstleistungen und den Arbeitsschutz. All die anderen Politikfelder hingegen, bis hin zu Bildungsdienstleistungen und anderen Aspekten der öffentlichen Daseinsvorsorge, die in Ceta und anderen EU-Handelsverträgen "der neuen Generation" ebenfalls geregelt sind, wären außen vor: Dass sie als Teil der gemeinsamen EU-Handelspolitik zu gelten haben und damit in alleiniger EU-Kompetenz liegen, wie der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seinem Singapur-Gutachten geurteilt hat, erkennt auch das Bundesverfassungsgericht prinzipiell an.
Man kann angesichts dieser Sichtweise durchaus fragen, ob das Bundesverfassungsgericht genug tue, um sich einer Aushöhlung der Demokratie durch die Handelspolitik entgegenzustellen: Offenbar hat es ja nichts daran auszusetzen, wenn auf Handelsliberalisierung ausgerichtete Verträge wie ein Rahmengesetz wirken, das den Spielraum gerade auch solcher Politikfelder beschneidet, in denen es eigentlich gar nicht primär um Handels- oder auch nur Wirtschaftspolitik, sondern etwa um Bildungs- oder Umweltpolitik geht.
Schon in seinem Urteil zum "Lissabonvertrag", also der seit 2009 geltenden Rechtsgrundlage der EU, hat es diese Problematik jedenfalls nur allgemein anerkannt9, um sie dann aber nicht weiterzubehandeln (Rn. 372-380). Somit ist seine Mahnung, es müssten dem Bundestag genügend Entscheidungsbereiche verbleiben, damit dieser auch weiterhin "im Mittelpunkt eines verflochtenen demokratischen Systems" stehe10, bislang eher abstrakt geblieben.