Der 1. Schultag
Hoffnungen und Erwartungen
Die ABC-Schützen sind wieder auf den Straßen unterwegs, also gilt es, im Verkehr besonders langsam zu fahren und Acht zu geben. Doch auch die Schüler müssen auf sich aufpassen, denn sonst kommen sie bei all den Erwartungen, die ab jetzt an sie gestellt werden, unter die Räder.
Da waren sie Samstag morgen in Niedersachen früh auf den Straßen. In neuen, strahlenden Kleidern den dicken, bunten Ranzen auf dem Rücken und die riesige Zuckertüte im Arm. Im Schlepptau die ebenso festlich dreinschauenden Eltern, Tanten, Onkel und Paten. Wäre nicht dieser unförmige Einheitsranzen und die Überraschungstüte, könnte man meinen, es sei der Heilige Abend. Denn der Weg an diesem ersten Schultag führt die Schulanfänger direkt in die Kirche, die meistens wirklich nur an den Weihnachtsfeiertagen oder zu Konfirmationen ähnlich gut besucht ist.
Hallo Florian! Sieben Jahre hast du uns geärgert, nun sind die Lehrer dran! Viel Spaß!
Der Tag der Einschulung ist zu einer feierlichen Zeremonie geworden, der inzwischen schon regelrecht zelebriert wird. Die Vermarktung von Weihnachten und Muttertag, Ostern und Valentinstag hat sich jetzt ausgeweitet auf die Einschulung als wichtigstem Termin zur Sommerlochzeit. Selbst beim Bäcker kann man "Amerikaner mit Verkehrszeichen" entdecken. Schon Wochen vorher werden die Kids eingestimmt: "Jetzt beginnt der Ernst des Lebens". Die Klamotten werden gekauft, die Verwandtschaft muss sich diesen Termin frei halten und natürlich werden gleich mehrere Familienmitglieder zum Fotografieren animiert, damit nicht auch nur ein entscheidendes Detail verloren gehen kann. Für die Stunden danach wird das Essen bestellt oder gleich die Tische im Restaurant reserviert.
Hallo Maren! Bitte nimm Dir kein Beispiel an dem Lied aus dem Zigeunerbaron: "Ja das Schreiben und das Lesen ist nie mein Fach gewesen."
Aber nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Eltern beginnt ein neuer Lebensabschnitt, denn auf einmal müssen sie die Erziehungsarbeit mit den Lehrern teilen. Gerüchte über die Lehrerschaft werden eingeholt und verifiziert. Und dann die erste Auseinandersetzung: "Warum um Gottes Willen sollen es denn nun diese Buntstifte sein und der Tuschkasten unbedingt von dieser Firma?"
Lieber Nils! Du weißt ja, wer viel und gut redet wird Politiker oder Manager.
Damit sich die Kids später einmal an diesen neuen Teilabschnitt des "lebenslangen Lernens" erinnern, werden neuerdings sogar Zeitungsanzeigen aufgegeben. Aus den Texten kann man ersehen, welche Bedeutung diesem ereignisreichen Tag inzwischen zugeordnet wird. Aus den Anzeigen wird die Hoffnung und Erwartung der Eltern überdeutlich.
Liebe Jocelyn, Du hast gelernt zu sehen und zu hören, zu lachen und zu weinen, zu laufen und zu sitzen, zu sprechen und zu schweigen, zu singen und zu tanzen, zu kuscheln und zu zicken - Du kannst Fahrrad und Inliner fahren, erkennst im Straßenverkehr die Gefahren, kannst schwimmen und sogar vom Einer springen. Zum Schulanfang in der Glockseeschule wünschen Dir Weiterhin soviel Spaß und Erfolg beim Lernen
Familiengeschichten offenbaren sich in diesen tollen Glückwunschanzeigen. So ganz nebenbei erfährt man, dass "Nils" wohl ein lebhaftes Plappermäulchen und "Florian" ein vorlautes Bürschchen ist. Bei "Jocelyn" soll gleich die Welt erfahren, wie intellektuell die Eltern sind und ihr Kind nun auf eine alternative Privatschule schicken. Den kleinen Aufsatz wird die kleine Zicke vielleicht auch schon lesen können. Auch alte Weisheiten werden hervorgekramt, denn "Du lernst nur für Dich und nicht für den Lehrer". Bei den Wünschen folgt neben "Viel Spaß" gleich noch "viel Erfolg" und manchmal wird die Ziellinie deutlich gesteckt:
Liebe Liza, nur noch 13 Schuljahre bis zum Abitur!
Selbst EXPO-Fans outen sich: "Hallo Julia! Das gibtŽs nur einmal, das kommt nie wieder!" Ob man hier ein Verona-Syndron diagnostiziert? Dem "Schlau-Meyer Tophi" wird gleich mit auf dem Weg gegeben, dass auch er "einmal mit dem ABC anfangen" muss. Hoffentlich ist den Eltern klar, dass auch sie schleunigst noch einmal mit dem Lernen beginnen müssen. Sonst hätten sie den Kindern ihre Weisheiten nicht nach den alten Rechtschreibregeln mit auf den Weg gegeben. Das Anredepronomen "du" (Duden-Regel 52 und 53) war nämlich in allen Fällen noch großgeschrieben und das "ß" wird längst nicht pauschal entfernt. Selbst das Leben neben der IT- und Kommunikationswelt kommt zur Sprache.
Hi Maus! Viel Spass und Erfolg beim "ABC" der Informatik. Es gibt ausser Hard- + Software Micro-Schrott, WWW, Maus-Pad, Mehl-Box eine andere Welt!
Auch dem Kommentator der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung ist der 1. Schultag ein Nachdenken wert. Er macht sich ernsthafte Sorgen um das Schulsystem von morgen und hat die Vision, dass im Jahre 2004 der Laptop im Schulranzen sei. (Kritik an Schüler-Laptop) Er irrt, denn der Laptop wird Bücher, Stifte und Hefte ersetzen. Wozu dann noch einen Ranzen? Die Grundfrage wird auch hier gestellt: "Halten unsere Schulen noch Schritt mit den wachsenden Anforderungen - machen sie die Kinder fit für die Zukunft?" Im internationalen Vergleich schnitten die Leistungen deutscher Schüler nur mittelmäßig ab. Wie mit einem "Nürnberger Trichter" soll noch mehr Stoff in die Köpfe der Kinder in noch kürzerer Zeit gestopft werden, damit sie den jeweiligen Anforderungen der Wirtschaft genügen. Und die Schule wird zunehmend an ihre pädagogische Verantwortung erinnert. Nicht zuletzt deswegen hat man wohl auch wieder die Kopfnoten eingeführt. Doch übersetzen wir das einmal in eine Gleichung des lebenslangen Lernens: Gewalt Nein Danke + Rechtradikale weg! + Wirtschaft als Schulfach + Englisch ab der 1. Klasse + Betreuende Schule = Der lehrerkompatible und universelle Schüler, der endlich wieder kuscht, um nicht nur Leistungen benotet zu bekommen. Kurzum, der Schüler, der sich dem System anpasst.
Hallo, Elena! Also lautet ein Beschluss, dass der Mensch was lernen muss. Was bedeutet das für Dich: nimm Dein Buch und spute Dich.