Der 8. Mai 1945

Seite 2: Die Zukunft des großen Ganzen und seine "tragische" Geschichte

Dem großen Ganzen gilt das Pathos, das den Einzelnen und die Toten in den Dienst nimmt, sich auf sie beruft, um das große Ganze und seine "tragische" Geschichte zu würdigen und über die Schlachtfelder, Trümmer und Gräber hinaus zu erheben.

So musste Theodor Heuss das große Ganze, dem in offenbar schicksalhafter, unschuldiger oder schuldiger Weise Paradoxie, Tragik, Vernichtung und Erlösung widerfuhr, gar nicht explizit erwähnen. "Für jeden von uns" soll von nun an gelten, dass am 8. Mai 1945 das große Ganze auf paradoxe und tragische Weise das bedeutsamste Opfer der Vergangenheit zwischen 1933 und 1945 ist und sich im selben Atemzug die offenbar ebenso bedeutsame Frage aufdrängt, was mit dem großen Ganzen in Zukunft denn geschehen soll.

Über alle politische Stimmungslagen. Parteigrenzen- und Regierungswechsel hinweg hat sich dieser eine, dieser mit sich ganz identische, pathetische Erinnerungsweckruf erhalten. So erscheint dieser Erinnerungsweckruf bis auf den heutigen Tag wieder und wieder in allen Erinnerungsreden: in der Erinnerungsrede etwa eines Richard von Weizsäcker 1985 gleichermaßen, wie in der Rede des gegenwärtigen Bundespräsidenten vom 8. Mai 2020.

Das im Erinnerungsweckruf durch Theodor Heuss dem Vaterunser entlehnte, auf die Vergangenheit zwischen 1933 und 1945 und auf den 8. Mai 1945 übertragene Wort von der Erlösung des großen Ganzen, ist richtungsweisend für das Selbstverständnis, für das Selbstbild und für die Selbstdarstellung des großen Ganzen: Zunächst im Nachkriegsdeutschland-West geltend, schließlich im Gesamtdeutschland bis auf heute. Die beanspruchte Erlösungsidee ist dabei sprichwörtlichen gemeint: "erlöse uns von dem Bösen".

Als solches bezeichnet die von Theodor Heuss ins Leben "Erinnerungskultur" die Vergangenheit zwischen 1933 und 1945, die schließlich im 8. Mai 1945, in der angeblichen "Vernichtung" des großen Ganzen mündete.

Glücklicherweise wohnt der Erlösungsidee die Vorstellung inne, dass die Erlösung des großen Ganzen vom "Bösen", dem das große Ganze schicksalhaft unschuldig oder schuldig verfiel, in die Zukunft blickend einen Abschluss, ein Ende des Bösen findet, finden muss: Ein Akt der Befreiung, den die Erlösung des großen Ganzen und "für jeden von uns" verlangt.

So ist die pathetische Erinnerung Sorge um das zukünftige Wohl und Wehe des großen Ganzen; und, kaum geäußert, ist sie schon über den 8. Mai 1945 und über die Zeit zwischen 1933 und 1945 längst hinaus. Eine offenbar gestern wie heute und morgen kaum endende Aufgabe, Forderung und Herausforderung - nach innen wie nach außen.

Dass sich auch die AfD diesem gleichsam zeitlosen Erinnerungsweckruf an den 8. Mai 1945 anschließen kann, ohne seinen höheren Sinn, ohne seine höhere Weihe zu verletzten, das ist dem Erinnerungsweckruf in seiner Sorge um das zukünftige Wohl und Wehe des großen Ganzen von Anbeginn eingegraben.

Die lange Geschichte des Erinnerungsweckrufs

Selbst dann, da die AfD diesem Erinnerungsweckruf eine andere Nuance verleiht: In kongenialer Einmütigkeit mit dem Erinnerungsweckruf und seiner Erzählung, die gleiche Meta-Erzählung von der Tragik und der "Erlösung" des großen Ganzen vom Bösen sein will, rechtfertigt die Erlösung es aber für die AfD, wie für ihre geistesverwandten Vorgänger nach 1945 nicht, den 8. Mai 1945 als einen Tag der "Befreiung" zu feiern.

Der von Theodor Heuss ins Leben gerufene Erinnerungsweckruf blickt auf eine lange, auf eine über nunmehr 76-jährige Geschichte zurück, die bis auf den heutigen Tag immer und immer wieder in den 8. Mai-Reden fortgeschrieben wird. Dem Geist, der sinngebenden Idee nach, hat dieser Erinnerungsweckruf eine ungemein kurze Geschichte.

Es ist ein einziges Wort, ein einziger Gedanke, eine einfache Erzählung, die historisch wahre Erinnerung sein will: Dem großen Ganzen widerfuhr schicksalhaft Paradoxie und Tragödie, weil es ihm, schuldig oder nicht schuldig, nicht gelang, sich vom absolut Bösen zu befreien. Dies wiegt umso mehr, wo doch die Erlösung von der Vergangenheit zwischen 1933 und 1945 Auftrag, Forderung und Herausforderung "für einen jeden von uns" bedeutet.

Unter geschulter Anleitung und Einübung durch dazu Berufene hat sich dieser Erinnerungsweckruf mit seiner eigentümlichen Betrachtungsweise der Vergangenheit zwischen 1933 und 1945 und des 8. Mai 1945 in das individuelle und kollektive Gedächtnis des Standorts Deutschland eingegraben, wo nicht eingebrannt.

Etwas anderes ist es, die zutage liegende Vergangenheit zwischen 1933und 1945, die nichts als "das Böse" sein soll, schlicht historisch zu betrachten und in Erinnerung zu rufen. Eine historisch-rekonstruktive Gegen-Erinnerung, Gegen-Erzählung oder Gegen-Geschichte, die möglicherweise auch die Frage klären kann, warum der von Theodor Heuss ins Leben gerufene Erinnerungsweckruf mit der Idee der erlösenden Befreiung des großen Ganzen, erfolgreich die verbindlichen Leitlinien der Selbstbetrachtung und Selbstdarstellung des offenbar absolut "neuen" Deutschland ab 8. Mai 1945 bis auf heute bildet. Wie also kam es zum 8. Mai 1945 und zum Bösen, von dem die Nation sich zu erlösen hat?