Der 8. Mai 1945

Die bedingungslose Kapitulation der faschistischen deutschen Wehrmacht wird am 8. Mai 1945 in Berlin - Karlshorst unterzeichnet. Als Vertreter des Oberkommandos der Roten Armee unterzeichnet Marschall der Sowjetunion G. K. Shukow die Kapitulationsurkunde, links daneben der stellvertretende sowjetische Außenminister A. J. Wyschinskij, rechts Armeegeneral W. D. Sokolowski. Bild: Bundesarchiv, Bild 183-R83900 / CC-BY-SA 3.0

Eine Erinnerung (Teil 1)

Heute

Inmitten des coronapandemisch verseuchten Standort Deutschland; inmitten der durch das Virus ausgelösten Bedrohung oder Zerstörung der Existenzen von Tausenden und Abertausenden, vornehmlich des Heeres der Mittel- und Eigentumslosen, deren Existenz und Überleben davon abhängt, sich ihr tägliches Brot durch lohnabhängigen Dienst an gewinnträchtigem, fremden Eigentum zu sichern; inmitten derer, die im breitgefächerten Niedrigstlohnsektor sich verdingen oder in den Flüchtlingslagern zusammengepfercht in besonderer Weise der Pandemie schutzlos ausgeliefert sind; inmitten jener, die im durchseuchten Standort Deutschland zu Tausenden einem dem Standortinteresse subsumierten Gesundheitssystem zum Opfer gefallen sind, und der Zahllosen, auf die der Tod bereits wartet, solange kein Impfstoff gefunden ist.

Weiterhin inmitten einer von Verschwörungsgläubigen unterstützten, um sich greifenden Protestbewegung, die vom politischen Verwalter des Ganzen die Rückkehr zu den vorpandemischen Standortbedingungen fordert, die erster Grund, erste Ursache dafür sind, dass Sars-CoV-2 mit seiner infektiösen Unparteilichkeit in seinen Wirkungen äußert parteiisch zu Werke geht; äußerst parteiisch zu Werke geht und jenseits irgendeiner Voreingenommenheit offenlegt, dass die Mittel- und Eigentumslosen; dass die durch den lebenslangen Dienst an fremden Eigentum längst Erkrankten und Geschwächten der Pandemie besonders unterworfen sind.

Dass zudem die im Niedrigstlohnsektor Schulter an Schulter ums Überleben Kämpfenden; dass die eingesperrten Flüchtlinge, dass die Obdachlosen, dass die ohnehin zu ewiger Armut Verdammten; dass all diese Bewohner des Standorts Deutschland den Folgen der Infektion in ganz anderer Weise ausgeliefert sind, als die ökonomisch und politisch Privilegierten Mitbewohner dieses Standorts; dass Sars-CoV-2 in seiner infektiösen Unparteilichkeit vor aller Augen darlegt, wie es bestellt ist um Reichtum, Armut, Krankheit und Tod im heutigen und vorpandemischen Standort Deutschland.

Inmitten all dessen ist der Bundespräsident hingegen so frei, sich am 8. Mai 2020 in einer Rede an alle Infizierte und Nichtinfizierte quer durch alle Lager und gesellschaftlichen Klassen im Standort Deutschland, als Land, als Nation gefasst, zu wenden. Es muss sich um etwas Großes, etwas ganz Bedeutsames handeln, dass der gegenwärtige Bundespräsident an diesem so besonders ausgewählten Tag sich mit einer Rede an alle Mitglieder der virusdurchseuchten Nation richtet.

Was ist dafür verantwortlich, dass der 8. Mai seit 76 Jahren einer solch öffentlich inszenierten Anteilnahme und offenbar unerschütterlichen, sogenannten "Erinnerungskultur" für würdig befunden wird? Es lohnt sich, diese Rede und die Reden seiner Vorgänger an diesem so bedeutungsschwangeren Tag einer Untersuchung zu unterziehen.

Die lange kurze Geschichte eines Weckrufs

In seiner am 8. Mai 2020 vorgetragenen Rede ruft der Bundespräsident alle zur Erinnerung an ein als geschichtsträchtig gehandeltes Kalenderdatum auf: "Heute vor 75 Jahren ist in Europa der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen." Er ist nicht der Erste, der die als Volk zusammengefassten Bewohner des Landes zur Erinnerung an den 8. Mai 1945 aufruft. Vor ihm die ganze Ahnenreihe von Bundespräsidenten, Bundeskanzlern und der Bundeskanzlerin bis hin zum Bundespräsidenten der heute virusverseuchten Nation.

Den richtungsweisenden Grundstein zu diesem Erinnerungsweckruf hat Theodor Heuss als Mitglied des Parlamentarischen Rates am 8. Mai 1949 bei der Verkündung des Grundgesetzes gelegt mit den Worten:

Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.

Theodor Heuss

In souveräner Selbstermächtigung nimmt der erste Bundespräsident des Nachkriegsdeutschlands (West), Theodor Heuss, in Anspruch, "für jeden von uns" zu sprechen, gleichgültig demgegenüber, ob "jeder von uns" seine Einwilligung dazu gegeben hat, der spätere Bundespräsident möge für "jeden von uns" am 8. Mai 1949 sprechen.

In dieser anspruchsvollen Selbstermächtigung ist jeder Einzelne als Mitglied eines Kollektivs gedacht, eines "Wir"-Kollektivs, wo immer der Einzelne sich innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie befindet. Es soll jeder Einzelne und das Kollektiv als Ganzes sich an das Datum des 8. Mai 1945 erinnern. Sich erinnern in einer bestimmten Weise des Sich-Erinnerns - in der von Theodor Heuss konstruierten Weise des Sich-Erinnerns: Paradoxie-Tragik-Erlösung-Vernichtung, und das alles "in einem".

So sollen der Einzelne und das Kollektiv den 8. Mai 1945, sowie die Geschichte, die "Vergangenheit" die ihm vorherging, erinnern und im individuellen wie im kollektiven Gedächtnis gegen das Vergessen dieser Sichtweise aufbewahren und weitergeben.

Diese mit der Antike, mit entsprechender Literatur, jüdisch-christlicher Erlösungsreligion und Vaterunser konstruierte Sichtweise des 8. Mai 1945 will mit der schlichten Rekonstruktion und Darlegung der historischen Wirklichkeit und Vergangenheit, wie sie war, nichts zu tun haben.

Geltend macht sie vielmehr, sie sei die wahre Erinnerung und Betrachtungsweise. Eine Konstruktion und Rekonstruktion, die beansprucht, die einzig authentische, legitime und für alle verbindliche historische Erinnerung eines vergangenen Zeitabschnittes in der jüngeren Geschichte zu sein.

Das Pathos und die verklärende Unbestimmtheit, mit denen sich diese Erinnerung umgibt, erweist, dass sie denn auch nicht den Einzelnen am 8. Mai 1945 im Auge hat, genauso wenig irgendeinen der 50 Millionen Toten, die die sogenannte "Vergangenheit" zwischen 1933 und 1945 auf den Schlachtfeldern, in den Trümmerwüsten und in den Konzentrationslagern aufgehäuft hat.