Der Amri-Skandal erreicht Ex-Innenminister De Maizière

Seite 2: Anweisung von "ganz oben"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Am 23. Februar 2016 kam es dann zu jener denkwürdigen Besprechung, über die der EK Ventum-Chef den Ausschuss informierte und die den Sicherheitsapparat nachhaltig erschüttern könnte. Eingeladen hatte die Bundesanwaltschaft, die selber mit vier Leuten vertreten war, hinzu kamen zwei Vertreter des Bundeskriminalamtes aus der Abteilung Staatsschutz, zwei Vertreter des LKA Niedersachsen, zwei Vertreter des LKA NRW, darunter EK Ventum-Leiter M., sowie zwei VP-Führer der VP 01 "Murat" - zwölf Personen. Bei der Besprechung sei es um die Einschätzungen Amris durch die Quelle VP 01 und ihre Glaubwürdigkeit gegangen.

Die Sitzung, so M., sei konfrontativ und sehr hitzig gewesen. Von Seiten des BKA sei die Ansicht vertreten worden, die VP 01 mache zu viel Arbeit, das Problem VP 01 müsse "aus dem Spiel genommen" werden. Das sei im Übrigen mit allen abgestimmt. Aber auch das LKA NRW sei als "Problem" bezeichnet worden.

Es soll aber noch ernster gekommen sein. Nach Ende der offiziellen Besprechung habe ihn der wortführende BKA-Vertreter Philipp K. beiseite genommen und unter vier Augen erklärt, warum er so aufgetreten sei. Die Abqualifizierung der Quelle VP 01 sei auf Anweisung von "ganz oben" erfolgt. Und auf Ms. Nachfrage, was mit "ganz oben" gemeint sei, habe der BKA-Kollege geantwortet: "Von Kurenbach und dem Innenminister". Der hieß damals Thomas De Maizière, weshalb er sich auch diesen Namen notierte.

Sven Kurenbach ist im BKA ein ranghoher Kriminaldirektor im Bereich Staatsschutz. Er ist heute mit dem Breitscheidplatz-Verfahren betraut und seit 1. November 2019 Leiter der neuen BKA-Abteilung "Islamistisch motivierter Terrorismus und Extremismus". Er war auch schon dabei, als sich die politische Führung aus dem Bundesinnenministerium mit Anschlagsopfern traf und sprach sogar zu ihnen.

Im Untersuchungsausschuss berichtete der EK Ventum-Leiter M. weiter: Da er und Philipp K. sich seit langem kennen würden, habe er den Eindruck gehabt, der Kollege müsse sich ihm erklären. Er kam ihm wie das Sprachrohr von jemand anderem vor und zweifle überhaupt nicht an seinen Worten. Philipp K. habe sogar noch gesagt, die VP 01 sei "die beste Quelle im Lande", das Bundesamt für Verfassungsschutz würde sich die Finger nach so einem V-Mann lecken.

Nach dem Vier-Augen-Gespräch mit dem BKA-Kollegen habe er seinen mit anwesenden Dezernatsleiter W. sowie Oberstaatsanwalt K. von der Bundesanwaltschaft (BAW) informiert und ein oder zwei Tage später telefonisch den Bundesanwalt Horst Salzmann. Salzmann ist heute in der BAW der Verantwortliche für das Breitscheidplatz-Verfahren. Alle seien genauso konsterniert und geschockt gewesen wie er selber.

"Das war die bemerkenswerteste Aussage, die wir bisher gehört haben"

Auch die Ausschussmitglieder äußerten sich nach dem Vortrag des Zeugen KHK M., während dem es im Ausschussrund und auf der Zuhörertribüne spürbar ruhig geworden war, ähnlich. Es habe wenige Momente im Untersuchungsausschuss gegeben, wo man sprachlos geworden sei, so der FDP-Abgeordnete Benjamin Strasser: "Sie haben heute für einen gesorgt." Er sei noch ganz verblüfft und "vor den Kopf geschlagen", befand der SPD-Kollege Fritz Felgentreu und die Grünen-Abgeordnete Irene Mihalic sagte: "Das war die bemerkenswerteste Aussage, die wir bisher gehört haben."

Welche Erklärung könnte es für das Verhalten von BKA und Bundesinnenministerium geben? Was hatten sie gegen die VP 01? - wollten die Abgeordneten wissen. M. hat keine Erklärung dafür, so etwas sei noch nie vorgekommen, zumal "Murat" ihre "beste Quelle" gewesen sei, die am tiefsten eingestiegen sei. Es habe auch keinen Anhaltspunkt gegeben, dass sie etwas erfunden habe. Er erinnerte aber auch an Darstellungen, die nach dem Anschlag in der Presse über die VP 01 kursierten, sie soll als Agent Provocateur gehandelt und selber Amri und andere zu Anschlägen aufgehetzt habe. Für ihn, M., gebe es nichts, was ihn an der Glaubwürdigkeit der Quelle zweifeln lasse.

Ausschussmitglied Mihalic sah nur zwei Möglichkeiten für die Angriffe auf die VP 01: Entweder das BKA wusste etwas über die Quelle, was das LKA nicht wusste und was ihre Glaubwürdigkeit erschütterte. Das schloss M. aus. Oder, zweite Möglichkeit: Man wollte nicht an Amri herantreten.

Zu dieser Hypothese würde passen, dass der ganze Fall Amri außergewöhnlich und bemerkenswert war. Der Gefährder flitzte "wie eine Billardkugel durch alle islamistischen Kreise in Deutschland" (Ausschussmitglied Konstantin von Notz, Grüne), und der Zeuge M. bestätigte: "So etwas wie Amri hatten wir noch nicht."

Zu dem Verdacht, Amri sollte verschont und geschützt werden, passt auch der bis heute umstrittene Vorgang, dass das nordrhein-westfälische LKA das Abu-Walaa-Verfahren der EK Ventum an das BKA abgeben wollte, die oberste Polizeibehörde aber abgelehnt habe - so die Düsseldorfer Version. In der Version des BKA wird das bestritten - zuletzt im Mai 2019 durch den Kriminaldirektor Martin Kurzhals im Untersuchungsausschuss. EK Ventum-Leiter M. zitierte jetzt einen Vermerk aus einer GTAZ-Besprechung, nachdem Kurzhals gesagt haben soll, er sehe "noch nicht die Möglichkeit dafür", den Fall zu übernehmen. Ausschussmitglied Strasser sagte daraufhin: "Dann hat Herr Kurzhals hier eine Falschaussage gemacht."

Verschiedene Medien haben am Freitag nach der Ausschusssitzung berichtet, das Bundesinnenministerium habe der Darstellung des EK Ventum-Chefs im Ausschuss widersprochen. Sie erwähnen auch die Kontroverse um das tatsächliche oder angebliche Übernahmeinteresse des Abu-Walaa-Amri-Falles vom LKA NRW zum BKA. Den jetzt vom Zeugen M. zitierten Vermerk erwähnen sie aber nicht.

Zu der umstrittenen Besprechung vom 23. Februar 2016 gibt es eine Art Pendant, das zu der schemenhaft durchscheinenden Alternativchronologie des Amri-Komplexes passen würde: Nur einen Tag danach, am 24. Februar 2016, fand beim Innensenator von Berlin die wöchentliche Besprechung zur Sicherheitslage in der Hauptstadt statt. Daran nahmen neben dem Senator (Frank Henkel) unter anderem sein Staatssekretär (Bernd Krömer), der Leiter des Verfassungsschutzes (Bernd Palenda), der Polizeipräsident (Klaus Kandt) und der Leiter des LKA (Christian Steiof) teil. Im Amri-Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses erklärte Steiof vor einem Jahr, er habe in dieser Runde den Fall Amri vorgetragen. Dem LKA-Chef wurde in der Folge eher halbherzig als überzeugend widersprochen. Steiof blieb bei seiner Darstellung.