Der Auslöser der Jugendaufstände von 2008 ist frei

Gedenkstätte für Alexis Grigoropoulos und Berkin Elvan in Exarchia. Bild: iaberis/CC BY-SA 4.0

Aufstände der "Generation der 700 Euro", milde Urteile gegen Polizisten - ermöglicht durch die Strafrechtsreform der Regierung Tsipras

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Mit einem Urteil des Berufungsgerichts von Lamia endet ein wichtiges Kapitel der jüngsten griechischen Geschichte. Am 6. Dezember 2008 gegen 21 Uhr erschoss der heute 47-jährige Epaminondas Korkoneas, seinerzeit Streifenpolizist im Einsatz, in der Tzavella Straße im Stadtteil Exarchia den damals 15-jährigen Alexis Grigoropoulos.

Die zwei Schüsse von Korkoneas fielen, nachdem der ihn begleitende Streifenpolizist Vasilios Saraliotis eine Blendgranate auf ein knappes halbes Dutzend Jugendliche geworfen hatte und diese mit Steinwürfen antworteten.

Das Urteil

Am Montag verkündete das Berufungsgericht in Lamia, dass Saraliotis, der seit 2012 unter Auflagen auf freiem Fuß war, "mangels an Beweisen" freigesprochen wird. Das Gericht sah die gesetzlich vorgeschriebene, doppelte Heimtücke, die als Grundlage für die erstinstanzliche Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord diente, als nicht zweifelsfrei erwiesen an. Damit wurde die vorher verhängte Haftstrafe von zehn Jahren Zuchthaus aufgehoben.

Im Fall des Todesschützen Korkoneas bestätigte das Gericht die Verurteilung wegen Mordes, die am 11. Oktober 2011 vom Schwurgericht in Amfissa ausgesprochen wurde. Konkret lautet das Urteil in seiner juristischen Schreibweise auf "vorsätzliche, heimtückische Tötung". Statt der lebenslänglichen Freiheitsstrafe plus 15 Monate Haft, die das Schwurgericht verhängte, beschränkte sich das Gericht von Lamia auf eine Strafe von dreizehn Jahre Zuchthaus.

Unter Anrechnung der während der Haft geleisteten Arbeit von Korkoneas gelten diese als bereits verbüßt, so dass Korkoneas Freilassung innerhalb der nächsten Tage nur eine Formsache ist.

Chronik des 6. Dezember

Saraliotis hatte, das ist heute bekannt, am Tatabend den Jugendlichen zugerufen: "Kommt, wenn ihr es wagt, und wir ficken Euch wie die heilige Jungfrau Maria." Gleichzeitig griff er sich demonstrativ in den Schritt. Die Polizisten waren mit den Jugendlichen aneinandergeraten, als beide Gruppen durch das von Autonomen dominierte Viertel Exarchia zogen.

Dort werden Polizisten auch heute noch beschimpft, wie damals der Fall war. Es ist zudem bekannt, dass beide Polizisten keine vollständige Polizeiausbildung haben. Sie waren frühere Spezialkräfte des Militärs und wurden als Hilfspolizisten für Bewachungsaufgaben eingestellt. Korkoneas klagte seinerzeit vor der Tat über eine psychische Belastung.

Die Nachricht über den erschossenen Jugendlichen verbreitete sich am Tatabend in Windeseile, während die offiziellen Medien von einem Unfall berichteten und Saraliotis und Korkoneas zunächst ihren Dienst weiter erfüllten, als wäre nichts geschehen. Grigoropoulos, dessen Herz und Wirbelsäule durch den gezielten Schuss verletzt worden waren, verstarb noch am Tatort.

Die Jugendlichen hatten sich ursprünglich in Exarchia getroffen, um den Namenstag von Nikolaos Romanos, einem Mitschüler von Grigoropoulos zu feiern. Die Jugendlichen gaben zu, mit Steinen und später mit Bierflaschen auf die Polizisten geworfen zu haben. Die beiden Polizisten hingegen sagten zunächst aus, sie wären von einer Gruppe von dreißig Autonomen angegriffen worden.

Die Aussage der Polizisten wurde von den Medien als offizielle Version aufgegriffen, bis ein Amateurvideo auftauchte. Dieses war vorübergehend in einer vom Sender Mega TV verfälschten Version im Umlauf. Die Senderverantwortlichen hatten zur Dramatisierung des Bildmaterials vor den Schüssen, Tonaufnahmen von Demonstrationen und klirrenden Fensterscheiben beigefügt. Erst am 10. Dezember 2008 mussten sich die Polizisten vor dem Staatsanwalt verantworten.

Für die Polizei zuständiger Innenminister war Prokopis Pavlopoulos, der heutige Staatspräsident Griechenlands. Sein Rücktrittsersuchen wurde vom damaligen Premier Kostas Karamanlis abgelehnt. Die Erschießung Grigoropoulos hatte ab dem 7. Dezember 2008 zu Demonstrationen von Jugendlichen im gesamten Land geführt. Die nach ihrem damaligen Durchschnittslohn "Generation der 700 Euro" benannten jungen Menschen rebellierten gegen Polizeigewalt, wirtschaftliche Verarmung und Perspektivlosigkeit.

Syriza auf der Seite der "Generation der 700 Euro"

Die Unruhen im Land führten zu Reisewarnungen seitens des Vereinigten Königreichs und Australiens. Mit Anlass des Mordes hatten die Jugendlichen und jungen Erwachsenen im gesamten Land ihren Unmut gegen die herrschenden Zustände zum Anlass für Aufstände genutzt. An die Seite der Aufständischen stellte sich das damalige Parteienbündnis linker Parteien, Syriza, unter dem Vorsitzenden Alekos Alavanos.

Der damals 34-jährige Alexis Tsipras, von Alavanos protegiert, hatte bei den Kommunalwahlen mit 10,51 Prozent in Athen 2006 einen Achtungserfolg gelandet. Mit seinem Engagement während des Jugendaufstandes wurde er zum politischen Sprachrohr eines großen Teils der Jugend.

Die Jugendaufstände von 2008 symbolisieren in gewisser Weise den Beginn der Krise in Griechenland. Sie begann zunächst als Wertekrise und später als massive Finanzkrise. Gleichzeitig stehen sie für den politischen Aufstieg von Tsipras und Syriza.

Die Statistiken weisen für die Zeit vom 6. Dezember 2008 - 14. Januar 2009 landesweit 250 Festnahmen von Demonstranten aus. Von den Festnahmen wurden 67 in Verhaftungen gewandelt. Allein in Larissa wurden 19 Personen, darunter minderjährige Jugendliche, unter Anwendung des Anti-Terror-Paragraphen angeklagt.

In Athen wurden 435 Geschäfte beschädigt, darunter 37 Totalzerstörungen. In Griechenlands zweitgrößter Stadt Thessaloniki waren 88 Geschäfte beschädigt und zehn vollkommen zerstört worden.

Die Hintergründe des Urteils

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Freispruch von Saraliotis und die Absenkung der Freiheitsstrafe von Korkoneas mit der Ende Juni von Tsipras eilig durchs Parlament gepeitschten Justizreform möglich wurden.

Die umstrittene Reform ermöglicht es Korkoneas, sein straffreies Vorleben als mildernde Umstände geltend zu machen. Die Tatsache, dass Korkoneas 2016, bei Beginn des Berufungsprozesses, seines damaligen Strafverteidigers, des Staranwalts Alexis Kougias, verlustig wurde, weil er öffentlich jegliche Reue in Abrede stellte und sein Opfer erneut verhöhnte, spielt für das Strafmaß keine Rolle.

Eigentlich stand das Urteil am 19. Juni 2019 an. Zu jener Zeit waren die Regeln des neuen Strafrechtskodex bereits bekannt. Nach dem alten Kodex gab es für Korkoneas keine Möglichkeit, der lebenslänglichen Freiheitsstrafe zu entgehen.

Der neue Kodex setzt die Mindeststrafe für Mord aber von Lebenslänglich auf zehn Jahre herab. Am 19. Juni meldete sich der Anwalt von Korkoneas krank und beantragte eine Vertagung. Diese wurde zeitlich großzügig auf den 29. Juli terminiert. Auch bei Saraliotis sorgen die Regeln des neuen Kodex für eine höhere Hürde zur Verurteilung.

Die Anwälte der Nebenklage, die frühere Parlamentspräsidentin Zoe Konstantopoulou und ihr Vater, der frühere Vorsitzende der Syriza-Vorgängerpartei Synaspismos, wollen gegen das Urteil beim obersten Gericht, dem Areopag, klagen und eine Aufhebung beantragen.

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