Der Ballast der Republik
Warum ausgerechnet Geldmangel die Rettung sein könnte für Berlins Architektur
Ägypten war am schlimmsten. Weil heiß begehrt und scharf bewacht. Wer rein wollte, musste durch die Sicherheitsschleusen, sämtliche Metallgegenstände aus Hosen- und Jackentaschen hervorkramen, seinen Rucksack öffnen und nebenbei den Ausweis vorzeigen. Das dauert, und deshalb bildete sich umgehend eine Schlange vor der Absperrung, die im Laufe des Tages immer länger wurde und am Nachmittag fast bis nach Indien reichte. Und dort war der Andrang ähnlich gewaltig.
Zum dritten Mal in Folge fand in Berlin vor kurzem das All Nations Festival statt - der Tag der offenen Tür der Botschaften zu Berlin. In diesem Umfang eine weltweit einzigartige Veranstaltung. Teilgenommen haben heuer 36 Botschaften und zwei Kulturinstitute. Einlass begehrten an die 8.500 Schaulustige. Nicht nur die Botschaften, auch die Shuttle-Busse waren hoffnungslos überfüllt, und nur wenige Besucher brachten es während der siebenstündigen Öffnungszeit auf mehr als 10 Visa-Stempel in ihrem Spaß-Pass. Also konzentrierten sich die Massen auf spektakuläre Botschaftsgebäude wie die von Ägypten und Indien im so genannten Diplomatenviertel gleich beim Tiergarten.
Der Sog dieser Prachtbauten war umso größer, als die Vertretungen von China, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Russland und der Vereinigten Staaten von Amerika nicht teilnahmen. Auch Afghanistan, Irak, Iran und Nord-Korea suchte man im Kurzführer vergeblich. Egal. Laut Günter Piening, Beauftragter des Berliner Senats für Integration und Migration, handelte es sich bei der Veranstaltung trotzdem um ein "bemerkenswertes Stück Weltgesellschaft, das sich an diesem Tag eventmäßig selbst erzeugt."
Mal ehrlich. Mehr als ein paar Eingangshallen und Toiletten bekam man in den meisten Häusern eh nicht zu sehen. Natürlich sind manche Eingangshallen ganz großartig. Doch wer etwas von Eleganz versteht, verzichtet auf quengelnde Kinder vor Marmorreliefs - und schaut sich das feine Haus lieber im menschenleeren Zustand an. Zum Beispiel in den handlichen Architekturführern aus dem Stadtwandel-Verlag. Viele tun sich freilich schwer darin, den Geist einer Nation herauszudestillieren aus der Architektur der jeweiligen Landesvertretung. Die meisten Gastgeber haben das durchschaut und legen deshalb stapelweise Broschüren aus. Die kann man in die Tasche stopfen und mit nach Hause nehmen. Dort schaut man sie zwar nie wieder an, aber das ist egal. Was zählt, ist der Akt der Aneignung. Einige Botschaften gingen noch einen Schritt weiter und präsentierten Kunsthandwerk im Hinterzimmer. Das konnte man zwar nicht immer kaufen, aber zumindest befummeln, und das ist ja schon mal was. Die Krönung waren natürlich jene Botschaften, die landestypische Speisen und Getränke anboten. Denn erst, wenn man sich das Fremde einverleiben kann, wird es real. Natürlich durfte man nur außerhalb der Amtsräume essen und trinken. Damit man nicht auf den extraterritorialen Teppich kleckert.
Noch populärer als Tage der offenen Tür sind Baustellen. Egal ob Lehrter Bahnhof oder Palast der Republik, die Besichtigungstermine sind im Nu ausgebucht. Je größer die Baugrube, desto tiefer scheinbar das Bedürfnis, einen Blick zu werfen in den aufgewühlten märkischen Sand. Man erinnere sich nur an die Info-Box am Potsdamer Platz. Von der roten Schachtel auf Stelzen konnte man hinabblicken auf die seinerzeit größte Baustelle Europas. Nicht nur Touristen konnten sich kaum satt sehen am Arbeitseifer von Mensch und Maschine. Denn so lange der Potsdamer Platz eine Baustelle war, durfte man träumen. Zum Beispiel von all den tollen Gebäuden, die man bei der internationalen Schar der Architekten in Auftrag gegeben hatte. Zwar sahen die bleichen Modelle in der Vitrine etwas fade aus, aber das musste ja noch nichts bedeuten. In Wirklichkeit kam alles viel schlimmer, und der Potsdamer Platz sieht heute noch hundertmal fader aus als sein bleiches Modell. Und die entsorgte Info-Box ist für viele das Beste, was der Potsdamer Platz seit dem Fall der Mauer zu bieten hatte.
Wohl deshalb - im stillen Gedenken an die Info-Box am Potsdamer Platz - hat man am geplanten Holocaust-Mahnmal unweit des Brandenburger Tors eine kleine Plattform errichtet. Damit man rumstehen und anderen bei der Arbeit zusehen kann. Auch wenn sich die Aussicht oben auf dem Holzplateau kaum von der unten beim Bauzaun unterscheidet, und obwohl es bislang nicht viel mehr als ein paar Haufen Sand zu sehen gibt, ist die Plattform ein Erfolg. Denn nur wenige Passanten können sich einen Blick von oben herab verkneifen.
Fast könnte man meinen, man müsse ein Gebäude nur ein bisschen kaputtmachen, und schon wird es von den Berlinern ins Herz geschlossen. Bestes Beispiel für diese merkwürdige Form der Zuwendung ist der Palast der Republik. Über Jahrzehnte hinweg beschimpft als "hässlich" und "monströs", wird der Ballast der Republik seit kurzem wieder verteidigt. Gegen jene, die ihn am liebsten sofort abreißen würden. Was ja lange Zeit nicht möglich war wegen der vielen Tonnen Asbest, die in der ehemaligen Volkskammer verbaut worden waren. Jetzt ist der Bau asbestfrei und zur Besichtigung freigegeben. Und die Massen strömen. Kucken in alle Ecken von Erichs Lampenladen und wundern sich darüber, dass ausgerechnet die Rolltreppen stehen bleiben durften. Wollen nicht einsehen, dass der rotbraunschimmernde Klotz einer Reminiszenz an das alte Stadtschloss weichen soll - wo doch der Palast der Republik selbst ein Stück Zeitgeschichte ist.
Weil es außerdem eine Schande wäre, das beeindruckende Ambiente brachliegen zu lassen für die Dauer des Streits über die Zukunft von Bau und Gelände, setzt sich der Verein Zwischenpalastnutzung dafür ein, dass wenigstens in der Übergangszeit was passiert im entkernten Palast der Republik.
Und während man in Mitte dem Ossischick hinterhertrauert, schreitet die Architektur-Vernichtung tief im Westen ungehindert voran. Das ICC zum Beispiel, ein 70er-Jahre Bau par excellence, soll abgerissen werden - wenn es nach Michael Müller, SPD-Fraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus, geht. Anlass für Müllers Verbalattacke auf das Messe- und Kongresszentrum beim Funkturm war ein Gutachten der Unternehmensberater von McKinsey, das der Berliner Sparsenator Thilo Sarrazin (SPD) in Auftrag gegeben hatte. Dem Gutachten zufolge werden in den kommenden Jahren Sanierungskosten in Höhe von "mindestens 140 Millionen Euro" anfallen. Freilich kann man einem Gebäude nicht vorwerfen, dass es gehegt und gepflegt werden muss.
Das Dumme ist nur: das Raumschiff ICC ist seit seiner Fertigstellung im Jahre 1979 ein Zuschussbetrieb. Allein die jährliche Instandhaltung verschlingt 15 Millionen Euro. Und das bei einem jährlichen Umsatz von 12 bis 13 Millionen Euro. Dabei war von Anfang an bekannt, dass der Bau keine Geldfabrik ist. Es ging um die Sache an sich - und ums Image. Und immerhin: Bislang ist der futuristische Bau - laut Messe-Angaben - das am besten ausgelastete Kongresszentrum Europas und steht weltweit auf Rang 10. Entsprechend groß ist der Ärger der Betreiber darüber, dass die Messe schlechtgeredet wird. Angeblich sind die ersten Kunden bereits abgesprungen. Auch das Architekten-Ehepaar Ralf Schüler und Ursulina Schüler-Witte ist entsetzt.
Zum Glück gibt es Leute wie Lurker Grand. Der jagte in den vergangenen Wochen zusammen mit dem Fotografen Tobias Madörin durch Berlin, um bedrohte Fassaden, Interieurs und Ensembles aus den Jahren 1950-1980 abzulichten - erstens hat er diese Epoche in sein ästhetisches Herz geschlossen, zweitens sind ausgerechnet die Zeugnisse des Wiederaufbaus besonders gefährdet. Monate im voraus hatte Grand die Foto-Termine vereinbart, und immer wieder musste er erleben, dass das, was er wenigstens im Bild festhalten wollte, inzwischen kaputtrenoviert oder komplett vernichtet worden war. Natürlich hat er auch dem ICC einen Besuch abgestattet. Zusammen mit vielen anderen mehr oder weniger bedrohten Bauten wird das Berliner Raumschiff demnächst in einem Buch der Reihe City in Space zu bewundern sein.
Ähnliche Ziele verfolgen Oliver Elser und Andreas Muhs. Auf ihrer Website sind aktuell 90 Aufnahmen zu sehen von Berliner Nachkriegsbauten, für die nur wenige ein Auge haben. Auch sie planen ein Buch zur "alltäglichen Nachkriegsarchitektur in Berlin".
Wenn man sich Grands und Madörins Barcelona-Führer anschaut, kann man nur neidisch werden und hoffen, dass die klamme Finanzlage Berlins dazu führt, dass vieles erhalten bleibt, weil schlicht und einfach das Geld zu Abriss und ‚Sanierung' fehlt - und dass die nächste Generation der Amtsinhaber ein etwas unverkrampfteres Verhältnis hat zum diskreten Charme der Nachkriegsjahre.