"Der Bremer Türke ist für mein Leben nicht so wichtig"

In der öffentlichen Meinung wird Steinmeier Recht gegeben und Kurnaz selbst die Schuld an seiner Gefangenschaft zugeschoben

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier ist in diesen Tagen viel unterwegs. Als EU-Ratsvorsitzender hat er am Montag seine Osteuropareise angetreten, deren erste Station Russland ist. Kritische Fragen über seine Rolle im Fall Kurnaz muss er dort nicht fürchten. Aber auch in Deutschland ist die Frage, ob der junge Mann aus Bremen einige Jahre länger in Guantanamo zubringen musste, weil deutsche Politiker mit Steinmeier an der Spitze seine Wiedereinreise hintertrieben haben, schon längst wieder aus den Schlagzeilen in die hinteren Zeitungsseiten gewandert. Es gibt zwar noch Kommentatoren verschiedener Medien, die vollständige Aufklärung anmahnen. Sie wollen wissen, welche Rolle Steinmeier in seiner früheren Funktion als im Fall Kurnaz gespielt hat. Doch wie sie oft in Menschenrechtsfragen ist die veröffentliche Meinung nicht die öffentliche Meinung. Die wird von Boulevardmedien wie der Bildzeitung ausgedrückt und ventiliert. Dort aber man sich längst auf die Seite des Ministers gestellt.

Zwar schlagzeilte das Blatt noch ganz menschelnd neben einen Konterfei von Kurnaz: Haben Sie diesen Menschen leiden lassen, Herr Steinmeier?. Dort trug Steinmeier jene drei Thesen vor, die seit dem Grundlage seiner Verteidigungsstrategie sind. Nur ein Jahr nach den Anschlägen vom 11.September sei oberste Sicherheit sein primäres Ziel gewesen. Ein offizielles Freilassungsangebot der USA habe es nicht gegeben und außerdem hätte für Kurnaz nicht nur die Alternative seiner Rückkehr nach Deutschland oder ein Verbleiben in Guantanamo bestanden. Schließlich hätte er auch in die Türkei ausreisen können.

Die Widersprüchlichkeiten dieser Argumentationskette liegen auf der Hand. Wenn es kein offizielles Angebot gegeben hat, dann vielleicht ein inoffizielles? Und wann wird ein Angebot offiziell genannt? Diese Frage stellte ein Bundestagsabgeordneter der Linkspartei in einer Kleinen Anfrage im Bundestag. Was ist an angeblichen Plänen dran, Kurnaz als Spitzel in islamistische Kreise in Deutschland zu schleusen? Warum wurde dieser Plan so schnell verworfen? Schließlich wären damit für die Bundesregierung zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen worden. Kurnaz wäre frei gekommen und der Sicherheit wäre auch genüge getan.

Genau so unklar ist das dritte Argument aus Steinmeiers Verteidigungslinie. Wer hätte eine Rückkehr in die Türkei veranlassen können? Der Gefangene wohl kaum. Welche Kontakte gab es in dieser Frage zwischen deutschen und türkischen Behörden? Das sind nur einige von den Widersprüchen an Steinmeiers Darstellung. Doch zumindest Bild stellte eher die Frage, ob die Deutschen für den Türken Kurnaz überhaupt zuständig ist.

Der ständige Bild-Kolumnist H.J. Wagner stellt allerdings keine Fragen. In seinem Brief vom 31.1.07 stärkt er Steinmeier den Rücken und verhöhnt das Opfer:

"Das Herzeleid singt sein Hohelied vom unschuldig, in Ketten gehaltenen, gefolterten Bremer Türken in Guantánamo – und zeigt mit den Fingern auf Sie. Sie hätten den Häftling erlösen, befreien können. Sie haben es aber nicht gemacht. Ich hätte es übrigens auch nicht gemacht.
Sie liegen in Ketten, aber da war der 11. September 2001. Die Attentäter vom 11. September waren arabische Hamburger Studenten. Sie waren unauffällig und nett. Sie haben bei Aldi und Kaisers eingekauft. Niemand sah es ihnen an, dass sie Massenmörder werden.
Ich finde es absolut korrekt, wenn Sie sich im Zweifel für die Sicherheit entscheiden. Der Bremer Türke ist für mein Leben nicht so wichtig. Wichtig ist für mich die Sicherheit.

Wagner nimmt für sich in Anspruch, der schweigenden Mehrheit eine Stimme zu geben. Da hat er sicher gar nicht so unrecht. In zahlreichen Leserbriefen und Blogs wurde offen zum Ausdruck gebracht, dass Kurnaz an seinem Schicksal selber schuld ist. Manche bedauern sogar, dass er wieder zurückkommen konnte und sich jetzt noch beschwert. Grundrechte werden schon mal zur Disposition gestellt, wenn es nur der Sicherheit dient. Dass Kurnaz sehr bald von BKA-Beamten als ungefährlich eingestuft wurde, wird gar nicht zur Kenntnis genommen oder als Meinung inkompetenter Beamter eingestuft. Dass die deutsche Justiz alle Ermittlungen gegen ihn bald eingestellt hat, gilt nach dieser Lesart nicht als Beweis seiner Unschuld sondern als Ausdruck der Laschheit der Justiz.

Erinnerung an die Visa-Affäre

Es ist noch zwei Jahre her, da stand Steinmeiers Vorgänger in der Kritik. Fischer wurde vorgeworfen, dass er zuwenig gegen die großzügige Visavergabe an Menschen aus der Ukraine unternommen hatte (Visa-Affäre). Zwar musste er nicht zurücktreten, aber die Meinung des Boulevards war eindeutig. Hier hat jemand zumindest durch Nachlässigkeit und durch Versäumnisse deutschen Interessen geschadet. Der Vergleich mit der aktuellen Debatte ist bezeichnend. Eine großzügige Visavergabe sorgt für mehr mediale und öffentliche Empörung als die Zwangsverschleppung nach Guantanamo und die nachfolgende folterähnliche Behandlung

Solange es eine solche Stimmung in der Boulevardpresse und Teilen der Öffentlichkeit gibt, muss Steinmeier kaum um sein Amt fürchten. Das gilt auch für die Debatten auf der politischen Ebene. Der CDU/CSU kommt die Debatte gar nicht so ungelegen. So kann sie immer wieder darauf hinweisen, dass die von der SPD so hochgehaltene selbstbewusste Außenpolitik der rot-grünen Bundesregierung gegenüber den USA enge Grenzen hatte. So sah denn auch das rot-grüne Milieu durch die Debatte um Kurnaz im Nachhinein die Politik der Vorgängerregierung angegriffen. Vom Ende rot-grüner Lebenslügen ist erneut die Rede. In der SPD reicht dieser Verweis, um kritische Stimmen in den eigenen Reihen möglichst zum Schweigen zu bringen. Man stellt sich hinter Steinmeier und verteidigt damit die eigene Politik zum Irakkrieg.

Dabei setzt man die Symbolpolitik in Nuancen durchaus fort. Als kürzlich die Staatsanwaltschaft Haftbefehl gegen dreizehn CIA-Agenten stellte, die an der Entführung des Ulmer Geschäftsmannes Khaled El Masri beteiligt gewesen sein sollen, titelte die grünennahe Tageszeitung Endlich - jetzt jagen wir die CIA. Hinter solchen kraftmeierischen Sprüchen verbergen sich alte Ressentiments gegen die USA mit reinem Symbolismus. Natürlich ist allen klar, dass die USA die Beschuldigten nicht ausliefern werden und ihnen also wenig passieren kann, solange sie nicht so unvorsichtig sind und in Deutschland einreisen. Doch damit ist Deutschland wieder scheinbar auf der Seite der Guten - und das ist wohl auch der Zweck der Übung. Jetzt kann man wieder auf die USA zeigen, die eben die juristische Aufarbeitung verhindern. Dieses USA-Bashing und das Ressentiment gegen Kurnaz müssen keine Gegensätze sein. Nicht wenige werden es wohl Kurnaz vor allem nicht verzeihen können, dass er auch noch deutsche Politiker in Verruf gebracht hat. Als Kronzeuge gegen die USA aber hätten sie ihn wohl gerne gebraucht. Das erklärt, dass er selbst in Kreisen der Rechtsradikalen, die einen wie Kurnaz am liebsten abschieben wollten, dann herangezogen wird, wenn es darum geht, der USA eins auszuwischen.